Archiv der Kategorie: Filmkritik

Ghetto

(D / LT 2005, Regie: Audrius Juzenas)

Kriegsglück
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Filmverleih wirbt mit einem fünf Jahre alten Schreiben des litauischen Außenministeriums. '13. Oktober 2000. Der Spielfilm ‚Ghetto' ist Teil des nationalen litauischen Holocaust-Gedenkprogramms. Es entsteht in Zusammenarbeit mit neun …

Der Filmverleih wirbt mit einem fünf Jahre alten Schreiben des litauischen Außenministeriums.

'13. Oktober 2000. Der Spielfilm ‚Ghetto' ist Teil des nationalen litauischen Holocaust-Gedenkprogramms. Es entsteht in Zusammenarbeit mit neun Ländern (Holland, Deutschland, Polen, Frankreich, England, Schweden, USA, Israel, Italien) und soll ein internationales Holocaust-Gedenkprogramm fördern. gez. Botschafter für Spezialaufträge.'

Mit offizieller Unterstützung von Valdas Adamkus, Präsident der Republik Litauen, kommt der Film jetzt ins Kino, um seine repräsentative Aufgaben zu erfüllen. Es geht wohl gar nicht anders, die Last der Vorgaben zu tragen, als auf eine Bilderbuchästhetik zurückzukommen, wie sie beim Staatsfilm und anderen feierlichen Anlässen dem Protokoll entspricht. Als Zuschauer hat man es dann schwer, dem Film näherzutreten, was doch aber wünschenswert wäre, wenn man es nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern es erleben will, was im letzten Weltkrieg im Ghetto von Vilna geschah.

Zugrunde liegt das Theaterstück von Joshua Sobol. Der junge Ghettokommandant (Sebastian Hülk, 'Berlin, Berlin') lebt dort auf unbekümmerte Weise die Herrschaft über Leben und Tod aus. 'Betört' (Presseheft) von der schönen Sängerin Haya, befiehlt er den Juden, das Theater wieder zu eröffnen. Bald wird es sein Stammplatz. Doch ach, 1943, 'das Kriegsglück der Deutschen wendet sich' (Presseheft). Stalingrad!

Wenden wir uns den Juden zu. Führer der jüdischen Ghettopolizei ist Heino Ferch ('Der Untergang'). Ständig handelt er die Zahl der Juden hinunter, die er für die Erschießungen selektieren soll. Das macht er mit der Ferch-eigenen stoischen Ruhe, die gleichwohl 'Rührung aufkommen lässt; er findet seinen richtigen Platz immer deutlicher in Filmen zur Vergangenheitsbewältigung' (Presseheft). Er ist also unser Mann. Aber leider kann er sich gegen einen Ghettobewohner nicht durchsetzen, der unter all den litauischen Namen auffällt. Weiskopf also, Geschäftemacher, und 'habgierig, wie er ist, kümmert ihn sein Profit mehr als das Überleben seiner Landsleute – statt möglichst viele von ihnen durch eine Arbeitserlaubnis zu retten, hält er seine Flickschneiderei rentabel, indem er so wenig Mitarbeiter wie möglich beschäftigt' (Presseheft). Pfui. Gut, dass der Jude von Partisanen erschossen wird. Denn die sind auch da. Das Ghettotheater ist ein Meer von roten Fahnen.

Wo bleibt unser Ghettokommandant? Er wird sich absetzen. Eine große Zukunft wartet auf Sebastian Hülk. Auch Ulrich Tukurs Karriere startete 1984 nach der legendären 'Ghetto'-Aufführung im Staatlichen Schauspielhaus Hamburg (Inszenierung: Peter Zadek). Schon damals war die Vergangenheit bewältigt, indem man sich beschwingt im charmanten Ghettokommandanten wiederfand, und ich schwöre, die vielen Zitate aus dem Presseheft treffen den Punkt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2006

James Cameron präsentiert: Die Bismarck

(USA 2002, Regie: James Cameron, Gary Johnstone)

Der größte Schiffbauer aller Zeiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Kameradschaftsfilm und ein Film über Helden der Technologie. 1941 versenkten die Engländer das Schlachtschiff Bismarck. Sechzig Jahre später holt James Cameron Überlebende an Bord seines Tauchschiffs. Die Feinde von …

Ein Kameradschaftsfilm und ein Film über Helden der Technologie. 1941 versenkten die Engländer das Schlachtschiff Bismarck. Sechzig Jahre später holt James Cameron Überlebende an Bord seines Tauchschiffs. Die Feinde von gestern sind die Freunde von heute, und man bewundert sich den Film hindurch gegenseitig, und das heftig. Cameron, so wird uns eingebläut, hat eine grandiose innovative Tauchtechnik entwickelt. 5.000 Meter unter dem Meeresspiegel kann man das Wrack ehrfürchtig bestaunen und ganz doll filmen.

Und Hitler hatte seinerzeit das modernste Schiff der Welt gebaut, eine 'Kathedrale aus Stahl', genauer 'aus Kruppstahl'. Das Wunderwerk schlägt knapp die Titanic. Es ist so lang wie diese, aber neun Meter breiter. Wir hören das von der ergriffenen Stimme im off, und die hat immer recht, denn auf der Tonspur wird unterlegt, was wir im 'Titanic'-Film hörten. Und dann sehen wir in alten Wochenschaufnahmen den, der bei uns als Gröfaz verarscht wurde, der doch aber der größte Schiffsbauer aller Zeiten war: der Führer schuf das Technologiewunder Bismarck. 'Die Bismarck' wird Nazifilm. Heil! Heil! Heil! Jubeljubeljubel. Wir sind im Superstadion, ob es Nürnberg ist oder nicht, egal, wir erfahren es nicht, aber dort thront er, der Größte, und nimmt Paraden ab. Ein Meer von Hakenkreuzfahnen, und zum Marsch der Kolonnen hören wir Rockmusik und die ekstatischen Schreie von Zehntausenden. 'Hitler war der ultimative Rockstar seiner Zeit', raunt es wieder bewundernd im off. Wie war das noch? Die Feinde von gestern sind die Freunde von heute.

Die Marinejungs von damals werden nachgespielt von Teenies aus dem Filmgenre von heute. Geile Muscle Shirts haben sie an, Idole unsere Zeit. Auch sonst beruft sich die 'Die Bismarck' auf gängige Genres, wie wir sie lieben. Die Schiffe 'preschen aufeinander zu wie Ritter beim Turnier'. Fantasy! Das 'Schlachtfest': 'ein Stahlgewitter'! Ernst Jünger hätte es hören sollen, aber Cameron macht nicht Literatur, sondern einen Kriegsfilm und das noch als Teeniesoap. Wir sind in einem Spiel.

Spielerisch geht es im Neunsekundentakt von der historischen Wochenschau zur Simulation militärtechnischer Höchstleistung, wie sie jeder aus Animationen in den aktuellen Nachrichten kennt. Von dort zu den Dokustatements alter Herren, zerhackt in Halb- und Dreiviertelsätzen. Und zur Selbstbeweihräucherung des heldischen Tauchteams.

Ich hatt einen Kameraden. Der Zapfenstreich. Jemand von der Bundeswehr salutiert. Jemand von der 'Kameradschaft Seeschiff Bismarck' setzt den Helden des Schlachtschiffs 'die Schaumkrone der ewig wogende See' auf. 'Grüß das Vaterland und das Deutsche Volk', hatte es von dort heraufgemunkelt. Ja, die 'Ereignisse' endeten 'tragisch', lässt sich die nachwievor ergriffene Stimme aus dem off vernehmen. Und Cameron hat sich mit seinem Film verdient gemacht. Er beantwortet die Frage, 'die seit sechzig Jahren die Gemüter erhitzt': wer genau hatte 1941 den ultimativen Schuss auf die Bismarck abgefeuert? Whodunnit? Der Täter steht fest. Der Britenflieger wars. Opfer ist die Bismarck.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2003

Evet, ich will

(D 2008, Regie: Sinan Akkus)

Multikultimärchen
von Dietrich Kuhlbrodt

Amüsante deutsch-türkische Kulturdifferenzen gilt es auszugleichen, bevor auf dem Berliner Standesamt das Ja-Wort fallen kann: Ich will! Wobei es genauer gesagt, um das Ja-Wort des Türkenvaters geht. Die Mitgift muss …

Amüsante deutsch-türkische Kulturdifferenzen gilt es auszugleichen, bevor auf dem Berliner Standesamt das Ja-Wort fallen kann: Ich will! Wobei es genauer gesagt, um das Ja-Wort des Türkenvaters geht. Die Mitgift muss ausgehandelt werden. 50.000 Euro? Gegenangebot: 10.000. Oder aber: Dirk (Oliver Korittke) muss nachweisen, dass die Vorhaut abgeschnitten ist. Wie? Ein Foto muss her. Oder aber, wenn gar nichts mehr geht, muss der junge Kurde dem türkischen Hardliner-Vater die Tochter nach altem Brauch wegrauben. Kulturell ist die Entführung tradiert, Günay ist nun aber nicht mehr Türkentochter. Weiter. Wie ringt der schwule Kfz-Mechaniker dem türkischen Vater das Ja-Wort zur Partnerschaft mit seinem deutschen Freund ab? Und wie lange soll ein Türke warten, bis er keine Aufenthaltsgenehmigung mehr braucht? EU-Beitritt in zwanzig Jahren? Dreißig Jahren (Wahrsagerin)?

Fragen über Fragen. Die Väter werden respektiert, aber respektlos vorgeführt. Die Dialoge haben Witz. Multikulticlashs sind zum Schmunzeln da. „Evet, ich will!“ ist ein TV-Film, koproduziert von RBB und Arte. Wir können sicher sein, dass wir im Vordergrund bleiben. Wir kommen zum guten Ende zur Einsicht. Es lebe die Harmonie! Es lebe die allseitige Toleranz! Tränen des Glücks rinnen, wenn der harte Vater dann doch öffentlich einsichtig wird – per live-Schaltung zum Hörfunk. Und Tränen der Trauer, wenn fern in der Türkei der Opa dahinscheidet. Alle reichen sich jetzt die Hand – die Paare, die Generationen. Das Multikultimärchen erfreut alle. Es ist frech, ohne wehzutun. Es macht gute Laune. Es ist einzigartiges Leichtgewicht im Vergleich mit den niederschmetternden deutschen Problemfilmen, die alles nur noch schlimmer machen. Regisseur Sinan Akkus, ausgebildet auf Film- und Kunsthochschulen auf Kuba und in Kassel, bekam für „Evet, ich will!“, seinen ersten Spielfilm, Publikumspreise in Lünen und auf dem San Francisco Filmfestival Berlin and Beyond. Der Verleih zählt den Film zum Genre des Feelgoodmovie und der Liebeskomödie. Die FSK gab den Film ohne Altersbeschränkung frei, und die Filmbewertungsstelle Wiesbaden schätzt ihn als besonders wertvoll ein. Wie komm ich bei dieser Sachlage dazu, daran rumzukritteln, dass in Berlin an der Uni die Hörsäle so schwach besucht sind, dass es sich darin ungestört vögeln lässt? Wir sind doch nicht im Kino! Wohl aber im TV-Film.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2009

Wo die wilden Kerle wohnen

(USA 2009, Regie: Spike Jonze)

Der hilflose König
von Sven Jachmann

Es brauchte über 25 Jahre, bis die Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker von der ersten Planung bis zur letzten Szene endlich im Kasten war. Zuletzt wurde das Zepter an Spike …

Es brauchte über 25 Jahre, bis die Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker von der ersten Planung bis zur letzten Szene endlich im Kasten war. Zuletzt wurde das Zepter an Spike Jonze weitergereicht. Der machte die Produzenten mit seiner dritten Regiearbeit seit „Adaption“ (2002) nicht wirklich glücklich. Man kann sich denken, woran das liegt. Sicher wäre ihnen eine eskapistische Fantasy-Adaption mit ein wenig CGI-Gedöns und einer finalen Prise versöhnlicher Familienromantik lieber gewesen.

Der Film dichtet der Vorlage noch einige Nuancen hinzu und unterfüttert ihren Optimismus mit einer existenziellen Melancholie, die auch vom Schluss nicht getilgt wird. Wie bei der Vorlage so flieht auch hier der kleine Max vor seiner (in diesem Fall geschiedenen) Mutter kraft seiner Fantasie ins seltsame Land, wo besagte wilden Kerle wohnen (die schon immer etwas irreführende Übersetzung der wild things grenzt nunmehr ans Absurde, befinden sich doch unter ihnen offenkundig auch Kerlinnen). Max hat mit den herzallerliebsten Wonneproppen des konventionellen Kinderfilms (und partiell auch mit dem des Buchs) wenig gemeinsam. Seine Wutausbrüche grenzen ans Psychotische, seine Rachephantasien sind bösartig und brutal. In den wilden Kerlen findet er seine Pendants. Die machen ihn zwar zu ihrem König, aber offensichtlich nur, um ihrem schwermütigen Alltag und der drögen Geselligkeit etwas Abwechslung zu verabreichen. Im Buch schafft er dies noch qua Autorität. Hier sind es recht hilflose Überredungsversuche. Und weil in diesen Unsicherheiten und Ängsten sich ständig Max‘ Projektionen ausdrücken, geraten auch die Spiele mit der wilden Horde immer wieder etwas zu destruktiv und ziellos. So wie auch nach seiner Rückkehr bereits zu ahnen ist, dass sich Zuhause nicht viel ändern wird. Echte Gemeinschaften entwickeln sich nicht, hier nicht, dort nicht. Jonze opfert die idealisierte Kindheit also lieber ihren Widersprüchen – und präsentiert statt Fantasy die Realität der Scheu vor dem Leben.

Ich sehe den Mann deiner Träume

(USA / ESP 2010, Regie: Woody Allen)

Viel Lärm um nichts
von Wolfgang Nierlin

Das Leben sei voller Lärm und Raserei, letztlich aber bedeutungslos, zitiert Woody Allen zu Beginn seines neuen Films Shakespeare. Sein deutscher Verleih-Titel lautet „Ich sehe den Mann deiner Träume“. Doch …

Das Leben sei voller Lärm und Raserei, letztlich aber bedeutungslos, zitiert Woody Allen zu Beginn seines neuen Films Shakespeare. Sein deutscher Verleih-Titel lautet „Ich sehe den Mann deiner Träume“. Doch der Originaltitel „You will meet a tall dark stranger“ macht aus dessen liebesromantischen Implikationen eine Komödie der Vergeblichkeit. Denn mit dem „großen schwarzen Fremden“ ist der Tod gemeint, der am Ende alle menschlichen Bemühungen als Eitelkeit ausweist. Weil der fleißige New Yorker Filmemacher das mittlerweile und ganz offensichtlich mit einer milden Altersweisheit zu betrachten scheint, hat er seinen heiteren, in London spielenden Liebesreigen in warme Ockerfarben getaucht.

Den Modellcharakter seines distanzierten Figurentheaters gewährleistet erneut ein Off-Erzähler, der die Episoden der nach allen Seiten ausfransenden Liebesgeschichten miteinander verbindet. Dabei handelt es sich um die beispielhaften Gefühlsirrungen zweier Paare, eines älteren und eines jüngeren, die gerade ihre Ehekrisen durchleben. Während Alfie (Anthony Hopkins) den Verlusterfahrungen seines Lebens und dem körperlichen Verfall mit sportlicher Ertüchtigung, einer jungen, aufreizenden Geliebten und Viagra entgegenzuwirken trachtet, sucht seine Frau Helena (Gemma Jones) ihr Heil in den Prophezeiungen einer Wahrsagerin namens Cristal. Womit sie vor allem ihren Schwiegersohn Roy (Josh Prolin) nervt, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt und am Fenster zum Hof seine hübsche Nachbarin Dia (Freida Pinto) ins Visier nimmt. Seine Frau Sally (Naomi Watts) wiederum, die unter Roys Erfolgslosigkeit leidet und sich Kinder wünscht, verliebt sich derweil in ihren Chef Greg (Antonio Banderas), einen attraktiven Galeristen.

Wie in einem Pingpongspiel, leicht und fast absichtslos, inszeniert Woody Allen einen Reigen der Leidenschaften, hält dabei das emotionale Drama aber auf Distanz. Überhaupt führt Allens Film zu keinem Ziel und favorisiert einen Schwebezustand, in dem das nur scheinbar Überwundene wiederkehrt und das vergebliche Spiel neu beginnt. Vilmos Zsigmonds dynamische Bildgestaltung unterstützt dabei in langen Einstellungen das stetige Hin und Her dieser sinnlosen Raserei. Besänftigung und Trost findet diese allein in den Trugbildern der Illusionen, die hier nicht selten durch Alkohol befördert werden und neben dem Übersinnlichen auch dem Kino seine Referenz erweisen.

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Ewige Schönheit. Film und Todessehnsucht im Dritten Reich

(D 2003, Regie: Marcel Schwierin)

Gesamtkunstwerke
von Dietrich Kuhlbrodt

'Vom Nationalsozialismus geht bis heute eine merkwürdige Faszination aus. Was blieb, waren die Bilder – sehr sorgfältig inszenierte Bilder. In ihren Filmen schufen sie Visionen einer anderen, besseren Welt. Eine …

'Vom Nationalsozialismus geht bis heute eine merkwürdige Faszination aus. Was blieb, waren die Bilder – sehr sorgfältig inszenierte Bilder. In ihren Filmen schufen sie Visionen einer anderen, besseren Welt. Eine Welt der Ordnung, der Größe und des Ruhmes, eine Welt der ewigen Schönheit'. Mit dieser These eröffnet Doktorand Marcel Schwierin seinen Film, und selbstverständlich belegt er in einer sorgfältig montierten Bildfolge sein Faszinosum nationalsozialistischer Filmästhetik, seminarmäßig in Ordnung gebracht, beraten von den Profs, gefördert vom NDR. Selten Gezeigtes ist zu sehen. Wie die Juden Kühe schächten, ist immer noch unschön, sagt uns die Off-Stimme, und irgendwie hängt das mit dem 'Relativitätsjuden' Einstein und dem 'Ewigen Juden' überhaupt zusammen, und ebenso heißt das perfideste Hetzwerk der Nazis.

Der Autor will aber woanders hinaus, und wir wollen ihn zu Wort kommen lassen. 'Mein Vater ist Politologe, und von daher hatte ich eigentlich das Gefühl, dass sich alle Fragen zum Nationalsozialismus für mich beantwortet hätten. Aber ich hatte mir nie die Frage gestellt, welche positive Motivation Hitler hatte. Wo wollte dieser Mann eigentlich hin, wovon träumte er? Ich wollte wissen, wenn ich den Holocaust ausblende, wenn ich die Verbrechen ausblende, wieweit könnte ich dieser Faszination erliegen? Das war wie ein Selbstexperiment. Mir ging es auch darum, dass man die Bildsprache der Nationalsozialisten nachvollziehen kann. Wesentlichstes Merkmal ist sicherlich die Inszenierung des Realen. Dem Nationalsozialismus schwebte eine ideale Gesellschaft als Gesamtkunstwerk vor, in der alles auf das Schöne ausgerichtet war.'

Treffender kann man das nicht ausdrücken, wenn man das Ergebnis dieses Gesamtkunstwerkes von Film und Dissertationsprojekt betrachtet. Da hat einer die Nase voll von Vätern und Vergangenheitsbewältigern. Unsere jüngste Generation nimmt die Dinge selbst in die Hand und erkennt, so die Off-Stimme, dass es den Nationalsozialisten im Grunde nicht um die Juden ging, sondern um ein Antibild, die Welt in gut und böse aufzuteilen.

Zu solcher Einsicht kommt, für den die Welt mit Hitlers Filmen beginnt, die sich zum Ende 'eine Märchenwelt schaffen'. Statt den Antisemitismus der Nazis zu relativieren, wäre die Lektüre von Klaus Theweleits 'Männerphantasien' anzuraten gewesen. Das war auch eine Dissertation gewesen, aber sorry, eine von vor bald dreißig Jahren. Vätergeneration! Bewältiger! Nein, dann im Film lieber Unbewältigtes zitieren: Gottfried von zur Beek (Ludwig Müller), Die Geheimnisse der Weisen von Zion (1919).

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2005

eXistenZ

(USA / CAN /GB 1999, Regie: David Cronenberg)

Praktikantenarschlöcher
von Dietrich Kuhlbrodt

Es gibt nichts zu überlegen. Es ist wieder Breton-Zeit. Eine Pistole in die Hand nehmen und wahllos in die Menge schießen. 'Ich muss jetzt einfach jemand töten', erklärt Praktikant Ted …

Es gibt nichts zu überlegen. Es ist wieder Breton-Zeit. Eine Pistole in die Hand nehmen und wahllos in die Menge schießen. 'Ich muss jetzt einfach jemand töten', erklärt Praktikant Ted Pikul (Law) entschlossen und entspannt, also cool. 'Aber nicht den Kellner, der ist so nett', sagt Allegra Geller (Jason Leigh), Game-Designerin, also Chefin. Beide testen das produktionsreife Computerspiel. Der Praktikant setzt aus den Speiseresten, Knöchelchen von reptilesken Mutationen, die Waffe zusammen. Das ist ein Gepuzzel wie beim Überraschungsei. Und sehr praktisch, weil von Metalldetektoren nicht erkennbar. Das Einschussloch im Kellnerkopf ist dann so groß wie eins der beiden Praktikantenarschlöcher.

An dieser Stelle ist nachzutragen, dass sich das Denken spart, wer bioorganisch gesteuert wird. Genau das ist der Fall. Die Chefin hat für das zweite Loch gesorgt, unmittelbar über dem primären gelegen. 'Beim ersten Mal ist es noch etwas eng', sorgt sie sich. Deswegen wird die neue Körperöffnung, der Bioport, mit einem entspannenden Mittel eingesprayt. Sie schiebt mit einer leichten Drehbewegung die Nabelschnur ein, den UmbyCord. Dann ist der Praktikant mit der Spielkonsole verbunden, dem MetaFlesh Game-Pod. Damit ist alles in Ordnung. Wir haben’s schwer mit kommerziellen Typenbezeichnungen.

Der Analverkehr als Metapher für die Realität des Computerspiels? Was dagegen? Die Chefin, heiter, stellt Erfreuliches in Aussicht. Regisseur Cronenberg ('Videodrome', 'Crash') steht ihr bei. Es muss, wie bei den übrigen Realitäten, auch beim Computerspiel möglich sein, einmal wahllos in die Menge zu schießen. Im Film taucht ein Bewaffneter auf und feuert blindlings auf das Zentral-Organische-mit-schwellenden-Nippeln-dran. 'Kampf dem Imperialismus!' ruft er in der deutschen Version. Die Folge des fundamentalen terroristischen Akts: Millionen von imperialistischen Sporen verteilen sich über die weiträumig verteilten Biomassen.

Das schreit nach gruppentherapeutischer Aufarbeitung. Der Film zeigt sie. Aber ist nicht diese Realität ihrerseits vom Bioport über den UmbyCord mit dem MetaFlesh Game-Pod verbunden? – Wer spielt, mit dem wird gespielt? Auch wer Amok läuft, ist Opfer. Wie wir alle. Das ist schlüssig in Cronenbergs – übrigens eXzellenTem – Film. Genau wie literarisch in Bret Easton Ellis’ neuem Glamourama. – Wie war das doch 1931 in Deutschland? In 'M', dem Fritz-Lang-Film? Peter Lorre: 'Ich will nicht, ich muss.'

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2000

Duell – Enemy at the Gates

(D / GB / IR 2001, Regie: Jean-Jacques Annaud)

Lieblingstote
von Dietrich Kuhlbrodt

Drehort Brandenburg, und die Stalingrad-Schlacht als Stahlgewitter. Immer wieder blitzen die schönen Augen von Jude Law in der Großaufnahme auf. 'Der Krieg ist ein großes emotionales Erlebnis', gab er in …

Drehort Brandenburg, und die Stalingrad-Schlacht als Stahlgewitter. Immer wieder blitzen die schönen Augen von Jude Law in der Großaufnahme auf. 'Der Krieg ist ein großes emotionales Erlebnis', gab er in der Pressekonferenz zum Besten. Doch dann kam noch gerade rechtzeitig: 'Der Krieg bringt’s nicht.'

Das ging vor der Presse in Ordnung. Doch der Kriegsfilm bringt’s auch nicht. Regisseur Annaud ('Sieben Jahre in Tibet') führt uns Stalingrad als grandiose Bühne für die Zweikampf-Show zweier Scharfschützenstars vor. Deswegen bekommt neben dem Russen-Sniper Jude Law auch der ehrenwerte Wehrmachtsmajor König (Ed Harris) extreme Großaufnahmen. Beide sind auch im jeweils anderen Feindeslager oben in den Charts. Russen und Deutsche werden eins: Publikum. And the winner is …

Annaud machte hinterher Eisenstein für seinen Helden-Showdown verantwortlich. Immer wieder habe er dem Team die Eisensteinfilme vorgeführt – mit ihren Großaufnahmen, wo die Augen blitzen zwischen all den Totalen. Und außerdem sei sein Schlachtgemälde universell; Duelle gebe es überall, auch den Wettstreit um die schöne Frau.

Hätt ich’s doch fast vergessen. Ja, es wird in Stalingrad noch um anderes gestritten, und zwar innerhalb der Roten Armee. Heldenschütze Jude Law und Politoffizier Joseph Fiennes (beides Russen) kämpfen um die Gunst der Russin Rachel Weisz. Auch brauchen die Russinnen Eva Mattes und Sophie Rois Zuwendung. Da hört allerdings der Spaß auf, befindet ein mürrischer Nikita Chruschtschow, gespielt vom Russen Bob Hoskins; Bühne frei fürs Sniper-Duett!

Es ging rund in good old Stalingrad. Im märkischen Sand verpulverten Pyrotechniker ihren Batzen vom größten Filmbudget, das je in Europa verdreht wurde (fast 200 Millionen Mark). Beim Stalingrad-Feuerwerk ging zweierlei drauf, nämlich a) 100 Millionen Mark berlin-brandenburgische Steuergelder der Filmförderung und b) die komplette Filmdramaturgie. Traurig? I wo, mit den 20 Millionen, die im Studio Babelsberg hängenblieben, wurde dort das Gespenst des Konkurses verscheucht. Und der Zuschauer, bliebe er denn die zwei Stunden im Kino, findet seine Lieblingstoten kurz vor dem Abspann wieder unter den Lebenden, Happy-End im Russenlazarett.

Das wahre Stalingrad-Ende kommt allerdings noch. Nach dem Gau der berlin-brandenburgischen Filmfinanzpolitik ('Duell mit Hollywood') und dem sich abzeichnenden Super-Flop des Prestige-Desasters würde ich gern wissen: Wenn auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, was denn auf diesen?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2001

Dutschke

(D 2009, Regie: Stefan Krohmer)

Was Actionartiges ...
von Dietrich Kuhlbrodt

Stefan Krohmer und Daniel Nocke (Buch), die Autoren des Doku-Dramas, geboren 1971 und 1968, fragen sich, wie das damals eigentlich war. Das heißt, sie fragen Leute, die uns das sagen. …

Stefan Krohmer und Daniel Nocke (Buch), die Autoren des Doku-Dramas, geboren 1971 und 1968, fragen sich, wie das damals eigentlich war. Das heißt, sie fragen Leute, die uns das sagen. Was bleibt, sind Köpfe, die reden und deuten und reden und deuten. Die Krone setzt dem der Chefdeuter Wolfgang Kraushaar auf. Stets spielt ein überlegenes Lächeln um seine Lippen, und er weiß, wozu Dutschke „prädestiniert“ war: seine Rolle bei den Grünen zu spielen. Leider kam der Tod dazwischen. Und mir zuckte die Faust, mit der Deutervisage Kraushaar was „Actionartiges“ (Kraushaar) zu machen.

Das Dokumentarische des Doku-Dramas also sind aktuelle Stellungnahmen, gern auch Smalltalk, kaum historisches Material der Endsechziger/Anfangsiebziger-Jahre, und selbst diese Aufnahmen (Empfang des Schahs, Kurras erschießt Ohnesorg, die Bildzeitung hetzt zur Bürgerjustiz) sind zu Dekor entwertet, verschnipselt und mit einer schmissigen Musik überzogen. Wer das gemacht hat, gehört …, – auwei, ich vergaß: der Unterhaltungswert! Gesendet wird zur Primetime!

Auch nicht zu vergessen: es wird ja allerlei nachgespielt. Das funktioniert sogar in Maßen, merkwürdigerweise vor allem in den Nebenrollen. Drei Sätze von einem SDSler, der ob der „Alleingänge“ von Dutschke unmutig ist (Michael Kranz), und schon wird die Spaltung präsent, die dann doch die Einheit der „Bewegung“ (Dutschke) bedrohen sollte. – Anderes Beispiel. Fabian Hinrichs (Peter Schneider) hat den gewissen neutralen Blick, und der genügt uns zu wissen, dass Dutschke auf den Falschen setzt.

Die Autoren („Sie haben Knut“) verstehen ihr Handwerk, souverän sogar, wenn sie zu unserem Amüsement die Interviewten fragen, wie sie den Film machen würden – und Antworten kriegen. Und abgesichert haben sie sich sowieso, indem sie Gretchen Dutschke befragten und ihre Biografie („Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“) zu Grunde legten. Aber grade das ist das Problem. Der „Dutschke“-Film ist hoffnungslos – oder soll ich sagen: ehrlich naiv – personalisiert. Der Held (Christoph Bach) beim Abwasch, beim Windeln. Liebevoll kriecht er nach getaner Politaktion zu Frau (Emily Cox. Ihr glaubt man alles) und Kind in die Federn. Zärtlich bettet er den Kleinen am helllichten Tag im Kinderwagen auf die Dynamitstangen, die Genosse Feltrinelli nach Berlin gebracht hatte. Aber anders, als von ihm gedacht, wird das Gefahrengut von Familie Dutschke im Landwehrkanal entsorgt, – weiß Gretchen. Inzwischen hat der alte Gaston Salvatore, wie wir sehen, beim Interview die dritte Rotweinflasche geleert. Der Filmschnitt bringts, dass er sich mit Bernd Rabehl kabbelt. Toller Auftritt im, – ja, wie nenn ich das, – im neuen ZDF-Format: Dutschke-Magazin.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2010

Fair Game

(USA 2010, Regie: Doug Liman)

Die guten CIA
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Titel setzt fortgeschrittene Englischkenntnisse voraus. Ich musste auch erst im Oxford Dictionary nachschlagen. Fair Game also gleich Freiwild. Es geht um unfaires Gemobbe in der Firma, der Central Intelligence …

Der Titel setzt fortgeschrittene Englischkenntnisse voraus. Ich musste auch erst im Oxford Dictionary nachschlagen. Fair Game also gleich Freiwild. Es geht um unfaires Gemobbe in der Firma, der Central Intelligence Agency. Die Berufsagentin Valerie Plame (Naomi Watts) wird zum Abschuss freigegeben. Ihr Mann, Ex-Botschafter Joe Wilson (Sean Penn), freiberuflich für den CIA in Afrika tätig, wird desavouiert, seine Erkenntnisse – Lieferungen von Uran („yellow mass“) an Saddam gibt es nicht – wegmanipuliert. Die Politstory ist real. Bush jr. brauchte die angeblichen irakischen Massenvernichtungsmittel als Kriegsgrund. Um Kritiker zum Schweigen zu bringen, enttarnte das Weiße Haus die CIA-Angestellte Valerie Plame via Sensationsbericht der Washington Post.

Gut, sie ist verbrannt, enttarnt und ihren Job los. Was ist noch das Drama? Die family values. In den Augen der anderen: die Mutter war Spionin! Die Tochter war Spionin! Die Nachbarin war Spionin! – und vielleicht ist sie es noch!!! – Wie geht eine Frau damit um? Wie rettet sie die Ehe? Denn das Paar operiert getrennt. Sie entzieht sich der Öffentlichkeit (Schweigepflicht!). Er tritt wütend in Talk Shows auf und mobilisiert Studenten. – Zu großen Teilen ist „Fair Game“ Familiendrama.

Atmosphärisch kommt ein wenig Politthriller am Anfang auf, wenn Arbeitsproben der Agentin gezeigt werden. Sie kommt schon verdammt sympathisch rüber. Schnell dann aber tobt der Kampf in den Korridoren der Agentur, und viele Köpfe sagen, was einen aufregt. Aber es bleibt dabei, das Ehepaar Wilson sind die Guten vom CIA, die anderen in Washington sind die Bösen. Und wir sind für die Guten, für den guten CIA. – Noch Fragen? Eben keine. Die amerikanischen Werte werden doch nicht hinterfragt! “God bless America“. Das ist das letzte Wort Sean Penns im Film. Und das vom Freiwild Valerie? „I love my career, and I love my country“. – Das übrigens sagt die originale Valerie Plame in einer Vernehmung. Ein TV-Dokument. Im Nachspann erfahren wird dann noch, dass sie, zu einigen Jahren Gefängnis verurteilt, von Wohltäter Bush jr. ganz schnell begnadigt worden ist.

Weil er im Grunde seines Herzens weiß, dass sie eine Gute ist? Sie ist es, wie wir wissen, und Regisseur Doug Liman („Die Bourne Identität“) hat den Film wirklich gut gemacht. Kein Mensch kann ihn verreißen, ich auch nicht. Das ginge nur intellektuell. Aber so funktioniert es nicht. Es geht hier um Mensch zu Mensch. Es ging um die rechte Spannung zwischen Action und Alltag. Ein Meister war am Werk, ogott.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2010

Eine Frauensache

(F 1988, Regie: Claude Chabrol)

Die Amoral von der Geschichte
von Dietrich Kuhlbrodt

Claude Chabrols Film 'Eine Frauensache' erzählt uns etwas über uns, was wir vorher noch nicht wußten. Und niemand sagt uns, was wir davon zu halten haben 'Gegrüßet seist Du, Marie …

Claude Chabrols Film 'Eine Frauensache' erzählt uns etwas über uns, was wir vorher noch nicht wußten. Und niemand sagt uns, was wir davon zu halten haben

'Gegrüßet seist Du, Marie voller Scheiße, verfault ist die Frucht Deines Leibes', betet die Marie des Films (Isabelle Huppert), dann fällt die Guillotine. Cherbourg, 30. Juli 1943. Das Vichy-Regime hat herausgefunden, wem gegenüber es Macht demonstrieren kann: gegenüber einer Frau, die abtreibt und damit gegen die Staatsideologie verstößt: Travail, Famille, Patrie. Die Abtreibung ist auch ein politisches Verbrechen.

Paris 1988. Frankreichs Katholiken werfen eine Tränengasbombe in ein Kino, das 'Eine Frauensache' zeigt. Einer der Zuschauer stirbt an den Folgen. In Gottes Namen, der aber auch der Name Pétains sowie seiner Heiligkeit in Rom ist. Denn von der Blasphemie des Films fühlen sich gleichermaßen die neuen Freunde der alten Kollaborationsregierung wie die Abtreibungsgegner in aller Welt getroffen.

Völlig zu Recht. Denn Claude Chabrols 'Frauensache' ist eine Parabel, die all die verstören muss, die unerbittlich Recht behalten wollen. Und schon immer alles vorher gewusst haben. Der Film spielt grandios und gradezu unverschämt mit dem Bedürfnis, sich Ansichten zurechtzumachen, das heißt mit uns, und zieht Aufmerksamkeit und Anteilnahme auf das unerlässliche, aber gern vernachlässigte Vorfeld, auf dem es nichts weiter als wahrzunehmen und Erfahrungen zu sammeln gilt. Insofern ist 'Eine Frauensache' zutiefst amoralisch. Aber grade weil ihm das so gut gelingt und weil die großartige Interpretation der Marie durch Isabelle Huppert unsere volle Aufmerksamkeit und Anteilnahme erzwingt, ist der Film schlicht human.

Indem 'Eine Frauensache' uns nah kommt und gegenwärtig, schließlich zu unserer Sache wird, rehabilitiert er die historische Marie-Louise Giraud, die auf einen – authentischen – Kriminalfall reduziert worden ist. Nachzulesen in dem gleichnamigen Buch von Francis Szpiner (éd. Balland), das dem Drehbuch zu Grunde lag. Im Film macht Marie eine Karriere, von der wir weder wissen, was wir davon halten sollen, noch wohin sie führen soll, weil wir damit beschäftigt sind, ihr dabei zuzusehen.

Dass Nachbarin Ginette im Senfbad sitzt, kann sie nicht mit ansehen, weil sie weiß, dass das nichts nützt. Marie holt eine Schüssel mit Seifenlauge, auch ein Klistiergerät und hilft der Frau, die ihr zuvor ihrerseits behilflich gewesen ist und die Kaffeemühle ausgeliehen hat. Ein Tausch unter Frauen, nichts weiter. Doch. Ginette entgilt die Leistung mit einem Grammophon. Das ist ein unerhörter Luxus im Kleinbürgerviertel der Stadt. Marie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie lächelt, tanzt. Eine Ahnung, dass es anders sein könnte – als Regen, Enge, Alleinsein, Hunger, die Misere. Sie macht die Abtreibung zum Geschäft, verblüfft darüber, wie rege ihre Dienstleistung in Anspruch genommen wird. Das Interesse, nämlich die Not der Kundinnen, treibt sie in die Rolle einer Unternehmerin. Ein Kleid, Geld, der Umzug in eine bessere Wohnung. Ein Freund, der clever, smart und daher auch ein bißchen Kollaborateur ist: 'den Nazis beim Unkrautjäten helfen'.

Wir kommen mit unserer Anteilnahme, unserer Sympathie ins Schleudern. Marie, Kind und Erwachsene, hilflos und gierig, fröhlich und launisch, frivol und verletzlich, lieb und böse, – ihre Sehnsucht nach Befreiung und Aufstieg erscheint unversehens, in einem nicht mehr definierbaren Moment, versehrt und beschmutzt. Aber grade dann, wenn wir fertig sein möchten mit ihr und ihren Ambivalenzen und wenn das Urteil festzustehen scheint, wird unseren Reflektionen durch nackte Tatsachen und schiere Gewalt wieder der Boden entzogen. Marie, die verhaftet und der der Prozess gemacht wird, erscheint als Opfer einer reaktionären Justiz, die ein Exempel statuieren und sich an ihr rächen wird – für die eigene Feigheit vor dem Feind.

So wie Marie darf keine sein, sagen die Männer, die sich als wohlfeiles Opfer eine Frau ausgesucht haben, welche die ausgerufene Doktrin schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen hat. Einfach nur Frau sein: das entzieht den Männern, die ihre Macht über ein eigens erdachtes Regelsystem ausüben, den Boden. Eine Provokation, von der Marie nichts weiß.

Sie tanzt mit Rahel und sagt der anderen Frau einen Männersatz: 'Sie haben so schöne Augen, mein Fräulein'. Auch das darf nicht sein. Eine Frau hat auf Männer Rücksicht zu nehmen. Grade in heroischen Zeiten, im Krieg. Marie, die naive, schlaue, nimmt keine Rücksicht, weil ihr gar nicht in den Sinn kommt, dass Heroisches zu sehen ist. Ihr Mann kommt aus dem Krieg zurück, ein Invalide. Marie nimmt ihn kaum wahr, wie er, ebenso eifrig wie verzweifelt, Zeitungsausschnitte zusammenklebt. Aber kaum will der Mann uns dauern, klebt er aus Großbuchstaben ein anonymes Schreiben an die Polizei zusammen und denunziert seine Frau. Wir müssen es aufgeben, unsere Sympathien verteilen zu wollen. Auch der kleine Mann, ihr Sohn, der mit großen traurigen Kinderaugen in die Welt blickt und so tapfer die Rolle des Vaters zu übernehmen versucht, rührt uns an, wie er immer wieder und doch vergeblich, die Liebe der Mutter sucht, die sich ihm entzieht. Bis wir erfahren, was er werden will: ein Henker.

Auf den Zuschauer, der zwischen Schuld- und Freispruch pendelt, übertragen sich die Ambivalenzen des Films: eine eigene Erfahrung des Richtigen im Falschen und des Guten im Bösen. Also hat 'Eine Frauensache' doch einen moralischen Effekt, grade weil Chabrol strikt vermeidet, zu plädieren – für die Abtreibung, gegen die Todesstrafe. Stattdessen wird eine Nebenperson, nein: eine Unperson der Zeitgeschichte zur Hauptsache. Marie-Louise Giraud drückt mit der schieren Präsenz der Schauspielerin Huppert das Zeitgeschehen an den Rand, ins Nebensächliche. Rahel ist eines Tages nicht mehr da, Juden werden deportiert. Marie sagt dazu: 'Rahel, die ist niemals Jüdin, die doch nicht', weil sie sie in Schutz nehmen will. – Nur in einer einzigen Sequenz sind in diesem Film Naziuniformen zu sehen. Auf einem örtlichen Folklorefest. Wer eine lebende Gans köpft, auf einen Streich, hat gewonnen; das macht auch den Deutschen Spaß. Marie guckt nicht hin. Nicht etwa, weil sie das nicht will, sondern weil sie ihren Freund sucht. Sie bleibt unberührt von dem, was um sie herum passiert.

Chabrol zeigt die Huppert in fast jedem Bild seines Films, und erst durch sie, durch ihre Darstellungskraft, gewinnen die Dinge Realität. Es gibt keine Totalen, die Übersicht vorgaukeln. Kein naturalistisches Ausmalen, in das sich die Darsteller einbetten könnten. Keine Arme-Leute-Idyllen, die den Blick anzögen. Huppert bleibt die Hauptperson, weil sie zu den Dingen, die um sie herum sind, auf Distanz gegangen ist, unerreichbar. Nur die Sachen, die sie betrachtet, die sie berührt, werden real. Im Polizeiauto, in Paris, versucht sie durch ein winziges Fenster den Eiffelturm zu sehen. Sie sieht ihn nicht, und es gibt ihn nicht. Real wird dagegen die Postkarte werden, auf der er abgebildet ist. Der Anwalt möchte doch bitte eine kaufen und den Kindern schicken.

Chabrols Film bewegt unser Gewissen, indem er die zeitgeschichtlichen Hierarchien abbaut. Die Vielheit und Einheit eines konkreten Menschen ist in den Mittelpunkt des historischen Ensembles gerückt und als gegenwärtig erfahrbar geworden. Das korrespondiert einer gerade entdeckten Forschungsmethode, der 'Humangeographie'. 'Der Historiker sollte sich an dem Ort niederlassen, an dem sich alle Einflüsse kreuzen, überschneiden und miteinander verschmelzen: im Bewusstsein des in der Gesellschaft lebenden Menschen. Dort wird er die Aktionen und Reaktionen erfassen und die Wirkung der materiellen und moralischen Kräfte, die auf jede Generation einwirken, messen können' (Lucien Febvre in 'Das Gewissen des Historikers', Wagenbach 1988).

In 'Eine Frauensache' erfahren wir daher etwas über uns. Etwas, das wir vorher nicht gewusst haben. Etwas Schönes, Schauriges, Erschreckendes, Wissenswertes. Und niemand sagt uns, was wir davon halten sollen. Die Marie des Films repräsentiert nichts anderes als sich selbst; gleiches wird für den Zuschauer gelten. Die sinnstiftenden Vermittler bleiben außen vor. Offenbar ein Phänomen, das sich nicht auf die 'Frauensache' beschränkt. 'Die Deutschen müssen jetzt das Gefühl entwickeln, dass sie es waren. Wir alle suchen nach Bildern, die uns Anhaltspunkte geben in einer Zeit, die uns alles erklärt hat', schrieb Christoph Schlingensief und drehte den Film '100 Jahre Adolf Hitler/Die letzte Stunde im Führerbunker', der zusammen mit 'Eine Frauensache' auf den Berliner Filmfestspielen gezeigt wurde. Bevor wir jetzt unsere Ansichten zurechtmachen, empfehle ich gefl. den Gang ins Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/1989

Ein Freund zum Verlieben

(USA 2000, Regie: John Schlesinger)

Mutter Madonnas kalte Augen
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film zum Vergessen. – Bleiben wir also noch bei 'Luna Papa' und 'Beresina'; das sind immerhin Filme, wenn nicht gute Filme, und wir machen Bekanntschaft mit den unverbrauchten Gesichtern …

Ein Film zum Vergessen. – Bleiben wir also noch bei 'Luna Papa' und 'Beresina'; das sind immerhin Filme, wenn nicht gute Filme, und wir machen Bekanntschaft mit den unverbrauchten Gesichtern der 22jährigen; ihnen glauben wir auch das Unwahrscheinliche – am liebsten grade das.

In 'Ein Freund zum Verlieben' stehen Tränen in Mutter Madonnas kalten Augen, ihr Real- und Filmfreund Rupert Everett nimmt mit psychotischer Energie sein Recht als Vater wahr, und wir glauben nichts von dem, was die Stars treiben. 'Ein Freund zum Verlieben' ist kein Film. Gewiss, auf der Leinwand bewegt sich was, aber das gehört auf die Bühne eines der Broadway-Boulevard-Theater, meinetwegen ein well-made-play, also unerträglich. Es geht um dreierlei: 1. um Konversation inkl. Pausen für den Zwischenbeifall, 2. um das Fotografieren und Posieren von Mutter und Vater, wozu schöne Motive und raffinierte Beleuchtung gehören: viel Licht von hinten auf Madonnas Kopf, das Gesicht liegt meist im Schatten, und 3. um die Musiktitel, allen voran Madonnas 'American Pie'. Aber ergibt die Summe von 1.+2.+3. einen Film?

John Schlesingers Alterswerk propagiert die family values. Um zu beweisen, daß sie allgemeingültig sind, braucht der Film einen ganzen Theaterakt, nämlich den Gerichtssaal mit dem immer gleichen EinspruchEuerEhren; nach 98 Minuten wissen wir es, weil wir Zeit zum Mitschreiben hatten, dass auch der schwule Vater das Sorgerecht für seinen Sohn (6) bekommen kann. Trotzdem kriegt er das Kind nicht. Wollen Sie wissen, warum? Wegen Schlesinger. Denn um zu zeigen, wie schwul Madonnas Freund ist, fiel ihm nichts anderes ein, als zu zeigen, wie der raucht, die Zigarette qualmt und qualmt in Großaufnahme. Die family values mögen für Schwule gelten, gewiss aber nicht für Raucher.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2000

Ein mutiger Weg

(USA 2007, Regie: Michael Winterbottom)

Feiertagsopfer
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Heldenlied. Michael Winterbottom („Welcome to Sarajevo“) verfilmte das Buch, das Mariane Pearl dem Gedenken ihres Manns widmete. Daniel Pearl, Südostasienkorrespondent des Wall Street Journals, war 2002 in Pakistan entführt …

Ein Heldenlied. Michael Winterbottom („Welcome to Sarajevo“) verfilmte das Buch, das Mariane Pearl dem Gedenken ihres Manns widmete. Daniel Pearl, Südostasienkorrespondent des Wall Street Journals, war 2002 in Pakistan entführt und geköpft worden. Brad Pitt produzierte den Film. Angelina Jolie spielt die Rolle der Autorin. Fakten, Fakten, Fakten. Im Winterbottom-Stil reihen sich sekundenkurze Einstellungen. In Karatchi wird Auto gefahren. Es wird am Rechner gelinkt. Es werden News gekuckt. Es wird telefoniert. Die Gesprächspartner kommen ins Bild. Viele Köpfe erscheinen. Multiple Ermittlungsarbeit. Wo fassen wir die Terroristen. Wo befreien wir die Geisel. Das Wall Street Journal arbeitet mit Geheimdiensten, Polizisten und Diplomaten zusammen.

Winterbottoms Film mutet dokumentarisch an. Vor einigen Jahren hätte man von Dogma-Stil gesprochen. Keine Proben, keine vorgefertigten Dialoge, wohl aber Improvisation, Handkamera, natürliches Licht, also auf der Straße. Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit werden einige „echte“ TV-Dokumente eingespielt. Bei anderen bleibt offen, was was ist. Es ist aber auch egal, weil es dem Film um eine Botschaft geht. Deswegen gibt es in der dokumentarischen Hektik lange Einstellungen, in denen wir Angelina Jolie auf die Lippen sehen. Sie spricht. Der wahre Journalist vertrete nicht sein Land, sondern suche die Wahrheit. Er verstehe sich als Augenzeuge. Er lasse jede Meinung zu Wort kommen. Dann könne er die Guten und die Bösen, Juden und Moslems wieder zusammenführen. Deshalb habe ihr Mann das Gespräch mit Terroristenführern gesucht. Man müsse verstehen: Terroristen gebe es dort, wo Armut herrsche.

Die Armut kommt ins Bild. Ratten huschen im Slum. Aber da der Journalist unparteiisch ist, sehen wir immer wieder ein süßes Pakistanikind, das sich von Angelina Jolie streicheln lässt. – Die Kamera wird ein wenig politischer. Sie zeigt eine Reihe Moslemhintern beim Gebet und gleich danach aufrecht stehende Juden bei gleicher Tätigkeit. Sie zeigt Pakistani, die Tieren die Kehle durchschneiden – Feiertagsopfer. Sie erinnert daran, dass das Schächten auf die Bibel zurückgeht. So wird der Wall-Street-Journalist, dem vor laufender Kamera die Kehle durchschnitten wird, biblisches Opfer. Seine letzten Worte: „Ich bin Jude. Mein Vater war Jude. Meine Mutter war Jüdin“.

Wir lernen von den Pakistani: Mörder fasst man, wenn man foltert (tolle Sequenz). Entführer kriegt man, wenn man deren Verwandte entführt (zwei Cousins in diesem Fall). Toll. Und wo ist jetzt der Scheich? Toll: in Guantanamo. Ende des Films von Winterbottom („Road do Guantanamo“).

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2007

Ein Winternachtstraum

(GB 1994, Regie: Kenneth Branagh)

Sachzwang makes the show go on
von Dietrich Kuhlbrodt

»Why must the show go on?«, fragt sich eine Off-Entertainer-Stimme alle lieben langen Verse hindurch. Was wir sehen, ist, dass jemand auf das Ortseingangsschild von Hope 'Piss off!' gekrakelt hat, …

»Why must the show go on?«, fragt sich eine Off-Entertainer-Stimme alle lieben langen Verse hindurch. Was wir sehen, ist, dass jemand auf das Ortseingangsschild von Hope 'Piss off!' gekrakelt hat, und dann trifft uns wie ein jäher Blitz die Erkenntnis: Es gibt gar keine Alternative zur Show, 'die uns das Leben lebenswert macht'. Welche Realität sollte das sein, und, bitte, wo? Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage muss also lauten, dass der Sachzwang makes the show go on, jedenfalls für alle arbeits- & utopielosen Darsteller und Schauspieler. Und weil das so ist und weil Kenneth Branagh die Show im 'Winternachtstraum' mit einer prima Riege sitcomprominenter Bühnen- und TV-Stars produziert, wobei Joan Collins ('Denver') nicht der schlechteste ist, lässt sich der Film als zuverlässig wirkendes Antidepressivum benutzen. Heiterkeit! Geborgenheit! Sind wir denn nicht eine Familie? Haben wir nicht unseren Spaß?

Übrigens handelt es sich bei der Spaßshow um das eher schwergewichtige Theaterstück 'Hamlet' vom übergroßen Shakespeare. Die Truppe, in der tristen Realität hoffnungs- und aussichtslos, flüchtet sich angesichts von Frust und Depression in eine schier unglaubliche Theaterproduktion. Joan Collins, das einwandfreie Nichtmehrbiest, verleiht Geld, das knapp für eine Billiginszenierung reicht – vorausgesetzt, es sind weder Gagen zu zahlen noch Miete für ein richtiges Theater. Geprobt, gelebt und gespielt wird im leerstehenden St. Peter’s Convent in Piss-off-Hope (Surrey). Premiere: Heilig Abend. Was ist, wenn kein Zuschauer ins Kloster kommt? Egal! Die Requisite setzt Pappkameraden auf die Stühle. Die hl. Schauspielerfamilie ist autark und das gute Ende der fröhlichen, aber auch leicht religiös gefärbten Komödiantenkameraderie vorprogrammiert. Aber wir wissen das schon seit 'Peter’s Friends'.

Branagh erdrückt im 'Winternachtstraum' schon deswegen nicht durch seine schiere Gegenwart, weil er gar nicht mitspielt. Er führt Regie, und das ist klasse. Dem Thema entsprechend lässt er uns an einer ausgesprochenen Billigproduktion teilhaben, und das noch in schwarzweiß, dem Stoff, aus dem die Märchen sind. 'Es ist wie wenn man Mickey Rooney und Judy Garland auf dem Bildschirm sieht, wie sie als 35jährige Personen spielen, die gerade einmal 16 sind' (Branagh). – Im 'Winternachtsmärchen' finden Personen, die keine Ahnung haben, wie man schlimme Realität analysieren und richtige Antworten finden muss, die nächstliegende und allzumal lustige Lösung: sogleich und das nachdrücklich etwas tun, z.B. das leerstehende Kloster in Beschlag nehmen. Ich weiß, das ist der zweite Schritt vor dem ersten usw., aber sagen Sie das mal dieser Truppe, die sich gegenseitig aus der Klemme hilft, ein Show-Kommando sozusagen, schräg und campmäßig drauf: Wir tun, weil wir das brauchen, und will die Welt uns nicht, was schert uns die Welt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/1996

Astronaut Farmer

(USA 2006, Regie: Michael Polish)

Familiäre Wärme
von Dietrich Kuhlbrodt

Wieder diese epischen Westernhorizonte. Vor der glutrot untergehenden Sonne vorbei reitet der Lonely Cowboy, doch nein, jetzt fällt Licht auf den weiß reflektierenden Raumanzug. Ein Mann muss tun, was er …

Wieder diese epischen Westernhorizonte. Vor der glutrot untergehenden Sonne vorbei reitet der Lonely Cowboy, doch nein, jetzt fällt Licht auf den weiß reflektierenden Raumanzug. Ein Mann muss tun, was er tun muss, und er muss es allein tun gegen den Widerstand von Patriot Act, CIA und FBI, nämlich mit der selbstgebauten Rakete ins Weltall zu fliegen. Und zurück. Unser Astronautbauer (Billy Bob Thornton) verwirklicht seinen Traum, den uramerikanischen Traum. Schlimm nur, dass der Ehering verloren geht (keine Angst, er ist dann wieder da, und wir weinen vor Glück). Die Farmerfamilie, autark, ist die Einheit, aus der heraus der Mann erfolgreich operieren kann. Eine glückliche Basis. Zuversicht strahlt aus den Augen von Weib und Kind, lachende Münder in Großaufnahme, es ist nicht zum Aushalten, und wir wissen nicht, wenn ich mal für die Zuschauer sprechen darf, ob wir lachen oder weinen sollen.

Klischee? Parodie? Nach einigem Schwanken findet man Halt auf dem Grat. Michael und Mark Polish (Buch, Regie, Produktion) haben es raus, ihre schönen Bildtotalen vom Poetisch-Surrealen immer wieder in Parodie und Satire zu kippen. Die Familie, die lustigen Kinderlein (es sind der Polish-Brüder eigene) sind nicht da, um Werte zu verkörpern, sondern um gegen die Allmacht von Staat und gegen den Kontrollwahn zu kämpfen. Oder anders gesagt, dezidiert selbstreflexiv: angesichts der gegenwärtigen Lage zurück zur Independent-Strategie. Drum haben die Polish-Brüder soeben ein Printwerk geschrieben, das sich als Leitfaden für unabhängige Nachwuchs-Regisseure versteht. Der Independent Farmer wird dadurch zu unser aller Vorbild, freilich fern von Diskurs, Argumentation, Theorie und Dogma, dafür einladend durch Bild, Ton, familiäre Wärme (nein, hier kein Mief!!) und klasse Country Music.

Mögen wir Intellektuelle auch die linke Augenbraue hochziehen, Film ist nun mal Bildwerk, und damit bleiben Fragen offen. Immerhin sind wir uns doch wohl einig, dass eine Familie wie die unseres lonely Astronautboys sehr wohl eine Zelle im Independentkampf sein kann. Ganz real haben die Polish-Brüder in den letzten Jahren Raketen-Filme wie „Twin Falls Idaho“,'Jackpot' und „Northfolk“ in das Hollywood-Weltall geschossen und dabei die herzigen Kinder produziert, die uns in „Astronaut Farmer“ anstrahlen. Die alte, neue Independence hochzuhalten gegen die bösen Systeme, – das ist romantisch und aktionistisch zugleich, magischer Realismus und Handlungsanleitung. Ej, da kommt der Rocket Man. Elton John auf der Tonspur!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2008

Beresina oder die letzten Tage der Schweiz

(CH / D / A 1999, Regie: Daniel Schmid)

Geübte Masochisten
von Dietrich Kuhlbrodt

Die russische reine Törin Panova wird in Zürich – was dachten denn Sie? – als Domina in einem SM-Studio eingesetzt. Zuhälter sind Prominente aus der Wirtschaft: Rechtsanwalt Dr. Waldvogel (Ulrich …

Die russische reine Törin Panova wird in Zürich – was dachten denn Sie? – als Domina in einem SM-Studio eingesetzt. Zuhälter sind Prominente aus der Wirtschaft: Rechtsanwalt Dr. Waldvogel (Ulrich Noethen) und seine Frau (Geraldine Chaplin in ihrer unangenehmsten Rolle). Wir lernen die Führungskräfte der Schweiz ausnahmslos als geübte Masochisten kennen, die sich vor der jungen Russin am Boden krümmen und ihr die schwarzen Stiefeletten lecken; auch muss dem einen schon wieder eine Körperschlinge im Nacken nachgebunden werden. Die sexuellen Obsessionen sind in diesem schönen Film von derselben Selbstverständlichkeit wie die Geldwäsche. Die alten Herren sind undämonisch, korrupt und krank; immer wieder schwärmt Joachim Tomaschewsky, der Altbundesrat, von der geglückten Arterienoperation, bis zur Erleichterung des Zuschauers der nächste Infarkt dann doch noch glückt. Regisseur Schmid ('Thut alles im Finstern, Eurem Herrn das Licht zu ersparen') wendet sich den Herren, die auch Kunden sind, mit viel Verständnis und Liebe zu. Der legendäre Kameramann Renato Berta ('On connaît la chanson') nimmt sie schön ausgeleuchtet und völlig unsatirisch auf, und die Kino-Besucher übernehmen die rosafarbene Perspektive der Ausländerin-ohne-Arg, der die Schweiz das gelobte Land und die Staatsbürgerschaft die Verheißung ist. Wir liegen dieser Heiligen zu Füßen, lecken und sind arglistig, denn den versprochenen Schweizer Pass kriegt sie niemals.

Und doch wird die Hl. Moskauerin gekrönt werden, in einer majestätischen Totalen, in der sich die Queen von England nicht wiedererkennen würde, ein erhabenes Spektakel, eine Apotheose des Göttlichen, die Königin der Schweiz, eine Russin. – Immer noch erzählt der Film seine Geschichte, keine Albernheit. Aber eine Freude war es schon, wie die biederen Schweizer Pensionäre der SM-Monarchin den Weg freischossen. Stammfreier-Divisionär Benrath hatte seinen Umsturzplan (den Beresina-Alarm) im Etablissement leider vergessen. Und eigentlich war es den alten Kommunistenfressern drum gegangen, dass keiner die helvetischen Obsessionen stört, schon gar nicht eine Frau, und erst recht nicht eine aus Russland.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/1999

Borat

(USA 2006, Regie: Larry Charles)

Etwas toppen!
von Dietrich Kuhlbrodt

Judenhatz in Kasachstan. Eine Reportage des kasachstanischen Fernsehens. Die kyrillischen Texte sind untertitelt. Der Jude, und er sieht so aus, wie alle Antisemiten wissen, dass ein Jude aussieht, – der …

Judenhatz in Kasachstan. Eine Reportage des kasachstanischen Fernsehens. Die kyrillischen Texte sind untertitelt. Der Jude, und er sieht so aus, wie alle Antisemiten wissen, dass ein Jude aussieht, – der Jude also, gradewegs einer Stürmerkarikatur entsprungen, wird von einer Meute Kinder und Jugendlicher durch die Stadt gejagt – ganz wie der Stier in Pamplona. „Fast hätte er mein Geld geschnappt!“. Der Jude hockt sich hin. Legt er ein Ei? „Zerschlagt das Judenei, bevor das Kücken kommt!“

Das Staatsfernsehen Kasachstans schickt einen Reporter in die USA, von den Segnungen der Zivilisation zu berichten: Borat. Wir kennen ihn hier als Ali G (Sacha Baron Cohen), den Paki-Underdog und Hip-Hop-Moderator in einer englisch-amerikanischen Kultshow (Channel 4, HBO, MTV, Viva). – In Borats Reportage werden nun der Reihe nach Vorurteile getoppt und lächerlich gemacht. Schön, die Exposition ist fiktiv. Die Reise durch die USA aber wird zum Dokument. Borat lässt sich in Mitten der amerikanischen Gesellschaft filmen, ihm wird seine kasachstanische Rolle abgenommen. Wir finden uns in der Realität wieder, und das ist die ungeheure Wirkung des Films, dass mit klitzekleinen Vorgaben und ohne jede Anstrengung hervorgekitzelt wird, was die Leute sonst nie zu sagen wagen. „Borat“, der Film, glückt als soziales Experiment und als böse Vorschau auf das, was abrufbar ist, wenn es einer abrufen wollte. Und gleichzeitig ist es urkomisch, was der Film ans Licht des Tages bringt, von einem Fettnapf in den anderen tretend, geschmacklos, Tabus missachtend. Auwei, und ich hab auch gelacht, in Hamburg, mitten in der Sondervorstellung für das hier in Dulsberg Süd beheimatete Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung, das bereits 8 Tage vor der Besichtigung Strafanzeige gegen den „Brandanschlag auf die Demokratie und auf Art. 1 GG“ erstattet hatte.

„Wenn diese Auto fährt in eine Gruppe von Zigeuner: Gibt es Schaden an Auto?“, fragt Borat, der falsche Autokäufer, an der US-Ostküste einen echten Verkäufer, der sich, nichts böse ahnend, filmen lässt. „Kommt drauf an, wie heftig Sie sie treffen“. – „Heftig!“ – „Die Windschutzscheibe könnte hin sein“. Mehr nicht, dann wird der Kauf perfekt. – Was hier für die Demokratie gefährlich ist, ist die sehr reale Mentalität der Minderheitenverachtung, die vom Film „Borat“ an den Pranger gestellt wird. Man muss den Film gesehen haben, um sich ein konkretes und reales Bild vom Gewaltpotential zu machen – mitten in der bürgerlichen Mehrheit. Komödiant Borat spielt den naiven Reporter, frauenfeindlich, rassistisch, schwulenfeindlich, Islamisten hassend. Keine Provokation, sondern Attraktion für die nun nicht mehr schweigende Mehrheit. Im Waffenladen: „Welche Pistole ist am besten geeignet, sich gegen Juden zu verteidigen?“. „Die 9-mm!“. – Beim – echten – Rodeo in Salem, Virginia, bekommt der vorgebliche Kasache das Mikrofon und erklärt sich mit den Truppen solidarisch. „Ich hoffe, ihr tötet jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Irak, bis zur letzten Eidechse!“ Jubel im Stadion. „Möge George W. Bush das Blut jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes im Irak trinken!“ Der Jubel wird schwächer. Etwas toppen, bringt Zweifel und evtl. Erkenntnis.

„Borat“ ist urkomisch, gewitzt und eine wunderbare Waffe auch für die hamburger Antiziganismusforscher. Sicher wäre es ratsam, ein Fünkchen Verständnis für so etwas wie jüdischen Humor zu haben. Gegen die Jugendfreigabe des Films in Deutschland durch die FSK war vom Zentralrat der Juden in Deutschland nichts einzuwenden. Regisseur Sacha Baron Cohen, walisisch-iranisch-jüdischer Abstammung, muss sich in den USA lediglich vorwerfen lassen, mit seiner Satire sexuelle Grenzen überschritten zu haben. Folge: „Rated R“. Dass er alle anderen Grenzen auch überschreitet, macht ihn zur Nummer 1 für das, was unter uns Akademikern Krisenexperiment genannt wird und was wir altmodisch Aufklärung heißen oder mediengerecht gesellschaftskritische Comedy. Ist es zum Lachen? Es ist zum Lachen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2006

Bronsteins Kinder

(D / PL 1990, Regie: Jerzy Kawalerowicz)

Abgang hinten rechts
von Dietrich Kuhlbrodt

In Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags hat das ZDF den Film 'Bronsteins Kinder', ein tragisches Bewältigungstheater, für einen zweifellos nächtlichen Einsatz erworben. Langes Zuwarten wird dieser melodramatischen Politfabel jedoch nicht guttun …

In Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags hat das ZDF den Film 'Bronsteins Kinder', ein tragisches Bewältigungstheater, für einen zweifellos nächtlichen Einsatz erworben. Langes Zuwarten wird dieser melodramatischen Politfabel jedoch nicht guttun

Der Film 'Bronsteins Kinder', der demnächst in die Kinos kommt, ist zwei Jahre alt und somit ein Stück kulturelles Erbe der Defa-Zeit. Aus ihm lernen wir, dass die Vergangenheitsbewältigung auf erschütternde Weise scheitert, wenn sie als Selbstjustiz betrieben wird. Bewältigt werden soll der Nationalsozialismus, weshalb die Filmhandlung denn auch modellhaft in der vergangenen DDR angesiedelt wird, genauer: im Jahr 1973, in dem Walter Ulbricht starb. Wie aber bewältigen wir einen Film, der uns das Scheitern vorführt?

Vor knapp 20 Jahren. Berlin, Hauptstadt der DDR. Ein Judenfriedhof. Unter frommen Gesängen wird ein Sarg ins Grab gelassen. Bedeutungsschwer kucken sich die Trauergäste an. Wieder und wieder. Sie wollen etwas sagen. Aber was? Wir sehen: Da wird etwas für uns inszeniert. Wir werden etwas lernen sollen. Und schon beginnt eine off-Stimme zu dozieren. Die Spannung steigt, denn schon wissen wir zwar, daß etwas Bedeutsames geschehen ist, wir wissen allerdings nicht, was. Die Neugier, falls sie denn hervorgerufen worden sein sollte, befriedigt die anschließende Rückblende. In wohlgesetzten Worten behauptet der Sprecher, wir wohnten der Austragung eines jüdischen Generationenkonflikts bei.

Debut-Star Matthias Paul signalisiert gestisch, mimisch und verbal gleich zweierlei, nämlich erstens, daß er die Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch' absolviert hat, zweitens, dass er den Judenjungen Hans spielt. Angela Winkler zitiert und zelebriert erstens ihre eigene Vergangenheit in den Filmen 'Die verlorene Ehre der Katharina Blum' (1975) und 'Heller Wahn' (1982), zweitens mimt sie die in einer psychiatrischen Klinik stationär versorgte Bronstein-Tochter Elle. Die Film-Geschwister beraten über ihren Vater Arno. Dieser ist nicht nur ein Profistar mit Weltniveau (Armin Mueller-Stahl), sondern Film-Opfer des Faschismus (KZ Neuengamme) und außerdem ein Vater, der seine Tochter im Krankenhaus nicht besucht und seinem Sohn das Sekttrinken auch dann verbietet, wenn das Abitur gefeiert werden soll.

Was ist los mit Vater Bronstein? Er ist mit der Ausübung von Selbstjustiz überfordert. Zusammen mit zwei Rentnern hat er einen ehemaligen 'Aufseher' des KZs Neuengamme (Rolf Hoppe) entführt und versucht, ihn in tagelangen verschärften Vernehmungen zu einem Geständnis zu bringen. Mit gebotener Zurückhaltung zeigt der Film, wie der Täter von einst misshandelt und ein wenig gefoltert wird. Abstoßend sind diese Szenen nicht, denn was den Zuschauer überwältigt, ist die große Kunst der Maske (Fredy Arnold) und des Schauspiels (Hoppe). Außerdem: Wer unter diesen Misshandlungen am meisten leidet, das ist Vater Bronstein selbst, der alte Jude. Der Prozedur nicht gewachsen, greift er zum Weinbrand, lässt den Pufferkuchen liegen, fasst sich ans Herz und bricht entseelt neben dem entführten Ex-Aufseher zusammen. Da stürzen helle Tränen aus des Sohnes Augen, wie wild feilt er die Handschellen des Peinigers von Neuengamme auf, obwohl der tote Vater doch die Schlüssel in der Tasche trägt und der Entführte ihn auf diesen glücklichen Umstand ausdrücklich hinweist. Nein! Die Emotion ist stärker als der Verstand. Und deswegen, so die Botschaft des Films, kann die Vergangenheit ‘objektiv’ nicht bewältigt werden.

Jurek Becker ('Jakob, der Lügner') hat seinen Roman unter Verzicht auf ironische Untertöne in eine Drehbuchfassung gebracht, in der Worte und Personen sich gegenseitig dementieren. Wenn man weder den einen noch den anderen zu glauben vermag, dann mag das daran liegen, dass Regie-Altmeister Jerzy Kawalerowicz (70) – 1960 drehte er seinen berühmtesten Film 'Mutter Johanna von den Engeln' – durch eine gradezu verzweifelte Häufung von Schauspieler- und Kamerabewegungen in das weitgehend aktionslos angelegte Kammerspiel hineinzuregieren versuchte. Mit anderen Worten: Der hochverdiente Regisseur war der erste, der dem Bewältigungsmelodram den Glauben verweigerte.

Um den rechten Glauben aber geht es dem Film – um Freund, Feind und Parteilichkeit als Voraussetzung zu gerechten (nicht: objektiv richtigen) Entscheidungen. 'Du sollst mich nicht wie einen Feind behandeln!', mahnt Hans seinen Vater. Doch dieser wird sehr deutlich: 'Du bist mein Feind', beharrt er, denn der Junge hat zwar pflichtgemäß darüber nachgedacht, 'zu wem ich gehöre', aber nicht die Unart aufgegeben, 'objektiv zu sein, statt Parteilichkeit zu zeigen: Zorn auf Lumpen und Mörder'. Beleidigt rauscht Vater Bronstein aus der Kulisse (Abgang hinten rechts).

Nun hätte diese Auseinandersetzung die Möglichkeit geboten, dem Film sein Thema wiederzugeben, denn auch der generationenalte Streit über die Priorität der Organisationsfrage bedarf der Fortführung. Die Dialoge dieses Films sind den Personen jedoch so beliebig zugeschoben, dass Gedankengänge darstellerisch kaum fixiert werden können. Vater Arno, so autoritär er gezeigt und gespielt wird, ist der Erste, der nicht weiß, zu wem er gehört. Er will zum Beispiel kein Jude sein. 'Sie sind eine Erfindung', sagt er, 'und besessen, sich in die Rolle der Juden zu fügen. Sie würden sich wehren, nähme man ihnen diese Rolle weg'.

Kawalerowicz hat diesen Spruch wörtlich genommen und zeigt in einer eingeschobenen Film-in-Film-Szene Komparsen, die in einem Neuengammefilm jüdische Opfer spielen. Jüdische Komparsen spielen wie besessen jüdische Opfer. – Sohn Hans findet das Verfahren unausgewogen: 'Wenn die Opfer von Juden gespielt werden, dann müssen SA- und SS-Leute von ehemaligen SA- und SS-Nazis gespielt werden.' Parteilichkeit als Rollenspiel?

Der Rollen-Jude Bronstein sen. gibt jedoch noch weiteren Anlass, sich mit der Frage zu beschäftigen, wes Freund er eigentlich sei. Auf die naheliegende, von Hans gestellte Frage, warum er denn die Vernehmung des KZ-Schergen und die Ahndung der Verbrechen nicht den zuständigen sozialistischen Organen, nämlich der DDR-Justiz überlasse, antwortet er: 'Weil es keine Gerichte gibt, die wir für anständig halten können.' Sein Sohn gibt daraufhin zweierlei zum besten: 1. 'Die DDR geht mit ehemaligen Nazis hart ins Gericht'. 2. 'Sie ist ein Land, in dem die Gerichte einen Dreck wert sind'. Dann verlassen beide in entgegengesetzten Richtungen das Motiv (Abgang hinten links und hinten rechts).

Damit ist das Thema der antifaschistischen Solidarität erschöpft. Fazit: Es gibt sie nicht. Aber hat Hans in seinen Antrag auf Zulassung zum Studium der Philosophie nicht reinschreiben können: Opfer des Faschismus? Ist er etwa 'zu stolz', diese Rolle anzunehmen? Verzichtet er lieber auf die Zuweisung einer Wohnung? Und schon verliert der Film sich wieder in der sehr fragmentarischen Beschreibung eines Bildungsweges, ohne dass daraus eine Rolle würde.

Günstigstenfalls ließe sich zu 'Bronsteins Kinder' sagen, dass er Protagonisten zeigt, die nicht in der Lage sind, Gedanken zu fassen. Bronsteins Tochter sitzt in der Tat im Irrenhaus. Das antifaschistische Motiv: Entführung, Volksgefängnis, Selbstjustiz – es wird in diesem Trauerspiel bloß angeschlagen und rasch abgetan. Das Verhör des Neuengamme-'Aufsehers' in der brandenburgischen Datscha reduziert sich auf den Spleen psychotischer Rentner, die Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeneration auf Konversation über individuelle Befindlichkeiten. Zeitliche Datierung und örtliche Fixierung dieses Film sind zwei seiner zahlreichen Behauptungen, denen es an jeder Begründung fehlt. Müssen die Rentner zur Selbsthilfe greifen und den Schergen gefangennehmen, weil Ulbricht im Fernsehen eine aktive Friedenspolitik propagiert, weil die dem Wesen des sozialistischen Staates entspreche? Oder schimpft der Sohn seinen Vater einen 'Wichtigtuer', weil Brandt abtreten muss, nachdem ihm ein Spion von der DDR ins Nest gesetzt worden war?

Je abstruser die Bezüge werden, desto wahnhafter gerät die Do-it-yourself-Justiz der drei jüdischen Neuengamme-Opfer. Statt dazu aufgefordert zu werden, politische oder moralische Komplikationen zu bedenken, wohnen wir einem Sadomasospiel bei. Dabei wäre es von brennender Aktualität gewesen, mittelbar Auskünfte etwa über jene Art Notprozess zu erhalten, wie ihn 1947 zwei Antifaschisten in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager einem Stabsrichter gemacht hatten, der mehr als 170 sowjetische Partisanen, Zivilisten und Wehrmachtsdeserteure zum Tode verurteilt hatte. Damals folgte dem Verhör und Geständnis des Stabsrichters konsequenterweise seine Verurteilung und Hinrichtung. 45 Jahre später ist deswegen in Hamburg einer der vermeintlichen Täter wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. – Wie gern hätten wir von 'Bronsteins Kinder' etwas über die Notwendigkeit erfahren, die Antifaschisten dazu trieb, in einem Lager oder in einem Volksgefängnis Mörder zu verurteilen und hinzurichten. Statt dessen erfahren wir etwas vom psychotischen Schub dreier isolierter alter Männer. Ganz ähnlich hat das 1992 die Große Strafkammer 22 des Landgerichts Hamburg gesehen.

Die Logik des Films besagt: Das Treiben der Entführer ist verständlich, denn sie sind Betroffene. Gleichzeitig aber fordert er, dem Treiben der Entführer ein schnellstmögliches Ende zu bereiten. Die eine Hinrichtung barmherzig verhindernde Rolle ist Bronsteins Sohn zugeschoben worden. Umfassend informiert er sich an Hand eines Lexikonartikels über das KZ Neuengamme; der Text wird ein Dutzend Sekunden vor die Kamera gehalten, zu kurz zum Lesen, schade, denn es war die einzige Information. Dann greift Hans zu den Eisenfeilen und beginnt zu sägen, um das Opfer, d.h. den ehemaligen Neuengamme-Täter, zu befreien. Recht so! Hans, der Säger, stellt die verlorengangene Harmonie wieder her, die Emotionen gehen hoch, richtet er sich doch gegen den eigenen Vater, aber da perlen schon die angenehmsten Tonfolgen vom Pianoforte und bestätigen die Richtigkeit seines Handelns.

Was wir in der eindringlichen, hochkünstlerischen Darstellung des Gefangenen Rolf Hoppe sehen, ist das mitleiderheischende Leiden einer geschundenen Kreatur. Was dabei ausagiert wird wird, ist aufkeimende Sympathie mit dem 'Aufseher', der zum Opfer wurde. Was wir nicht sehen, sind die Opfer im KZ Neuengamme; die Komparsen, die uns in der Film-in-Film-Einblendung vorgeführt werden, präsentieren sich wohlgenährt und in frisch gestärkten Schürzen. Ja, was bleibt denn da überhaupt noch an Vergangenheit zu bewältigen, wo es doch nurmehr um Komparsen, Film- und Film-in-Film-Rollen geht? Der Scherge von einst ist gar nicht mehr der Täter, sondern nur noch Opfer. Hans, säg ihn frei! Und schlepp die Vater-Leiche aus der Datscha! Und lieb Deine Martha (Katharina Abt, 'Derrick', 'Die Schwarzwaldklinik', 'Tatort' usw.).

Die Opfer des Faschismus, frühsenile, fette, schwitzende Rentner, torkeln durch Brandenburgs Kiefernwälder, betrunken, einer fixen Idee folgend, die mal eine antifaschistische war. Optisch eine ausgesprochen unappetitliche Angelegenheit. Wie knackig dagegen die Nachkommen! Ein filmlanges Lächeln auf den Lippen nimmt Bronstein-Sohn Hans die Hürden in der Schule (Abitur), vor der Datscha (1,50 m hoher Stakett-Zaun), im Privatleben (Martha) und in der 1973er-Disco am Bahnhof Alexanderplatz (Höhepunkt: die Blue Jeans). Den optischen Sympathien stehen die leerlaufenden, in Ohnmacht und Ausweglosigkeit mündenden, eher depressiven Dialoge gegenüber, durch die sich auch die jugendlichen Helden quälen müssen.

Insgesamt also ein verklemmter Film, ein pseudoantifaschistisches Trauerspiel, ein verkorkster Schlussstrich unter die Bewältigungsversuche der NS-Vergangenheit, aber ein Film für das Landgericht Hamburg und für den Zeitgeist sowieso. Hans, der Säger – wen setzt er als nächsten frei? Mielke? Honecker? Wenns ihm nur ums Menschliche geht, wirds dem schlichten Gemüt nicht gelingen, da Unterschiede zu machen. Nur Mut also!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/1992

Carlos – Der Schakal

(F / D 2010, Regie: Olivier Assayas )

Fakten rockartig abhaken
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Spielfilm, der lückenlos und chronologisch den Lebenslauf von Carlos, dem legendären Terroristen-mit-der-Sonnenbrille, abspult, bräuchte mindestens fünfeinhalb Stunden, und auch dann noch ist Eile geboten. „Carlos – Der Schakal“ braucht …

Ein Spielfilm, der lückenlos und chronologisch den Lebenslauf von Carlos, dem legendären Terroristen-mit-der-Sonnenbrille, abspult, bräuchte mindestens fünfeinhalb Stunden, und auch dann noch ist Eile geboten. „Carlos – Der Schakal“ braucht diese fünfeinhalb Stunden. Als Dreiteiler hat ihn vor einem halben Jahr canal+ gesendet; arte Frankreich ist an der Produktion beteiligt.

Und nun zu Sachsen-Anhalt. Die dortige Investitionsbank hat den 13-Millionen-Film zu einem großen Teil finanziert. Weswegen das Innere des Wiener OPEC-Gebäudes in HALLEMesse aufwändig wieder aufgebaut werden konnte. In Halle also sehen wir die Ölminister versammelt, die von Carlos entführt werden. Die Stadt an der Saale nimmt im Reigen der internationalen Großstädte einen Hauptplatz in diesem Film ein.

Und jetzt, gänzlich ironiefrei, ein Wort zum Film. Nach etwa einer Stunde ist klar, wie er läuft. Fakten, Fakten, Fakten. Abhaken, abhaken, abhaken. Und ab und zu beglaubigen durch eingeschaltete Dokumentaraufnahmen; es war seinerzeit genug übers Fernsehen zu sehen. So weit, so gut. Gut zum Beispiel, dass die vielen Rollen nicht mit den üblichen Verdächtigen besetzt wurden. Gut das gedeckte Licht der Kamera, anti-TV-Spiel vom Feinsten. Immer an der Oberfläche die viel gerühmte Montagetechnik. Weniger gut allerdings die aufdringliche Musik, rockartig, die die action anheizen soll. Und schlimm die durch keine Dokumente belegten Spielfilmsequenzen, die das Drehbuch sich ausgedacht hat. Gewalttäter Carlos weiß in der Beziehung zu Frauen auch nur Gewalt anzuwenden. Vorauszusehen, dass am Ende Carlos den Terror zu seinem Geschäft macht, Businessman auch er, erfolgreicher Auftragskiller.

Der Film wird, wie gesagt, nach sechzig Minuten vorhersehbar. Der wahre Carlos, der seit Mitte der neunziger Jahre lebenslang in Frankreich einsitzt, hat versucht, mit dem Filmregisseur ins Gespräch zu kommen. Vergebens. Regisseur Assayas („Ende August, Anfang September“) beruft sich auf seine eigene Deutungshoheit. Ist wohl okay, aber vielleicht sollten Interessierte eins der ausgewählten Kinos ins Auge fassen, die die Kurzfassung des Films zeigen werden. Dann ist „Carlos – Der Schakal“ nur noch gut drei Stunden lang, „Carlos – Das Ereignis“ (Die Welt), „atemberaubendes Epos“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), hechel, nach Luft ring …

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2010

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Cobra Verde

(D / GH / BR / CO 1987, Regie: Werner Herzog)

Triumph des Willens II
von Dietrich Kuhlbrodt

Der deutsche Jungfilm findet auf seine alten Tage den Anschluss an die Vergangenheit; Werner Herzog an Leni Riefenstahl. 'Cobra Verde' – ein Film von deutscher Herrenart Die pure Willenskraft, die …

Der deutsche Jungfilm findet auf seine alten Tage den Anschluss an die Vergangenheit; Werner Herzog an Leni Riefenstahl. 'Cobra Verde' – ein Film von deutscher Herrenart

Die pure Willenskraft, die aus Kinskis blauen Augen blitzt, bändigt den aufsässigen Negersklaven, der sich der öffentlichen Auspeitschung entziehen möchte. Gehorsam wendet der Delinquent sich um, und nun kann die Strafprozedur ohne weitere Widerstandshandlung vollzogen werden. – Cobra Verde, der zufällig des Wegs gekommen war, hat Partei ergriffen: gegen den Wehrlosen und Entrechteten und für den Ausbeuter und Plantagenbesitzer. Das war in hohem Grade zweckmäßig. Prompt wird Cobra Verde belohnt: mit dem Job eines Sklavenaufsehers, denn ein Herrenmensch erkennt den anderen. Und da Cobra Verde gar nicht Cobra Verde ist, sondern niemand anders als der Klaus Kinski, der hinwiederum nichts anderes darstellen kann denn sich selbst, ruht den lieben langen Film hindurch der Herrenmenschen-Blick auf der damals so hoch im Kurs stehenden Menschenware. Damit es gleich von Anfang an klar ist, hat Regisseur Werner Herzog dem Augenpaar des weißen Mannes eine Nahaufnahme gegönnt. Die Neger kommen dagegen als Masse ins Bild, – als messbare Größe. Dafür braucht man Totalen, und dann: antreten und abzählen. Jawollja, melde gehorsamst, 750 Amazonen stehen bereit.

Das gibt die allerschönste Appellästhetik: Massenornamente der dekorativen Art. Sehr flächig windet sich eine Negerkette durch den ghanaischen Busch, der Kamera scheint die Schärfentiefe verlorengegangen zu sein. Aus allzu sicherer Distanz holt der Zoom sich einen Ausschnitt – und vermittelt die Gewissheit, dass Masse Masse bleibt, und dass man den Schwarzen nicht zu nahekommt. Keiner braucht Angst zu haben, dass er sich die Finger schmutzig machen muss. Vielleicht färben sie ja doch ab, die Eingeborenen. Die Total-Einstellungen also halten die fremde Rasse auf Distanz, grade dadurch wird sie als Gattung, Ware, Menschenmaterial kalkulierbar und beherrschbar – sowohl ökonomisch wie ästhetisch.

750 Neger aneinandergekettet? Die Ware kommt aufs nächste Schiff. 750 Negerinnen militärisch ausgebildet? Die Amazoneneinheit kommt zum Einsatz. 750 StatistInnen vor der Kamera? Herzog macht damit ästhetisch mobil. Von der Bodybuilding-Show bis zur Leistungsschau der Kampfsportgruppen werden immer und immer wieder Massenrituale zelebriert. Neger auf dem Marsch zur Verladerampe: eine Freude, das zu sehen; die prächtigen Leiber sind mit Öl eingerieben oder mindestens mit Wasser bestäubt, die Muskeln schwellen, mein Gott was für bodies. Und die Brüste der Amazonen! Da langt die Kamera kräftig hin und mag gar nicht mehr loslassen. Jei, so haben sich Opa und Uropa früher die Fotos aus dem Urwald angeguckt, weils dann erlaubt war, sich ganz offen, studienhalber und ästhetischerweise, dran aufzugeilen.

Herrenmenschen und Alte-Herren-Witze. Kinski, 60 Jahre alt, greift sich während der Aufnahmen ein Negerweib, hält es von hinten an den Ellbogen und schiebt es dem Standfotografen zu, Brust raus, mein Kind, ist das ein Souvenirfoto! Die Szene fehlt leider im Film, wurde aber in einem flankierenden Begleit- und Publicity-Film zu 'Cobra Verde' neulich im Fernsehen gesendet. Hat da der Kinski eine Freude dran, sträubt sie sich doch, die Wilde! Also den Griff noch fester, oder lieber doch die nächste. Also sehen wir den Zugriff des deutschen Stars noch mal. Wehe wird das Foto nichts. Kinski guckt drohend ins Objektiv.

Herzog brauchte durchaus Gewalt, um sein Massenszenario bewältigen zu können, zum Beispiel 'acht Karateleute, um die Afrikanerinnen ein bisschen im Zaun zu halten'. Und: 'Wir mus'ten auf die Frauen einschlagen, um den Druck abzuschwächen'. Abenteuerlich, echt. Der Begleitfilm (Steff Grubers 'Herzog in Afrika') ist der wahre, der bessere. – In 'Cobra Verde' sieht das anders aus. Da lassen sich die Amazonen den Söldner Kinski gefallen, wie er brüllend, schreiend und schnauzend mit ihnen exerziert. Yeah! 'I wanna be your drill instructor!' Denn zur Mobilmachungsästhetik gehört es, dass individuelle Gewalt nicht geschieht. Der Film ist auf dem Stand der Masseneuphorien von 1914. Oder 1934. 'Die Massenszenarien auf den Appellplätzen des Dritten Reichs sind regelrecht zum politischen Markenzeichen des deutschen Faschismus als Ästhetisierung von Politik geworden', schreibt Martin Loiperdinger in seinem neuen Buch 'Rituale der Mobilmachung' über den Parteitagsfilm 'Triumph des Willens' von Leni Riefenstahl. Es empfiehlt sich, das Buch (erschienen bei Leske + Budrich in Leverkusen) wegen seiner unvermuteten Aktualität zu lesen. Die politische Kulturforschung bringt es an den Tag, dass Filme wie 'Cobra Verde' in einer ganz anderen Tradition stehen, als bisher gemutmaßt. War man bisher davon ausgegangen, dass unsere fortschrittlichen Filmemacher daran arbeiten, über die Lücke, die der Faschismus gerissen hat, zurück den Anschluss an die ästhetischen Errungenschaften der Weimarer Zeit zu gewinnen, so entdecken wir heute mit Bestürzung, dass unsere guten Freunde dabei sind, ästhetisches Kapital aus der Lücken-Zeit zu schlagen.

Lieber Werner Herzog, Du hast – eine Generation danach – den 'Triumph des Willens II' gemacht. Die Riefenstahl wird möglicherweise damit nicht einverstanden sein, denn in wessen Vollmacht vertreibt Herzog seinen Film, da sie doch 1934 für den Reichsparteitagsfilm als Sonderbevollmächtigte der Reichsleitung der NSDAP eingesetzt gewesen war. Außerdem wird es immer schwieriger, 'Triumph des Willens I' zu sehen, weil sie als notorische Prozessgretel missliebige Aufführungen verhindert. So zuletzt im Münchner Filmmuseum. Dort brachte sie damit auch einen Vortrag von Martin Loiperdinger zu Fall. Sie sollte sich ihre juristischen Strategien jedoch noch einmal überlegen. Denn Objekt der aktuellen Kulturforschung ist sie nur einerseits. Auf der anderen Seite ist sie offenbar zur Traditionsfigur des Jungen Deutschen Films aufgestiegen. Endlich. Und wir müssen uns neu besinnen, wer Freund ist und wer Feind.

Herzog, der sich die Sache der Außenseiter, der Entrechteten und Ausgebeuteten zu seiner gemacht hatte – zuletzt die Sache der Aborigines in 'Wo die grünen Ameisen träumen', – er gibt in 'Cobra Verde' Parolen aus wie: 'Sklaverei ist eine Eigenschaft des menschlichen Herzens', und damit stellt sich die bange Frage, was eigentlich Gegenstand seines ersten, bald zwanzig Jahre alten, von kaum einem gesehenen Dokumentarfilms 'Die fliegenden Ärzte von Ostafrika' gewesen sein mag.

Das 1987 nach Westafrika eingeflogene Filmteam hat es sich jedenfalls zur Aufgabe gemacht, den Negern beizubringen, was faschistische Ordnung ist, bzw. den Amazonen die Hammelbeine geradezuziehen: Wieder geht es um den Kult, um die Zeremonien und Rituale einer Privatarmee. Waren es auf dem Parteitag 1934 SA und SS, so marschiert 1987 die paramilitärische Truppe des Söldners Kinski auf: die 750 Frau starke Einheit der Amazonen. Ebenso wie bei der Riefenstahl ist Aufstellung, Linie, Dekor und Ornament Inhalt der ästhetischen Veranstaltung. Die Geschichte von Cobra Verde ist ganz in den Hintergrund getreten. Der dramatische Ablauf ist ebenso versiegt wie die Logik eines Gedankens. Es gibt nichts nachzuvollziehen, das die Freiheit von Zustimmung oder Ablehnung ließe. Es gibt nur noch affirmative Meditation und harmonische Einbindung in eine Gemeinschaft, die keine Gegensätze kennt, kein Wenn und kein Aber.

Ich weiß es, alle Vergleiche hinken, also auch dieser. Zum Beispiel hört man keine Marschmusik, sondern Popol Vuh, heutzutage eindeutig stabilisierender. Vor allem aber ist am Riefenstahl-Vergleich falsch, dass er die entscheidende Weiterentwicklung durch den Herzog-Film unterschlägt. Denn während im 'Triumph des Willens I' die Aufmarschrituale Selbstdarstellungsszenario und Eigenstilisierung waren, ist die Amazonenästhetik in 'Cobra Verde' Ideologieimport aus Herzogs Heimat. Und harte Arbeit war es, den Negern zu sagen, wo’s lang geht. Gisela Storch musste sich die Kostüme einfallen lassen, und ein Italiener namens Benito mußte die Negerinnen angeblich monatelang drillen. Das entsprach mitnichten den Bedürfnissen der Betroffenen.

Im Fernsehfilm über die Dreharbeit erfahren wir, daß es 50 Grad heiß war und den Komparsen der Sinn des Films verborgen geblieben war. Sie spielten für die Europäer. Für Geld. Und mussten das mit gewerkschaftlichen Mitteln erstreiken. – Umso infamer ist die Ausbeutung dieser Menschen durch den Film. Mit Kinskis Euro-Blick gesehen, erscheinen sie ebenso herabgewürdigt und verkrüppelt, wie die wahren Krüppel, die in Herzogs Film wie die Tiere herumlaufen, aus sicherer Distanz verfolgt von der Zoom-Kamera. Sich seinen Spaß machen mit Gesinde, Pack und Bettel: Herrenart.

Dieser Text erschien zuerst in Konkret 01/1988

Die Affäre Aldo Moro

(IT 1986, Regie: Giuseppe Ferrara)

Das Gerede eines Films
von Dietrich Kuhlbrodt

Aldo Moro, Parteipräsident der Democrazia Christiana, wird am 16. März 1978 von den Roten Brigaden entführt. Am 9. Mai wird er erschossen aufgefunden – in einer Seitenstraße Roms, die die …

Aldo Moro, Parteipräsident der Democrazia Christiana, wird am 16. März 1978 von den Roten Brigaden entführt. Am 9. Mai wird er erschossen aufgefunden – in einer Seitenstraße Roms, die die Zentralen der kommunistischen und christ-demokratischen Parteien verbindet. Der Tod Moros beendet den Versuch eines historischen Kompromisses zwischen diesen beiden Parteien. Zehn Jahre später hat Giuseppe Ferrara über diese 55 Tage andauernde Entführung einen Film gedreht, einen dramatischen Krimi, der Authentisches und Erfundenes vermengt und den Politiker Moro zum einsamen, gütigen Menschen macht, der von den wilden, instrumentalisierten Brigadisten gefangengehalten wird. Eine zugerichtete Geschichte, die niemandem weh tut

Ein journalistisches Spektakel. Verzweifelt klopft der Eingeschlossene an die Mauern um ihn her, und draußen jagen die Reporter nach Nachrichten. Gelingt die Bergungsaktion? Wird alles getan, um den Verunglückten zu retten? Es wird nicht alles getan. Das gibt übergenug Anlass, Statements einzuholen und Kommentare zu verfertigen, auch ist eine Sondersendung im Fernsehen angezeigt. Verschütt gegangen ist allerdings nicht die Schicht im Bergwerk Borken, sondern Parteipräsident Moro im Volksgefängnis Rom. Ein Medienspektakel. Der Film 'Die Affäre Aldo Moro' ist in vorderster Linie dabei, die ganze Zeit, vom 1. bis zum 55. Tag der Einkerkerung. Und er schlägt alle Konkurrenten. Denn es gelingt ihm, in die Zelle vorzudringen, zu Moro, dem Chef der Christdemokraten, und zu den Brigadisten, die ihn verhören. Die Personen kommen ins Bild und die wesentlichen Sätze ins Mikrofon.

Zwar hat der Film, neun Jahre danach, die historischen Szenen nachgestellt und mit Akribie das berühmte Foto, das Moro unter der Fahne der Brigate Rosse zeigt, in eine Spielfilmhandlung überführt. Aber der Einwand zählt nicht. Die Simulation ist so perfekt, daß sie als solche nicht mehr wahrnehmbar ist. Hektisch folgen die Einstellungen aufeinander, so kurz wie möglich, ein Satz hier, ein Satz dort, und die Stimme des Reporters überschlägt sich; dazwischen Videomaterial, Ausschnitte aus TV-Nachrichtensendungen; ob authentisch oder nicht, ist ohne Belang. Denn die journalistische Perspektive des Films macht aus Spielszenen und Dokumenten das Gleiche: Nachrichtenmaterial. 'Die Affäre Aldo Moro' hat den Blick von Außen. Was lässt sich verwerten?

Verwerten möchte der Film, guter Absicht voll, das recherchierte und inszenierte Bild- und Ton-Material, um einige interessante Thesen zum Hintergrund des Falls Moro zu belegen. Da dies jedoch nur verbal geschieht und Talking Heads nicht eben attraktiv sind, geht die Aufmerksamkeit vor allem dahin, wo den Sinnen etwas geboten wird. Zum Beispiel zur Musik (Pino Donaggio), die immer wieder dramatisch eingreift (gern Streicher und Schlagzeug), aber zu nichts anderem als zu den letzten Dingen führt, die etwa zum Sinnieren über 'Treue' und 'Verrat' Anlass geben. Ja, Aldo Moro sinnt in seiner Zelle genau darüber nach, – er, der seinen Christdemokraten treu war, die ihn nun in seiner Zelle sitzenlassen und verraten. Gespielt wird er von dem großen Schauspieler Gian Maria Volonté, und das ist die Attraktion des Films, die allerdings leider die redlichen, aber blassen intellektuellen Bemühungen des Regisseurs, Thesen zu erarbeiten, in den Schatten stellt. Volonté macht den Politiker Moro zum Menschen, zum Leidenden, zum Opfer – und alle anderen zu Tätern, zu Wölfen. Das Märchen 'Der Jäger und die Wölfe' hatte er noch rechtzeitig vor der Entführung seinem kleinen herzigen Enkel vorgetragen. So viel auch Politiker in diesem Film herumrennen, agieren und konferieren, Volonté spricht in der Rolle des Moro, des gütigen, sympathischen, menschlichen, eine andere Sprache: die Sprache des Herzens. Es ist die Hauptrolle, und Volonté bekam dafür auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin einen Silbernen Bären als bester Darsteller.

Die Schauspielkunst des Moro-Darstellers ist eindrucksvoll, aber eindimensional und entpolitisierend. Sicherlich ist es der nicht zu übersehenden Naivität des Regisseurs Giuseppe Ferrara zu verdanken, seinen Film mit dem in Italien sehr bekannten Namen Volontés zu schmücken. Nicht nur Cineasten ist der Schauspieler aus den edelsten der italienischen Filme bekannt. Jedes italienische Kind ist mit ihm aus unzähligen Fernsehfilmen vertraut. Freilich kennen wir hier nicht das spezifisch italienische Genre des politischen Fernsehfilms, der den authentischen Hintergrund mit TV-Stars bevölkert. Und solange wir hier auf den heimischen Monitoren keinen Spielfilm über die Affäre Uwe Barschel sehen können, sollten wir die Plakativitäten und Sentimentalitäten der 'Affäre Aldo Moro' nicht scheuen, um etwas über den politischen Hintergrund des Falles zu erfahren.

Gesagt wird dazu vieles, vornehmlich andeutungsweise. 'Die Affäre Aldo Moro' ist ein Dialogfilm. Laut und vernehmlich lassen sich lediglich die Brigadisten hören, protokollgerecht reden sie ihren Gefangenen mit 'Herr Präsident' an, schätzungsweise hundertmal im Film. Nach dem uns gut bekannten Muster 'Um 10.40 wird zurückgschossen' lassen sie Sprüche ab wie 'Wir sind im Krieg, Herr Präsident! Sie sind im Volksgefängnis! Wir haben mit dem Angriff auf den Staat begonnen!' Aber sie sind keine Menschen, auch wenn dem einen die Stimme einmal zittert, sondern nützliche Idioten und nur Vordergrund, denn sie spielen das Spiel der eher anonymen Mächte, die mit ihrer Hilfe den unbequemen Politiker Moro loswerden wollen. Die Brigadisten arbeiten nämlich dem ISM in die Hand. Dem ISM? Wir erfahren in Synchrondeutsch, dass es sich dabei um den Internationalismus der multinationalen Konzerne handelt. Und dass die Roten Brigaden, nur den bewaffneten Kampf im Auge, den politischen Hintergrund nicht zu durchschauen vermochten.

22 Brigadisten sitzen nach der Hinrichtung Moros in lebenslanger Haft, und sie entrüsten sich über die Aussage des Films. Regisseur Ferrara hat sich denn auch in einem Interview mit Franca Magnani, jetzt im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, beeilt, den Verurteilten zu versichern, daß sie nicht instrumentalisiert worden seien – mit der für ihn und seinen Film bezeichnenden formalen Begründung: 'weil sie autonom sind'. Die absurde Exkulpation ändert jedoch nichts an der in Frageform vorgebrachten Behauptung des Films – und dafür liefert er einige Indizien – , dass den unterschiedlichsten politischen Kräften die Rückkehr Moros aus der Brigadistenhaft unerwünscht war. Weswegen der Dialog mit den Terroristen verweigert, ihre Forderungen ignoriert und der Tod des Häftlings in Kauf genommen wurde. Also wer? Die Roten Brigaden brauchen die Hinrichtung explizit – zwecks Stabilisierung der ins Wanken geratenen 'Kolonnen' (synchrondeutsch); immerhin ist dies nur eine Mehrheitsentscheidung, gefällt während hochdramatisch die Polizei bereits den konspirativen Treff umstellt hat, viel Blaulicht flackert und das Käsebrötchen ungegessen bleibt. Auch Moro verschmäht das Weißbrot, das gleich drauf groß ins Bild kommt, denn ihn schmerzt der Verrat seiner christdemokratischen Parteigenossen: 'Macht verliert Berechtigung, wenn sie unmenschlich wird', erkennt er. Aber wir haben noch mehr: die KPI, die Nato, CIA, Pentagon, ISM nicht zu vergessen, Bonn, Zion und den Teufel.

Um mit dem letzten anzufangen, Moro selbst kommt es vor, 'als ob der Papst selbst Teil eines unergründlichen teuflischen Plans ist', denn Paul VI. entschied sich angesichts der Alternative von Staatsräson und Menschlichkeit dafür, gegenüber den Forderungen der Terroristen standhaft zu bleiben. Die 'einfache und bedingungslose' Freilassung Moros verlangte seine Heiligkeit von den Roten Brigaden. Damit besiegelte er das Schicksal des Opfers. Nun zu Zion. Auch hier legt der Film die argumentative Spekulation raffinierterweise in den Mund des verstorbenen Moro (wie er auch sonst eigene Erklärungen und Statements gern von Dritten zitieren lässt: sie werden dadurch zu journalistisch verwertbarem Material). Moro also spekuliert in seiner Zelle, dass die von ihm eingeleitete pro-arabische Öffnung beanstandet wird, weil dadurch die Nato sowie Israel nicht zu den gewünschten 'Stützpunkten', nämlich den 'Landungsplätzen' in Sardinien kamen; wie sollten die Natopartner daher rasch den Israelis zu Hilfe eilen können? Moro bestätigt damit indirekt die Kriegstheorie der Roten Brigaden, die zwar nicht ausdrücklich von Israel sprechen, aber mindestens bei uns wird der bekannte Satz aktiviert 'Die Juden haben Deutschland den Krieg erklärt', wenn der Brigadist im Film plakativ seine Motivation mit der Feststellung erläutert: 'Das Kapital hat der Arbeiterklasse den Krieg erklärt'.

Von der Rolle Bonns und seiner Geheimdienste hätten wir in diesem Film gern etwas Genaueres gehört. Der Film belässt es beim name dropping und vagen Andeutungen. Sind nicht in der Bundesrepublik zuvor zwei Häftlinge aus Gründen der Staatsräson in ihren Zellen zu Tod gekommen – so wie Moro aus den nämlichen Gründen dem gleichen Schicksal überlassen wird? 'Aus den gleichen Gründen', sagt der Brigadist, 'wie Baader und Meinhof sich in ihren Zellen in Stammheim umgebracht haben, hätten wir Sie, Herr Präsident, zum Selbstmord zwingen können'. Aber die Roten Brigaden ziehen das förmliche Verfahren vor und vollstrecken ein Urteil des 'Volksgerichtshofes'.

Weitere konspirative Macht der Verschwörung, der Aldo Moro zum Opfer fallen wird: Pentagon-Nato. Sie wollen mit dem DC-Chef denjenigen wegräumen, der die Partei politisch nach links geöffnet hat und die KPI an der Regierung beteiligen wird. Und Berlinguer selbst, staatsbewusster als der Staat, die Realisierung des compromesso storico vor Augen, formuliert die bekannten Berührungsängste: kein Kompromiss mit den Terroristen, 'wir lassen uns von den Roten Brigaden nicht einschüchtern'.

Im Gerede dieses Films verdüstert sich der Hintergrund der Aldo-Moro-Affäre, die zu erhellen doch Anliegen des Films gewesen war. Der Vorsatz, Reportage und Faktensammlung sein zu wollen, steht dem von vornherein entgegen. Ihren Ausdruck finden auch die Roten Brigadisten nicht. Sie sind zu Zitatenträgern und Stichwortgebern degradiert, verbiesterte Intellektuelle neben dem Mann des Herzens, Held und Opfer dieses Films. Ja, Moro will eine Bibel in der Zelle haben und eine Audiokassette, auf der die heimatliche Messe aufgenommen ist. Genau das bringt die bunte Faktenschau heraus, und das ist wenig, aber etwas fürs Gemüt und einen großen Filmverleih.

Einmal rückt der Film ein Filmplakat ins Bild: Bertoluccis 'Letzten Tango'. Ein fataler Vergleich für den Film 'Die Affäre Aldo Moro' . Denn Bertolucci hat in dem Film, der dem 'Letzten Tango' folgte, den historischen Kompromiss zwischen dem Partito Comunista Italiano und der Democrazia Cristiana zum Gegenstand eines Großwerks gemacht und ihm Form und Ausdruck gegeben: in 'Novecento', gedreht in den Jahren, in denen Aldo Moro Politik machte, 1974 – 1976. 1978 war Aldo Moro tot. In Ferraras Film wird er jetzt auch politisch erledigt. Der Papst selbst hält die Totenmesse, und uns werden zwei unterhaltsame und besinnliche Stunden erlaubt: Wie war das denn noch, seinerzeit vor einem Jahrzehnt? Jaja, was 1978 Kraft, Kampf und Stärke war, ist jetzt journalistisch sauber zugerichtet, und es tut keinem mehr weh.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/1988

Anonyma – Eine Frau in Berlin

(D 2007, Regie: Max Färberböck)

Blicke wandern hin und her
von Dietrich Kuhlbrodt

Verfilmt ist das Buch einer Zeitzeugin. Sie ist nur Eingeweihten namentlich bekannt. April 1945. Berlin. Der „Schändungsbetrieb“ der Roten Armee. Ein Vergewaltiger reißt einer Frau die Kiefer auseinander und spuckt …

Verfilmt ist das Buch einer Zeitzeugin. Sie ist nur Eingeweihten namentlich bekannt. April 1945. Berlin. Der „Schändungsbetrieb“ der Roten Armee. Ein Vergewaltiger reißt einer Frau die Kiefer auseinander und spuckt ihr in den Mund. Großaufnahme. Anonyma verlässt die Opferrolle und prostituiert sich freiwillig. Sie findet einen Beschützer. Andere tun es ihr nach. Major Andrej (Evgeny Sidikhin) tut Frauenproteste ab: „Die paar Minuten“. Dann aber spielt er Klavier bei den Frauen. Schubert. Die Soldatenklientel feiert rauschende Feste im Frauenhaus. Wodka. Krakowiak. Und sie sind freizügig. „Die Russen spielen gerne Weihnachtsmann“. Man muss sie verstehen. „Wenn die Russen das mit uns tun, was wir ihnen angetan haben, dann gibt es in Bälde keine Deutschen mehr“. – „In Bälde?“, fragt Irm Hermann zurück, „so was sagt doch keiner“. Der Major entpuppt sich als feiner gebildeter Mann. Er und Anonyma verstehen sich. Eine Beziehung. Anonyma: „Ich möchte mich bedanken, dass ich Sie kennenlernen durfte“. Fazit: „Wir Frauen sind jetzt auf Lebenszeit gestempelt, aber für den Moment fühl ich mich katzenwohl“. Deutsche Frauen haben sich dank der Roten Armee emanzipiert. Ihre Männer, zurück aus Sibirien, versagen (Selbstmord, Tobsucht). Alles gut? Nein. „Das Unglück hat die größere Fantasie“: Stalin.

Das Buch ist frei von Larmoyanz, kein Opfer-Pathos, aber sachlich kühl, schnoddrig, – rühmt Filmproduzent Günter Rohrbach. Doch der Film trifft diesen Ton nicht. Im Gegenteil. Der Schnitt ist getragen, bedeutungsschwer, pathetisch. Er legt Pausen ein zwischen den Sätzen, dass Blicke wandern, hin und her. Auf Fragen folgt Schweigen. Aus dem schnodderigen Zeitzeugenbericht wird das Weihespiel von Opferfrauen. Eine Schnittkatastrophe, aber immerhin die Länge für einen ZDF-Zweiteiler. Und das ist das zweite Problem. Die Darstellerinnen agieren wie in einem TV-Spiel, die russischen Schauspieler wie auf der Bühne. In einem Film, der mit gefühlter halber Geschwindigkeit projiziert wird. Verloren geht dabei der beeindruckende authentische Touch des Szenenbilds (Uli Hanisch). Verloren hat auch die Schriftstellerin Anonyma gegen die Schnittmeisterin Ewa J. Lind.

Es ist vorauszusehen, dass die Rezeption des Films wieder Opfer (deutsche Frauen) und Täter (Sowjets) sortiert. Das Presseheft steuert in diese Richtung. Es druckt die UN-Resolution von 2008 ab, die sexuelle Gewalt gegen Zivilpersonen verurteilt. In Ordnung das. Afrika heute! Aber was soll das beweisen? Dass die Rote Armee sich vor sechzig Jahren eines Verstoßes gegen den Beschluss des Sicherheitsrates von 2008 schuldig gemacht hat? Und: kommen die Milizen von heute aus einem Land, das von uns verbrecherisch angegriffen worden war und 26 Millionen Tote (Opfer!) zu beklagen hatte? Nochmal: so, wie der Film geworden ist und so, wie er wahrgenommen werden wird, contrakariert er das, was das Buch sagen wollte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2008

Right at Your Door

(USA 2006, Regie: Chris Gorak)

Den Tod über die Türschwelle tragen
von Sven Jachmann

1973 ließ George A. Romero in „The Crazies' eine amerikanische Kleinstadt durch bakteriologisch verseuchtes Trinkwasser dem Wahnsinn verfallen und nutzte dieses Setting für eine Beschreibung des rücksichtslosen Vorgehens des Militärs …

1973 ließ George A. Romero in „The Crazies' eine amerikanische Kleinstadt durch bakteriologisch verseuchtes Trinkwasser dem Wahnsinn verfallen und nutzte dieses Setting für eine Beschreibung des rücksichtslosen Vorgehens des Militärs gegen die Bevölkerung. Die Gefahr einer Erosion der bestehenden Ordnung manifestierte sich nicht mehr, wie noch in den Science-Fiction-Produktionen der 60er Jahre, in Gestalt eines äußeren Feindes, dem es kollektiv zu Leibe zu rücken galt, sondern nistete sich in den eigenen Reihen ein, es wuchs ein Unbehagen ganz irdischer Natur. Dies war nicht zuletzt auch Resultat einer Skepsis an der Integrität der Regierungsvertreter, wie sie sich mit Watergate zunehmend auch in den Produktionen in und rund um Hollywood niederschlug und die düsteren Zukunftsprognosen direkt in die Gegenwart verankerte.

In seinem Debüt „Right at Your Door' greift Regisseur Chris Gorak dieses Motiv, die selbstverschuldete Apokalypse, auf, verlegt es in die Suburbs von Los Angeles unter den besonderen Vorzeichen einer von 9/11 traumatisierten Gesellschaft. Dabei fallen die Grenzen zwischen dystopischer Science Fiction und sozialkritischem Katastrophenfilm relativ fließend aus.

In den eine permanente Furcht suggerierenden Bildern der Handkamera wird die Geschichte von Brad (Rory Cochrane) und Lexi (Mary McGormack) erzählt, deren Alltag von der plötzlichen Meldung mehrerer Explosionen von Bomben in der Innenstadt und ihrer näheren Umgebung erschüttert wird. Hier konzentriert sich der Film zunächst einzig auf die Figur Brads, seinen Unwillen, die Gefahr zu realisieren und seine fruchtlose Versuche, Lexi, die sich mitten im Zentrum der Detonationen befindet, erst via Telefon zu kontaktieren und dann mit dem Auto aufzusuchen. Als die Meldung herausgegeben wird, dass die Bomben mit einem unbekannten, lebensgefährlichen Giftgas angereichert sind, beginnt er sich zusammen mit seinem Nachbarn Alvaro (Tony Perez) im Haus zu verbarrikadieren und es hermetisch abzusichern. Plötzlich taucht Lexi auf, von giftiger Asche übersät, doch aus Angst infiziert zu werden verweigert Brad ihr den Einlass. Während das Militär mit rigoroser Härte zur Jagd auf die verseuchten Opfer ansetzt, muss er hilflos mitansehen, wie Lexis Sterbeprozess fortschreitet, nicht ahnend, dass sein eigener Tod längst besiegelt ist.

Mit 9/11 wurde eine Verwundbarkeit der inneren Sicherheit dokumentiert, die den bisher bloß abstrakt gewähnten massenhaft todbringenden Wahn terroristischer Attentate direkt ins Herz der Urbanität katapultierte. Gorak macht sich diese Voraussetzung insofern zu Nutze, indem er sie zur Grundlage seiner Inszenierung erhebt, wenn er die Katastrophe im Kleinen erfahrbar werden lässt und somit den klassischen Topos des Katastrophenfilms revitalisiert (denn im Gegensatz etwa zu „The Day after Tomorrow' bleibt die Perspektive einzig auf die beiden Protagonisten beschränkt). Bilder einer Massenpanik bleiben aus, lediglich die Rauchschwaden über der Skyline und der Ascheregen zeugen von der Authentizität der Gefahr. Über die Hintergründe und Motivationen der Anschläge gibt es keine Erklärung. Brads Kontakt zur Außenwelt seines vermeintlichen Refugiums erfolgt einzig über das Radio. Die dort verbreiteten Informationen beschränken sich lediglich auf Instruktionen zur Sicherheitsvorkehrung. Auf diese Weise berührt der Film die Grenzen zur dystopischen Science Fiction, denn durch diese Undurchschaubarkeit erweisen sich die Sicherheitskräfte selbst als omnipotente Gefahr, und die Geschichte gerinnt zur kritischen Schilderung der politischen Willkür zur Herrschaftsstabilisierung im absoluten Inferno, der auf der Mikroebene einzig mit Fügung zu begegnen verbleibt. Auch wenn Brads Angst vor einer Infizierung Lexi zur Aussätzigen stempelt, also die sozialdarwinistischen Mechanismen des Überlebenskampfes im Ausnahmezustand zutage treten, problematisiert der Film vielmehr das Verhältnis von struktureller All- und individueller Ohnmacht im Antlitz des Ausnahmezustandes.

'Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien' lautet das berühmte Diktum Niklas Luhmanns und es gewinnt spätestens zum Schluss an grimmiger Doppeldeutigkeit: Trotz all der penibel befolgten Sicherheitsvorkehrungen ist Brads Haus hoffnungslos vom Erreger befallen und wird – mit ihm als Überlebenden – sogleich chemisch entgiftet, wohingegen Lexi eine geringe Überlebenschance eingeräumt werden kann. Es ist also nicht nur der – notgedrungen – selektive mediale Zugriff, der den Blick auf die Realität präformiert, sondern auch der Glaube an die Wahrhaftigkeit der dargebotenen Informationen, der sich in letzter Instanz gegen den Rezipienten selbst richten kann und im Falle Brads, nach bestem Wissen und Gewissen handelnd, zum Selbstbegräbnis führt. So erfasst bereits der Titel „Right at Your Door' alle Elemente der latenten Zerstörung aller individuellen Sicherheiten: Weder das Kollektiv noch die zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht einmal das Versprechen der Intimität, der eigene Wohnraum, bieten Hoffnung zum Überleben.

Dieser Text erschien zuerst in einer Kurzfassung in: Konkret 02/2008

Aktion Mutante

(ESP 1993, Regie: Alex de la Iglesia)

Gegen das Schöne
von Sven Jachmann

Die Welt der Zukunft in „Aktion Mutante' ist trennscharf in zwei Klassen aufgespalten: Die Herrschenden gebieten über den Rest. Das ist nicht so unwichtig, wenn man bedenkt, dass sich die …

Die Welt der Zukunft in „Aktion Mutante' ist trennscharf in zwei Klassen aufgespalten: Die Herrschenden gebieten über den Rest. Das ist nicht so unwichtig, wenn man bedenkt, dass sich die gleichnamige Terroristengruppe unter der Schirmherrschaft des charismatischen Ramons einzig gegen das Primat der Schönheit und Sauberkeit der Vergnügungssüchtigen auflehnt. Mit der Entführung der Industriellentochter Patricia mitten auf ihrer Hochzeit verfolgt sie jedoch weniger die Statuierung eines gesellschaftspolitisches Statements, sondern vielmehr den schnellen Pimp der eigenen Kassen. Nachdem jedoch Ramons wahre Absichten, alles Geld für sich einzustreichen, enttarnt sind (und auch die Entführung selbst nicht gerade vom Glück für den Gruppenbestand gekrönt war), verbleiben nach der Bruchlandung auf einem wüstenartigen Rohstoffplaneten gerade mal zwei Kontrahenten, die aus unterschiedlichen Gründen den Weg zum Ort der Geldübergabe antreten: Ramon, den das Geld lockt und Alex, der sich an Ramon rächen will und darüber hinaus unsterblich in Patricia verliebt ist. Der Weg zum Finale ist gesäumt von blinden Wüstenbewohnern, verrückten Minenarbeitern und fettleibigen Redneckfamilien.

Klingt das zu sachlich?

„Aktion Mutante' ist das schwarzhumorige (und von Pedro Almodóvar höchstselbst produzierte) Debüt-Reminiszenzen-Patchwork Alex de la Iglesias, das um keine Schweinerei, keinen wahnwitzigen Einfall verlegen ist. „Robocop', „Star Wars', „Evil Dead 2', „Monty Python and the Holy Grail', „Texas Chainsaw Massacre'; die Plünderung der Filmgeschichte kennt keine Grenzen und wird injiziert in das Gerüst einer Geschichte, die nicht so sehr an ihren ohnehin schwer durchschaubaren Charakteren interessiert ist, sondern eher im Exzess der Absurdität ihr Heil sucht irgendwo zwischen Satire, Persiflage, Groteske, Parodie, letztlich gar in der Burleske, jedenfalls in den humoristischen Elementen. Das macht aus den Figuren Typen, deren Taten bloß vom übergeordneten Ziel motiviert sind (Ramon will Geld, Patricia will Ramon, Alex will Ramon und Patricia, die Planetenbevölkerung will Patricia, ihr Vater will Zerstörung), aber diese Abwesenheit von Empathie steuert denn auch die Richtung des anarchischen Humors. Typen kann nur schwer inkonsistentes Handeln bescheinigt werden, so lange es nicht ihre ursprünglichen Absichten antastet. Ausgleichend bleibt genügend Raum, um die Bandbreite an lustigen Szenarien zu erproben, ohne Gefahr zu laufen, den Figuren zu drastisches Leid anzutun, so dass das Sicherheitsempfinden des Zuschauers nicht durch plötzlich auftretendes Mitleid gestört wird. Sicher, das ist eine Binsenweisheit der Komik, aber Iglesia entgeht der möglichen Monotonie durch eine Unverbindlichkeit der humoristischen Essenzen: Da finden sich relativ unvermittelt satirisch gezeichnete Nachrichtenverlesungen, die von barbusigen Werbe-Bunny-Häschen begleitet werden, neben grotesken Folterungen, in denen ein cholerischer Redneckjunge seine Wut über seinen Kinderstatus ritzend und salzend am gefesselten Ramon auslässt, während sich der Rest der Familie versuchsweise an Patricia vergeht, weil es auf diesem Planeten nun mal keine Frauen gibt. Der Gestus, einfach jede Idee mal in den Raum zu werfen, ohne Rücksicht auf narrative Stränge oder guten Geschmack nehmen zu müssen, atmet fast schon etwas vom Punk-Geist, das Thema sowieso, und das ist wohl auch diese Art Klammer, die das scheinbar Disparate eint: Die Wünsche der Deklassierten speisen sich zwar aus dem Gefühl des Mangels, würden sich aber gleichzeitig mit einem Versprechen auf Teilhabe am Hedonismus abspeisen lassen.

Warum sich der Zorn der Aktion Mutante nun an den Schönen entlädt, hat wohl eher mit der Sublimierung ihres Opferstatus` zu tun. Jedenfalls machen die Hochzeitsgäste in ihrem dekadenten Taumel nicht gerade einen exklusierenden Eindruck gegenüber den schwer als inkognito durchgehenden Terroristen. Die Grundlage der Organisation ist nicht viel mehr als eine ziellosen Destruktionsfreude, Punk mit cartoonesker Attitüde, und das gilt dann auch für die zwei weiteren Instanzen dieses durch und durch sympathisch rauen Erstlings: den sich sicher bestens amüsierenden Machern und die im besten Sinne bitterbös amüsierten Zuschauer.

Im Glaskäfig

(ESP 1986, Regie: Agusti Villaronga )

Die Tat und ihr Nachhall
von Sven Jachmann

Am Anfang sehen wir die Detailaufnahme eines Auges. Das Zwinkern der Augenlider ist unterlegt mit den Blitzgeräuschen einer Kamera. Im Gegenschuss sehen wir das Auge der Kamera selbst, das die …

Am Anfang sehen wir die Detailaufnahme eines Auges. Das Zwinkern der Augenlider ist unterlegt mit den Blitzgeräuschen einer Kamera. Im Gegenschuss sehen wir das Auge der Kamera selbst, das die Bilder eines geschundenen, fast leblosen Körpers erfasst. Ein Täter dokumentiert sein Werk und frönt gleichermaßen seiner Passion: Er fragmentiert und entindividualisiert sein mit den Händen an der Decke gefesseltes Opfer, bevor er es schließlich erschlägt. Schuss, Gegenschuss. Körper, Extremitäten. Schnitt zur subjektiven Kamera: Beobachten und Beobachtetwerden.

In diesen ersten drei Minuten ist der tötende Blick bereits zu unserem geworden – möchte man glauben. Aber es ist der Blick eines, neben uns, weiteren Beobachters: Der Folterer ist Klaus, ein ehemaliger KZ-Arzt, der bei den einstigen Experimenten an Kindern seine sexuellen Obsessionen entdeckte und nun, im spanischen Exil, diese Leidenschaft weiter verfolgt. Der Beobachter ist Angelo, ein junger Mann, der Klaus’ Taten fortsetzen wird, weil er zu Klaus’ misshandelten Opfern zählt. Doch davon werden wir erst später erfahren. Klaus begibt sich nach vollbrachtem Mord auf das Dach des verfallenen Gebäudes und springt in die Tiefe. Der Beobachter findet derweil am Tatort ein mit Dokumenten und Notizen gefülltes Tagebuch.

Der einsetzende Vorspann ist mit Fotografien von Kindern aus Konzentrationslagern unterlegt, und eine Stimme singt mit spanischem Akzent Schubert. Es ist famos, in welcher Dichte Agustí Villaronga hier bereits die Zentralmotive der Erzählung hervorhebt: das Faszinosum des tötenden Blicks, die Grenzüberschreitung und Vergewisserung der eigenen Souveränität in der Passion, die kühle Ästhetisierung des Unansehnlichen. Diese Exposition zu Villarongas verfemtem Debüt, das das kleine Qualitätslabel Bildstörung jetzt endlich in einer deutsch untertitelten und opulent ausgestatten Edition zugänglich gemacht hat, ist so schön und abweisend zugleich, dass der Zuschauer zunächst bestenfalls irritiert auf das Geschehen reagiert. Die Absenz von Erklärungen zwingt ihn dazu.

Ein misslingender Suizidversuch endet für Klaus mit einer Querschnittslähmung und im Korpus einer eisernen Lunge. Der Film wird zum Kammerspiel. Angelo verschafft sich Zutritt zum Herrenhaus und zwingt Klaus, fortan seine Dienste als Krankenpfleger in Anspruch zu nehmen. Schleichend übernimmt er nun das Kommando über das Haus und die Familie, labt sich obsessiv am Körper des wehrlosen Behinderten, liest ihm nachts aus dessen Notizbuch vor (eine unangenehme Fiktionsfalle: Der Inhalt besteht aus echten Beschreibungen ehemaliger KZ-Schlächter) und masturbiert auf dessen Gesicht. Die Form dieser Übergriffe korrespondiert mit den verlesenen Folterschilderungen. Nachdem er Klaus’ Frau Griselda umgebracht und dessen Tochter auf seine Seite gezogen hat, folgt der nächste Schritt dieses – daran besteht auch plotimmanent kein Zweifel mehr – destruktiven Versuchs, das Trauma zu durchleben und aufzuarbeiten: Angelo ermächtigt sich zum fortgesetzten Arm seines unfreiwilligen Mentors, entführt zwei Jungen aus dem angrenzenden Dorf und tötet sie in Klaus’ Gegenwart, indem er ihnen die Kehle durchschneidet oder eine Benzinspritze ins Herz injiziert. Im finalen Schritt wird er sich auch physisch an Klaus’ Stelle setzen.

Bereits bei seiner internationalen Premiere auf der Berlinale 1986 war »Im Glaskäfig« ein ausgemachtes Skandalon: Noch vor seiner Vorführung wurde der Film beschlagnahmt, dann im kleineren Kreise ausgestrahlt, um wieder eingezogen zu werden. Erst durch die Hilfe der spanischen Botschaft konnte das Team wieder in den Besitz des Materials gelangen. Anscheinend glaubte man, in den fast akkurat kunstvoll arrangierten Bildern ein exploitatives Element ausfindig gemacht zu haben. Auch in Australien wurde ein Verbot aufgrund der homosexuellen Darstellungen ausgesprochen.

Tatsächlich steht der nationalsozialistische Bezug keinesfalls im Mittelpunkt des Films, er bietet einen figurspezifischen Hintergrund für eine furchtbare Geschichte der Grenzüberschreitung: Böses generiert Böses, und aus dieser Konstellation entspringt denn auch der abweisende Charakter von »Im Glaskäfig«. Da bloß rudimentär psychologisiert wird, bleibt das Handeln der Figuren ohne ersichtliches Motiv, zumindest ohne eins, das diesen abgründigen Kreislauf zu durchbrechen strebt: Am Ende wird Klaus’ Tochter Angelos Rolle annehmen, dessen Transformation erst dann vollzogen ist, nachdem er Klaus ersetzt hat. Griselda hingegen unterbricht zuvor einmal willentlich die Stromzufuhr zum Glaskäfig, kann sich aber doch nicht zum Mord durchringen (in diesem Augenblick wird das monotone Pumpen der eisernen Lunge auf der Tonspur von lautem Vogelgezwitscher abgelöst – der Idylle der Außenwelt, die in diesem hermetischen, von dunklen Blautönen bestimmten Kosmos sonst nur noch als verlorenes Zeichen, als Wandmalerei, existiert).

Indes scheint hier nicht einzig rüder Nihilismus durch. Vielmehr ist es die Destruktivität der bösen Tat, die unweigerlich ihren Nachhall erzeugt, der Blick in das Auge des Opfers, der sich eben auch verkehren kann. Die Erwartungshaltung des Publikums ist offensichtlich: Ein biographisch derart ausgestatteter Charakter kann unmöglich seinem potentiellen Schlächter nacheifern. Oder anders gesagt: Das Urteil, das dem traumatisierten Opfer seine Unschuld abspricht, ist nur zu haben auf Kosten der Schuld des Täters. Dabei gibt sich Villaronga mit jeder Sequenz redlich Mühe, dieses schreckliche Prozedere als grausame Konsequenz des Traumas zu inszenieren. Dass er sich hierzu des Horrorfilmstils bedient, ihn mit den Mitteln des Kunstkinos vermengt, also auch formal den Bruch mittels einer diesem Sujet unangebrachten Ästhetisierung fortsetzt, zeugt allenfalls vom Talent eines jungen Debütanten – die Skandalisierung seines Meisterwerks aber nur von der Unfähigkeit, den Boten von der Botschaft zu unterscheiden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2009

Overlord

(GB 1975, Regie: Stuart Cooper)

Aufgebrauchtes Humanmaterial im Stahlgewitter
von Sven Jachmann

Im Kriegsfilm wird das Leid entweder pathetisch, also schicksalhaft, oder melodramatisch, einem übergeordneten Sinn folgend, arrangiert. Bei letzterem neigen die Rezipienten voreilig dazu, dass Genre mit einem Anti- zu klassifizieren. …

Im Kriegsfilm wird das Leid entweder pathetisch, also schicksalhaft, oder melodramatisch, einem übergeordneten Sinn folgend, arrangiert. Bei letzterem neigen die Rezipienten voreilig dazu, dass Genre mit einem Anti- zu klassifizieren. Das dazugehörige Schema hat sich bereits frühzeitig im Hollywoodkino etabliert: Ein politisch meist naiver Mensch wird seiner gewohnten Umgebung entrissen, erfährt beim Militär eine Initiation, wird auf dem Schlachtfeld seiner finalen Prüfung unterzogen und kehrt geläutert wie gereift in seine alte Heimat zurück – sofern er den Kampfschauplatz lebend verlässt. In den besten Werken entspricht diese Entwicklung einer umgekehrten Individuation: Aus einer allenfalls arglosen Skepsis beim Eintritt in die Institution Armee wächst später resignierte Verzweiflung, aus Autoritätshörigkeit entsteht eine fast manische Todessehnsucht. Beide Varianten aber benötigen das Subjekt, und sei es bloß, um an ihm einen tragischen Verfall zu skizzieren.

In seiner 1975 fertiggestellten D-Day-Kriegsgeschichte „Overlord' greift Stuart Cooper auf eine ähnliche Dramaturgie zurück, nur geht er dabei sehr viel klüger vor als viele seiner Regiekollegen. Schon deshalb verwundert es, dass dem Werk über Jahrzehnte der Eintritt ins Pantheon der Klassiker seiner Zunft verwehrt blieb. Das hängt sicher damit zusammen, dass es, trotz einer Auszeichnung mit dem Silbernen Bären auf der Berlinale 1975, nie einen Start in den US-Kinos erhielt – zu gegenwärtig mag der Vietnamkrieg gewesen sein, als dass sich eine weitere grundsätzliche Kritik am Wesen des Krieges zu diesem Zeitpunkt ausgezahlt hätte. Seit einigen Jahren nun wird der Film dank eines intensiven Festivaleinsatzes als unterschlagenes Meisterwerk der Filmgeschichte neu entdeckt – völlig zu Recht.

Der Plot: 1944 wird der junge Engländer Tom Beddows – Typus: bürgerliches Elternhaus, recht belesen und sehr schüchtern – für den Kampf gegen Deutschland eingezogen. Nach dem brutalen Drill, der offenkundig die Eliminierung jedweder Persönlichkeitsstruktur zum Ziel hat und die ausnahmslos knabenhaften Gesichter zu todesverachtenden Fratzen verwandeln will, folgt schließlich am 6 Juni 1944 der sogenannte Overlord-Einsatz – das Codewort für die Invasion der alliierten Truppen in der Normandie. Die Zeit dazwischen ist, teils in Rückblenden, gespickt mit zaghaften Versuchen, Freunde zu finden, und einer zurückhaltenden Liaison nach einem Tanzabend. Was uns Toms Mimik während dieses Prozesses nicht verraten will, erfahren wir aus den Briefen an seine Eltern. Einmal heißt es darin erschreckend lakonisch: 'Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich fühle es, wie man eine Erkältung kommen fühlt.' Hier ist bereits absehbar, dass er recht behalten soll.

Wem nun dieses Setting bekannt vorkommt, liegt vollkommen richtig: 1987 entwarf Stanley Kubrick mit „Full Metal Jacket' ein ähnliches Gerüst für eine Vietnamkriegsgeschichte. Zufall ist das nicht. Kubrick war ein großer Bewunderer von Overlord und hatte außerdem zuvor bereits in „A Clockwork Orange' (1971) und „Barry Lyndon' (1975) mit Kameramann John Alcott zusammengearbeitet (und allein bestimmte Methoden der Beleuchtung sind frappierend). Beide Kriegsfilme sind durch die Abwesenheit des heroischen Subjekts gekennzeichnet; es ist die Maschinerie, die den Menschen formt, nicht umgekehrt.

Der Weg dorthin könnte indes nicht unterschiedlicher sein: Kubrick zerlegt die Entindividualisierung der Soldaten spitzfindig in die einzelnen institutionellen Schritte und steuert auf ein Antifinale zu, in dem sich die Initiation in einem surrealen, strategisch völlig unbedeutenden Kampf beweist – die Schlachtinszenierung bildet das Zentrum. Cooper hingegen rückt die Schlacht nur mittels der Montage in den Mittelpunkt, der Unterschied aber bemisst sich am Material. Denn – daher rührt auch das große gegenwärtige Interesse an dem Film – bei sämtlichen Schlachtaufnahmen handelt es sich um Archivmaterial des Imperial War Museums, und das macht immerhin ein gutes Drittel des Films aus. Hieran wird das narrative Prinzip deutlich: Zwar werden wir ausgiebig Zeugen der Initiation Toms, aber sie ist nicht mehr Teil seiner kathartischen Entwicklung, sondern bereits von Beginn an der Maschinerie des Krieges untergeordnet. Die wiederum hat eine krude Eigendynamik. Tatsächlich braucht es keinen Menschen, der die Maschinerie steuert, er ist ihr, seiner Handlungsfreiheit beraubt, ausgeliefert – und dies in teils pittoresk-ambivalenten Bildern. Das gilt für die stetigen Bombenabwürfe auf scheinbar menschenleere Städte, für die Luftgefechte, in denen die Maschinen statt ihrer Piloten gegeneinander anzutreten scheinen und insbesondere für die Strandinvasion, auf die Toms groteske Ausbildung hinausläuft. Dann prescht monströses Räderwerk durch das Wasser über den Sand, raketenbetriebene Kreisel fegen Stacheldraht beiseite, bohren sich als Schutzwall in den Boden und sind offensichtlich überhaupt nicht zu kontrollieren – eine entfesselte Maschinerie, mehr Chaos als Präzision versprechend.

In diesen Bildern und dem Wechsel aus Fiktion und Dokumentation ist das Subjekt lediglich eine Randerscheinung: Dass er den Krieg nicht überleben wird, davon geht Tom mit stoischer Selbstverständlichkeit aus, Heroismus ist nicht mal mehr als Illusion existent. Letztlich sind es die Archivbilder der Zerstörung und entfesselten Maschinen, die sogar seine Biographie innerhalb der Erzählung unbedeutend werden lassen: Was zum Höhepunkt drängt, endet noch bevor es beginnt, in Toms regelrecht unspektakulärem Tod. Selten wurde diese Art unausweichliche Verdinglichung in drastischere Bilder gefasst, die keine Menschen mehr beherbergen. Sie lösen als Zeichen das ein, was die Soldatenausbildung psychologisch anstrebt: den Soldaten erst zum Körper und danach zum aufgebrauchten Humanmaterial zu degradieren – in einem Stahlgewitter, das dennoch nie vergessen lässt, dass es sich aus menschgemachten Absichten nährt.

Ein letzter Satz zur DVD: Mit dieser Veröffentlichung untermauert das engagierte Bildstörung-Label in puncto Programmauswahl und Ausstattung ein weiteres Mal seinen Ruf als eines der besten im deutschsprachigen Bereich – einer der wenigen Anbieter, dessen Filmeditionen blind vertraut werden darf.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2010

Der Kreis

(IR / IT 2000, Regie: Jafar Panahi )

Acht Frauen im Iran
von Sven Jachmann

Acht Figuren im Iran, genauer gesagt in Teheran, besitzen keine sonderlichen Gemeinsamkeiten, außer dem Faktum, dass sie Frauen sind. Sie suchen das Versteck in der Unübersichtlichkeit der Großstadt, fliehen vor …

Acht Figuren im Iran, genauer gesagt in Teheran, besitzen keine sonderlichen Gemeinsamkeiten, außer dem Faktum, dass sie Frauen sind. Sie suchen das Versteck in der Unübersichtlichkeit der Großstadt, fliehen vor ihren Peinigern, den Institutionen, dem Staat, seiner Exekutive, ihren Familien. Abtreibung, Flucht aus dem Gefängnis, die Geburt eines Mädchens, aufsässiges Verhalten – die Gemeinsamkeiten ihres Vergehens bestehen einzig in der repressiven Ahndung für Handlungen, die ihnen qua Geschlecht oktroyiert werden. Und das ist genauso so doppeldeutig zu verstehen: dass, was ihr weibliches Geschlecht negativ konnotiert, wird ihnen vom Männlichen auferlegt und institutionalisiert.

Panahi verwendet große Mühe darauf diesen Sog aus Fremdbestimmung, Ausbeutung, Repression, letzlich immer zu erahnender Ausweglosigkeit inszenatorisch einzufangen. Der Blick durch ein schwarz umrandetes Rechteck, hinter dem sich ein Operationssaal befindet, eröffnet den Film. Derselbe Blick beendet ihn. Allerdings führt er diesmal aus einer Gefängniszelle, in der sich die acht Frauen nach ihrer Odyssee vereint wiederfinden, wohlwissend, dass diese Odyssee längst nicht zu ihrem Ende gekommen ist.

Halbtotalen und Nahaufnahmen dominieren die Erzählung. Panorama-Einstellungen sucht man genauso vergebens wie Kadrierungen, aus denen sich in irgendeiner Art und Weise Kontemplation gewinnen ließe. Die Figuren begegnen sich beiläufig, stehen mitunter nicht mal in unmittelbarem Kontakt zueinander und werden mit einer ebenbürtigen Unaufdringlichkeit von der Kamera aufgegriffen, begleitet und für den Augenblick eines Wimpernschlags wieder verlassen.

Es ist die bloße, unmittelbare Teilhabe an einer Gefahrensituation, die fast schon dokumentarisch illustriert wird und in ihrer inneren Verzahnung auf die Allgegenwart der Unterdrückung und des staatlichen Zugriffs verweist. Das mag dann und wann etwas episodisch ausfallen, ist auf der anderen Seite jedoch die fruchtbarste Methode, um die fremdverschuldete Unmündigkeit als soziales Phänomen begreifbar zu machen. Solidarisierungseffekte dringen immer wieder durch, verpuffen jedoch genauso schnell in der alles einebnenden Apathie. Der kleine, hilflose Widerstand ist alles was bleibt, etwa wenn eine der Protagonistinnen im Gefangenentransport trotz Verbots eine Zigarette raucht. Unerhört bleibt er indes nur symbolische Geste, schafft nur (aber auch vor allem) Selbstvergewisserung der versuchten Autonomie, die dann doch wieder vom Kreis des Leids und der drohenden Strafe okkupiert wird.

Alles, was die acht Frauen zu verschulden haben, ist ihre Existenz. Dass dieses Motiv bereits unter Umständen eine Freifahrt ins Gefängnis bedeuten kann, haben uns die Bilder zwischen der schwarz umrandeten, rechteckigen Klammer radikal erläutert.

Der Eissturm

(USA 1997, Regie: Ang Lee)

Spidermans Jugend
von Sven Jachmann

Als das diffuse Aufbegehren der 68er in den bürgerlichen Wohnzimmern der 70er Jahre langsam dahin dämmerte, sahen deren Einrichtungen zwar geschmackvoller aus, aber die Befindlichkeiten ihrer Insassen darbten elendig. Häusliches …

Als das diffuse Aufbegehren der 68er in den bürgerlichen Wohnzimmern der 70er Jahre langsam dahin dämmerte, sahen deren Einrichtungen zwar geschmackvoller aus, aber die Befindlichkeiten ihrer Insassen darbten elendig. Häusliches Glück gegen gesellschaftlichen Druck zu tauschen, innerfamiliäre Solidarität als Schutzwall gegen ökonomische Zurichtung zu zelebrieren, den politischen Kampf im Privaten fortzusetzen, Intimität als Versprechen des Begehrens zu kultivieren, also die einst mit Hoffnung aufgeladenen Bausteine, mit deren Hilfe schließlich das zynische 80er Jahre Gebilde errichtet werden sollte, nichts davon sind die Figuren in Lees Ensemble-Film in der Lage zu erfüllen. Stattdessen üben sie sich im Vergessen. Die Eltern gehen fremd, wenn sie nicht ohnehin auf Parties beim Schlüsselspiel ganz offiziell ihre Partner tauschen oder sich im Ladendiebstahl versuchen. Die Kommunikation befindet sich im Leerlauf, weil Geheimnisse, Scham und unausgesprochene Wünsche den Wahrheitsgehalt jeder Aussage aufs peinlichste in Frage stellen können. Die Konnotation der Worte lässt sich quasi nicht mehr verbergen, und somit verkehrt sich die Intimität zur Entfremdung, die Imagination des heilversprechenden Familienlebens zur individualisierungsprovozierenden Zwangsgemeinschaft.

In dieser Provinz jedenfalls, meinetwegen auch in diesem Sittengemälde, scheint alles von Resignation in Beschlag genommen zu sein. Das gilt für Interaktionen und Handlungen der Individuen, noch mehr aber der Generationen. Eltern und Kinder dulden einander, besitzen aber keinerlei Verbindung, allenfalls die der autoritären Inanspruchnahme seitens der Eltern. Dabei befindet sich der Nachwuchs bereits am Scheideweg zwischen pupertärer Entdeckungsreise und Erfüllungsgehilfenlüge, wie sie elterlicherseits beständig vorexerziert wird. Zumindest können auch sie ihre Hoffnungen nicht mehr realisieren, ohne Leid hervorzurufen. Erst der Stillstand der Welt durch den Eissturm, leitmotivisch unentwegt eingeflochten und vorbereitet, ermöglicht eine erste gegenseitige Annährung der Protagonisten. Dass es hierzu aber den Tod braucht, verweist als Katastrophenszenario ein weiteres Mal auf die Kommunikationsunfähigkeit aller Betroffenen zu Lebzeiten. Einen Umschwung sollte man hiervon zumindest nicht erwarten.

So finster das nun alles klingen mag, so sanftmütig wiederum versteht es Lee, nicht zuletzt dank einer höchst motivierten, illustren Schar einst hoffnungsvoller Nachwuchsschauspieler, die das heutige Filmgeschehen bestimmen (Spiderman, Frodo und Christina Ricci, alle sind sie da), die Verknüpfung all dieser Beziehungen mit einer solch sanften Ironie zu spinnen, dass kein einziges Mal der Gedanke aufkommen will, man wohne gerade bloß einer kritischen Demontage der Institution Familie bei. Es mag manchmal auch der Humor sein, weswegen man sich überhaupt daran erfreut, dass die Philosophien der Fantastischen Vier mehr über diese verkorksten Beziehungen zu sagen wissen, als es das gesprochene Wort jemals könnte. Es ist gar nicht so ironisch gemeint, gar nicht eigentlich, aber man stelle sich dies alles bitte mal als Peter Parkers Jugendzeit-Bebilderung vor. Na? Ja, schon eine verrückte Zeit in der wir heute leben …

Salto für Anfänger

(SE / A 2007, Regie: Hannes Holm)

Die letzte Hausfrau
von Andreas Thomas

Es gibt einige Fragen, die dieser Film bei mir aufwirft: Gibt es noch Hausfrauen? Wenn ja, was ist das? Wenn nein, wer guckt diesen Film? Oder anders: Interessieren sich beinharte …

Es gibt einige Fragen, die dieser Film bei mir aufwirft: Gibt es noch Hausfrauen? Wenn ja, was ist das? Wenn nein, wer guckt diesen Film? Oder anders: Interessieren sich beinharte Karrieremiezen für Filme, in denen kinderlose aber trotzdem hausmütterliche Schauspielerinnen mit Faible für Cremetörtchen Karriere machen wollen? Gibt es noch immer diese im Dunkeln menschelnde Kehrseite kalt lächelnder EllbogenmonsterInnen?

Bella heißt eigentlich Isabella und ist so in etwa das naivste Mädchen um die Vierzig, das seit der Ente Schlubberdack (Gab es jemals die Ente Schlubberdack?) quer über die Leinwand dilettiert ist. Eine weitere Frage ist (die sich bei der Ente Schlubberdack nicht stellte): Was dilettiert mehr: die schwedische Hauptdarstellerin, Drehbuchautorin und Autorin der Romanvorlage Martina Haag oder ihre deutsche Synchronstimme (erster Eindruck: Wer murmelt denn auf der Tonspur dazwischen, ich möchte gerne den Dialog verstehen …)

Nun gut, die Ente Schlubberdack ist nicht mehr die jüngste aller Enten und deshalb wird sie immer abgewiesen: bei Funk, Film und Fernsehen. Nur bei Theater ist da ganz plötzlich was frei, aber auch nur, weil Ingmar Bergman noch lebt und so was Extravagantes wie eine artistische Ente in seiner „Was ihr wollt“-Inszenierung braucht. Und weil sie, also natürlich nicht die Ente, sondern die etwas teigige Bella, aufgrund der Chancenerhöhung in ihren Bewerbungsunterlagen angegeben hat, dass sie des Artistischen mächtig sei; dabei, so sagen ihre Eltern, keuche sie schon beim Schuhanziehen.

Nur gut, dass das schwedische Nationalheiligtum Ingmar Bergman so ein bisschen gegen Lebensende tendiert, denn auf diese Art wird die Nagelprobe mit der Artistiknummer immer hinausgeschoben, weil Herr Bergman noch kränkelt. Und so kann Hühnchen Bella sich noch nebenbei verlieben in den wirklich aufregenden Top-Darsteller Micke, der, obgleich gestanden, noch immer voll eines jugendlichen Charmes ist, dessen angegangene Hühnchen bedürftig sind.

Also gut, Micke, nicht faul, rennt engagiert Bellas offene Türen ein, entführt sie nach Wien, um selbiges zu ihren Füßen auszubreiten, um für den Film die Tantiemen des Co-Produzenten Österreich einzustreichen, und um, werweiß, wieder mal ein (Nest-)Häkchen auf seiner Eroberungsliste zu machen? Der erste Anschein, so viel sei verraten, trügt, liebe LeserInnen! Oder nicht? Wen aber, so fragt sich, sollte dieses nun noch interessieren, oder, um dann zur Kernfrage zu kommen: Wer will denn diesen Film jetzt noch sehen?

Ich hoffe, meine stark stilisierte Schilderung der Handlung von „Salto für Anfänger“ hat niemanden auf die Idee gebracht, diesen Film zu meiden, denn ich gebe zu: Mir hat der Film Spaß gemacht und vor allem war er kurzweilig, obwohl er in keiner Weise besonders lustig, originell oder gut gespielt ist. Vielleicht mag ich diesen Film, weil er und ich so altmodisch und naiv sind, weil wir immer noch an die große Liebe und das große Glück und den großen Erfolg glauben. Und wenn es all das nicht gibt, dann glauben wir daran, dass wir auch das mit Humor wegstecken können, und wir glauben an eine überschaubare Welt, in der es nichts Bedrohlicheres geben kann als einen greisen und gestrengen Regie-Gott, oder vielleicht noch Lover, die uns belügen könnten. Ich mag bunte Farben, ich mag die Schönheit des Herbstes und ich mag das geputzte Schweden und das prächtige Wien mit seiner Zauberflöte und ganz doll: MICH. Sowas wie diesen Film und wie mich gibt’s eigentlich gar nicht mehr sonst. Und ich weiß jetzt auch, was ich bin: Ich bin eine Hausfrau.

9 Songs

(GB 2004, Regie: Michael Winterbottom)

Sex. Sex. Sex.
von Dietrich Kuhlbrodt

Lass es einfach geschehen. Zu erklären gibts nichts, und das ist grade das Hinreißende an diesem Britfilm. London. 8mal in ein Rock’n’Roll-Konzert gehen vom Black Rebel Motorcycle Club bis zu …

Lass es einfach geschehen. Zu erklären gibts nichts, und das ist grade das Hinreißende an diesem Britfilm. London. 8mal in ein Rock’n’Roll-Konzert gehen vom Black Rebel Motorcycle Club bis zu Franz Ferdinand. Und was zwischendurch? Sex. Sex. Sex. And Drugs (Tabak! Speed! Koks!).

War die Kamera vorher im Publikum und nahm die Musikbühne frontal, kommen jetzt raffinierte Großaufnahmen. Ein Nippel, sacht massiert von Daumen und Zeigefinger. Eine Scheide, geöffnet. Was hindert die Kamera am Eindringen? Ein ejakulierender Penis. – Es fällt kein Wort. Auch die Montage kommentiert nicht. Kein Dekor, kein Was-will-der-Autor-damit-sagen. Wohl aber Sexgeschäftigkeit im stillen Einverständnis, – alltägliche Kommunikation, befreit vom Bedürfnis, sich entschuldigen oder doch erklären zu müssen. – Das ist die Sensation der „9 Songs': Es fehlt die psychologisierende Exkulpation, und es fehlt die Schutzbehauptung, es werde halt Realität dokumentiert. Ergebnis: Wir sind mit diesem Film allen legitimatorischen Spinnkram los. Dank Regisseur Michael Winterbottom („In This World'), der „9 Songs' für 160.000 Dollar in 8 Tagen gedreht haben will.

Dramaturgie gibt es dennoch. Die Sexkommunikation kommt an ihre Grenzen. Fesselspiele? Warum nicht. Mal was zu dritt ausprobieren im Sexclub? Eher nicht. Einsam vor sich hin masturbieren? Nä, der/die andere wird sauer. Allerdings wissen wir, daß die Liaison zwischen der aufgeschlossenen Austauschstudentin und dem knackigen Klimafolgenforscher von kurzer Dauer ist. Das hat er uns gleich am Anfang rückblickend gesagt, auf dem Luftweg ins arktische Eis. Meine Rückfrage beim hiesigen einschlägigen Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (Pik) hat allerdings ergeben, daß die Forscher keineswegs mit einer kleinen Maschine allein ins große Weiße fliegen, um sich vom Eiskern Scheiben abzuschneiden. Das hinwiederum hielt die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) nicht ab, „9 Songs' für Jugendliche ab 16 Jahren freizugeben. Zu bedenken ist dabei, dass die FSK schon seit langem von den Jugendbehörden übernommen worden ist. Die Freigabe der „9 Songs' ist ein Verwaltungsakt. Bravo doch! Ganz im Trend der bravourösen Verkehrung. Schützten vor gut zehn Jahren die Filmprüfer noch die deutsche Jugend vorm Film, so schützen sie heute die Jugend (medienkompetent!) vor inkompetenten Erziehungsberechtigten. Für 16jährige ist das also schon okay mit sex and drugs and rock’n’roll – im Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2005

Going to Pieces

(USA 2006, Regie: Jeff McQueen)

Feiertagsgeschichten
von Sven Jachmann

Was von der offiziösen Filmgeschichtsschreibung bisher lediglich in der Peripherie seiner Aufarbeitung harrte, scheint in den letzten Jahren nicht nur im akademischen Bereich in den Genuss einer differenzierten Auseinandersetzung zu …

Was von der offiziösen Filmgeschichtsschreibung bisher lediglich in der Peripherie seiner Aufarbeitung harrte, scheint in den letzten Jahren nicht nur im akademischen Bereich in den Genuss einer differenzierten Auseinandersetzung zu geraten. Im angloamerikanischen Raum etablieren sich die Pornstudies, dem Splatter als Methode wird sich mittlerweile bereits mannigfaltig in den kulturwissenschaftlich orientierten Filmwissenschaften gewidmet, dem Slasherfilm und seinen Protagonisten rücken verstärkt die Gender Studies zu Leibe. Auch das Geschehen im filmhistorisch fokussierten Dokumentarfilm kennzeichnet eine, mal mehr, mal weniger gelungene, Öffnung gegenüber den (mutmaßlich) randständigen Erscheinungsformen seiner Zunft: „Midnight Movies' (2005) beleuchtet das Phänomen des Undergroundkinos als ritualisierten Kult und skizziert implizit auch den Wandel der filmökonomischen Auswertung; „Schlock! The secret History of American Movies' (2000) begibt sich in die Niederungen des Z-Films und schafft es dabei zugleich, eine Art alternative Filmgeschichtsschreibung jenseits der breitenwirksamen Aufmerksamkeitsschwelle zu offerieren; „Inside Deep Throat' (2005) macht den ersten international erfolgreichen Porno endgültig salonfähig und „The American Nightmare' (2000) führt ein in den gesellschaftlichen und politischen Kontext, der die Genese der unbequemen Bildproduktionen der fauves begleitete und ihnen einen subversiven Impetus einschreibt, der die bloß unmittelbare Schockwirkung des bis dato konventionellen Horrorkinos weit übersteigt.

„Going to Pieces' eignet sich insofern bestens als Doublefeature zu „The American Nightmare', weil sich in seinem thematischen Gegenstand, dem Slasherfilm, sozusagen die reaktionäre Kehrseite der Methode Splatter zu einem ganzen Subgenre verdichtet, dessen Erfolgsgeschichte der Film chronologisch, begleitet von zahlreichen Exkursen und in freier Anlehnung an Adam Rockoffs gleichnamige Buchvorlage, nachspürt.

Nachdem „Psycho' und „Peeping Tom' die Schaufel ansetzten, „Halloween' und sein unabsehbarer Erfolg den Weg ebnete, oblag es nun den Epigonen, angefangen mit „Freitag der 13.', jenes Schema an Gesetzmäßigkeiten zu etablieren, das dem Slasherfilm damals wie heute seinen schlechten Ruf einbrachte. Ein klappriges Handlungsgerüst, dem scheinbar nur die variierenden Feiertage als Anlass zugrunde lagen, die puritanische Moral der Bestrafung gekoppelt an eine nicht sonderlich verhohlene Misogynie, jene ungemeine Phantasiebefähigung in Fragen des kreativen Tötens und der Wiederherstellung der Ordnung durch das tugendhafte final girl waren Wasser auf den Mühlen der Kritik. Diese ideologisch gefärbte Typologie spiegelt natürlich nur die halbe Wahrheit wider, und es ist dem Duktus des Films anzumerken, dass er, bei allen produktionstechnischen Anekdoten der Produzenten, Regisseure, Darsteller und Kritiker, auf mehr hinaus möchte, als mit ironischem Blick ein leicht angreifbares Subgenre zu sezieren, bei dem der Rezipient von Anfang an dessen offenkundige Mechanismen zu durchschauen glaubt. Vom grimmigen Voyeurismus, der den Zuschauer dank der stets anzutreffenden subjektiven Kamera mit dem Killer in eins setzt, etabliert in „Halloween', über psychoanalytische Attacken der genreimmanenten Geschlechterkonstruktionen und ihrer Rollenzuschreibungen in Gestalt der transsexuellen Angela in „Sleepaway Camp', von der sexualidentitären Mystifikation des Pubertätabschnitts junger Mädchen in „Slumber Party Massacre', bis zum ironischen Spiel mit antizipierten Genreerwartungshaltungen in „April Fool’s Day' zeichnet der Film ein weitschweifiges Bild alternativer Deutungsangebote, die schnell verdeutlichen, dass der Slasherfilm auch leicht gegen den eigenen Strich gebürstet werden kann. Mitunter entwickelte sich manche Produktion gar zum handfesten Politikum: etwa wenn erzürnte Eltern eine Kampagne gegen „Silent Night, Deadly Night' anstrengen, so dass sich der Verleih in letzter Instanz dazu gezwungen sieht, den Film um einen axtschwingenden Weihnachtsmann aus dem Programm zu nehmen. Ein Sachverhalt, der von den tendenziell eher walking als talking heads gebührend sarkastisch kommentiert wird, unter denen sich übrigens und glücklicherweise nicht nur die üblichen Verdächtigen wie John Carpenter, Wes Craven oder Tom Savini, sondern auch unbekannte Regisseurinnen und Akteurinnen wie Amy Holden Jones, Lilyan Chauvin oder Felissa Rose befinden.

Dass bei dieser Themenbandbreite so mancher Komplex nur angerissen wird, liegt in der Natur der Sache und fällt nicht wirklich ins Gewicht. Gerne hätte der Blick auf die italienischen Vorbilder über Mario Bava und Dario Argento hinausschweifen können, so wie auch die Renaissance und Transformation des Slashers im zeitgenössischen Film seit 'Scream' eigentlich bereits einer eigenen Produktion bedürfte. Wesentlich ärgerlicher mutet es da an, dass die Möglichkeiten des nun vielleicht interessierten Zuschauers einen genaueren Blick auf die hier verhandelten Werke zu werfen, aufgrund der hiesigen Zensurbestimmungen äußerst minimal sind. Kaum einer der Filme erblinzelte unzensiert das Licht der deutschsprachigen Welt, dutzende Titel sind gar bundesweit beschlagnahmt. So mag der Zuschauer in spe zwar prophylaktisch vor seinem eigenen Blutdurst beschützt werden, erlangt aber indes auch nur einen äußerst lückenhaften Einblick in die verschiedenen Zweige des Horrorgenres und seiner Geschichte. Mit der jüngsten Beschlagnahmung des Initialklassikers „Blood Feast' (1963) wird dies wohl auch in Zukunft so bleiben. Vielleicht ein brauchbares Thema für den nächsten Dokumentarfilm?

Stellet Licht

(MEX / F / NL / D 2007, Regie: Carlos Reygadas)

Der Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Die Schöpfung erwacht: Am Beginn von Carlos Reygadas‘ Film „Stellet Licht“ ist die Natur mit sich allein. Die Dunkelheit bricht förmlich auf, während das zaghafte Flüstern der Tiere anschwillt. Die …

Die Schöpfung erwacht: Am Beginn von Carlos Reygadas‘ Film „Stellet Licht“ ist die Natur mit sich allein. Die Dunkelheit bricht förmlich auf, während das zaghafte Flüstern der Tiere anschwillt. Die schweifende Kamera sucht sich einen Weg ins Leben: aus dem Unidentifizierbaren zum Licht hin und in den Tag hinein, der mit einem stillen Gebet beginnt. Natürliche Kreisläufe, Lebenszyklen und Pendelschläge: Die Struktur der Zeit verbindet Anfang und Ende, Morgen und Abend, Sommer und Winter. In „Stellet Licht“ wird für einen ewigen Augenblick die Uhr angehalten, um die Ausweglosigkeit eines emotionalen Dilemmas zu beschreiben; und um schließlich dann, wenn das Pendel wieder ausschlägt, die Erweckung durch ein heilendes Licht als Aufbruch und Verwandlung sichtbar zu machen.

Seine Frau Esther (Miriam Toews) und die sechs Kinder haben den Raum verlassen, der einfach und mit alten Möbeln eingerichtet ist. Wie auf einer Bühne sitzt Familienvater Johan (Cornelio Wall Fehr) am langen Küchentisch, von der statischen Kamera in einer langen, frontalen Einstellung aufgenommen, und windet sich verzweifelt und weinend in seinem inneren Schmerz. Was den stillen Farmer so erschütternd bewegt, erfahren wir bald darauf aus Gesprächen, in denen er sich zunächst einem Freund und danach seinem Vater (Peter Wall) mitteilt. Johan liebt zwei Frauen und empfindet dieses Glück zugleich als große Traurigkeit, die ihm wie „Blei in den Eingeweiden“ sitzt. Als gläubiger Mensch fragt er sich, ob sein Gefühlsdilemma „Gottes Werk oder das Werk des Feindes“ ist und ob seine zwischen Verlangen und Verzicht wechselnde Liebe zu Marianne (María Pankratz) nur dem „Durst nach Gefühlen“ folgt oder um die „Korrektur einer falschen Entscheidung“ ringt. Dabei resultiert das Leid aus dem Bewusstsein, dass es kein Zurück hinter das Geschehene in einen Zustand der Unschuld gibt.

„Friede ist stärker als Liebe“, heißt es einmal. Und dieses Mitleid mit dem Anderen, während alle Beteiligten leiden, führt direkt ins Zentrum einer friedliebenden Weltanschauung und Lebensordnung. Carlos Reygadas hat seinen mit Laien besetzten Film nämlich in einer nordmexikanischen Mennonitengemeinde angesiedelt, wo noch Plautdietsch gesprochen wird. Die offenen, freundschaftlichen Gespräche und der rücksichts- und verständnisvolle Umgang miteinander begünstigen dabei Reygadas‘ entdramatisierendes Konzept, das die existentiellen Konflikte nicht in äußere Handlungen und Ausbrüche übersetzt, sondern nach innen, in das Schweigen der Figuren verlagert. Entsprechend kontemplativ ist der von Ellipsen durchbrochene Erzählfluss des Films, der seine Höhepunkte nicht in der fiktionalen Zuspitzung findet, sondern in einer dokumentarischen, gleichwohl stilisierten Verdichtung von Zeit. Wer seine Produktionsfirma „Nodream Cinema“ nennt, schielt wohl kaum auf das Illusionskino. Und doch endet 'Stellet Licht' mit einem Wunder, dessen ambivalenter Gehalt die sozial-religiöse Ordnung bestätigt und wohl nicht zufällig an Carl Theodor Dreyers Film 'Ordet' (Das Wort) aus dem Jahre 1955 erinnert.

Straw Dogs

(GB 1971, Regie: Sam Peckinpah)

Häuserkampf
von Sven Jachmann

'Dies ist mein Haus. Gewalttaten in diesem Haus lasse ich nicht zu“, ruft David Sumner (Dustin Hoffman) dem aggressiven und trunkenen Pulk entgegen, der sein Anwesen belagert, um den hierin …

'Dies ist mein Haus. Gewalttaten in diesem Haus lasse ich nicht zu“, ruft David Sumner (Dustin Hoffman) dem aggressiven und trunkenen Pulk entgegen, der sein Anwesen belagert, um den hierin beherbergten und des Mordes verdächtigten Henry Niles (David Warner) zu lynchen. Wenige Minuten später, nachdem er seiner Frau Amy (Susan George) ins Gesicht schlägt und so unwissentlich Assoziationen an die Vergewaltigung hervorruft, die zwei der fünf draußen tobenden Männer an ihr verübten, wird David selbst der Gewalt Einkehr in sein Heim verschaffen. Keiner der fünf Belagerer verlässt lebend den Schauplatz. Die Gewaltspirale hat eine derartige Eigendynamik entwickelt, dass an ihrem Ende nur die absolute Eskalation zu erwarten war. Welche Mechanismen dazu vonnöten sind, um ihrer destruktiven Kraft eine solche Geltungsmacht zu verschaffen und wie der Weg dorthin beschaffen ist, das sind die Fragen, die Peckinpah in seiner so konzis anmutenden wie differenzierten Studie verfolgt und dabei scheinbar seine Westernsujets spezifiziert.

Denn so archetypisch der Konflikt zwischen Ratio und animalischem Impuls auch auf den ersten Blick erscheinen mag, wie er sich in der dichotomen Beziehung des intellektuellen Astro–Mathematikers David zu den rüpelhaften Dorfbewohnern des namenlosen englischen Städtchens, in welches es das frisch vermählte Ehepaar verschlägt, bereits in der Exposition einschreibt, so wenig dürfte Peckinpah daran gelegen sein, dieses alteingesessene Western-Motiv in die Gegenwart zu verlegen. Augenscheinlich sind sämtliche Ingredienzien vorhanden: Der pazifistische Held will in der Kleinstadt Ruhe für seine Arbeit finden. Die Bewohner beäugen ihn mit Skepsis und verunmöglichen jedweden Integrationsversuch. Die Situation spitzt sich zu: auch wenn David nichts davon erfährt, finden die Attacken in der Privatsphäre ihren Höhepunkt. Mit der Vergewaltigung von Amy wird die (sexuelle) Integrität des Körpers und der Intimität zerstört. Mit dem Versuch, sein Haus, also seinen Besitz, also sein Land, also seine Grenze samt der ihr eingeschriebenen Prinzipien zu okkupieren, folgt die blutrünstige Verteidigung der Manifestation seiner Würde und seines Glaubens. Zwar ist die Ordnung wieder hergestellt, sie trägt aber irreversible Risse davon.

Diese Lesart (und mit Blick auf die Zensuranfechtungen, die der Film – nicht nur in Deutschland – zu erdulden hatte, war sie stets die dominierende) unterschlägt in Gänze den Anteil der Rolle Susan Georges. Auf sie fokussiert, ließe sich die Inhaltsangabe auch folgendermaßen formulieren: Die Heldin kehrt mit dem frisch angetrauten Ehemann in ihre englische Heimatstadt zurück. Ihre stetigen Bemühungen, David die unvertraute Umgebung schmackhaft zu machen, bleiben fruchtlos. Seine intellektuelle Arbeit überschattet das Eheverhältnis und fördert zunehmend die gegenseitige Entfremdung. Gelangweilt von seinem Desinteresse und von Beginn an lebenslustiger als er, schlagen die Versuche, David aus der Reserve zu locken, in Frustration über. Im Gegensatz zu ihm hat Amy bereits erkannt, dass hinter seinem verhaltenen Wesen der Unwille steckt, klar Position zu beziehen. Mit diesem Wissen, sowohl David als auch die Interaktionsgepflogenheiten des Dorfes betreffend, schärft sich ihr Blick für die drohende Gefahr, die von seinen Bewohnern ausgeht. Gleichzeitig aber auch der Wille, dem Ehekorsett zu entfliehen. Enttäuscht von seiner defensiven Haltung und den damit einhergehenden Kränkungen, die indes nur sie bemerkt, bemüht sie selbst bei ihrer Vergewaltigung die letzten Kräfte (denn einer der beiden Männer scheint ein ehemaliger Beziehungspartner zu sein), um eigenmächtig Lustgewinn aus der Gewaltsituation zu kitzeln. Der Versuch schlägt fehl. Traumatisiert und gebrochen verbleibt ihr einzig zu beobachten, wie David alles darauf verwendet, sein Haus zu verteidigen und dabei selbst vor grausamster Selbstjustiz nicht zurückschreckt.

Man mag es drehen und wenden, doch das Bemühen dem Plot eine Hauptfigur zu unterstellen, unterschlägt das mehr oder weniger verborgene Gewaltmoment der hier präsentierten Ehekonstellation. Diese Ehekonstellation wiederum birgt von Anfang an soviel unausgesprochenes Konfliktpotential in sich, dass es nicht einer abweisende Umgebung bedurft hätte, um ihren Bruch zu befördern, zumal uns, etwa wenn Peckinpah unmittelbar in das Resultat eines Streits hineinschneidet und uns die Elemente seiner Genese vorenthält, zu viele Informationen fehlen, um die gemeinsame Geschichte der Charaktere, wie so oft üblich und drum gewohnt, über Informationsanreichungen der Tonspur zu erfassen. Wer die Charaktere sind, erfahren wir vornehmlich durch ihre Interaktionen. Da wir darüber hinaus über ihre soziale Situierung unterrichtet sind, liegt der Verdacht nahe, dem Verhalten von Typen beizuwohnen. Alles in dieser zurückgezogenen Welt scheint merkwürdig disparat zu sein, keine der Figuren auch nur einen Hauch des Vertrauens würdig. Die kontemplative Idylle der Natur ist nebelig und von einem abweisenden Grau durchzogen. Kein Kontrapunkt zur entflohenen Hektik der Großstadt. Die Bewohner reagieren nicht nur auf die Fremden mit Abweisung und vorgetäuschter Freundlichkeit, sondern scheinen auch untereinander zu keiner freundschaftlichen Bindung fähig. Ein junges Geschwisterpärchen hegt innige Zuneigung füreinander, und selbst in der ersten Einstellung, in der eine Gruppe Kinder zu sehen sind, die um einen verwirrten Hund laut singend herumtänzeln, wird nicht ersichtlich, wie die Grenzen zwischen Spiel und Qual beschaffen sind (das Oeuvre Peckinpahs indes lässt erahnen, dass es sich um Tierquälerei handelt).

In dieser Welt ist die Gewalt omnipräsent. Sie entlädt sich eruptiv, aber sie brodelt nicht im Verborgenen, allenfalls im Unausgesprochenen. Aus diesem Grunde ist das letzte Drittel des Films weniger das Resultat einer kausalistischen Rekonstruktion jener Mechanismen, die es braucht, um auch den Unbedarftesten zur Gewalt zu treiben. Dafür besitzt die Figur Davids doch eine zu exponierte Stellung: ob er beständig seine Frau mit seinem passiv–aggressiven Verhalten traktiert und zu keiner zärtlichen Regung fähig ist oder ob er gegenüber der Dorfintelligenz mit dezenten Provokationen und einem süffisanten Grinsen präsentiert, dass seine intellektuellen Fähigkeiten dem Narzissmus nicht fern sind, weiß er doch beim richtigen Anlass seine Kenntnisse zu nutzen, um als Sieger hervorzugehen. Es ist auch dieser Rationalismus, der ihm dazu verhelfen wird, die Verteidigung seines Heims siegreich zu koordinieren. Der Schlüssel hierzu ist seine Vernunft bzw. ihre gewaltsame Instrumentalisierung, und diese Instrumentalisierung hat er den gesamten Film über erprobt. In diesem Sinne bebildert Peckinpah weniger eine negative Anthropologie des Menschen, als die adornitische Skepsis gegenüber der Aufklärung: In einer unzivilisierten, gewaltdurchdrungenen Welt ist auch die Vernunft selbst vor dieser Gewalt nicht gefeit und führt ihr Wesen unter umgekehrten Vorzeichen fort. Das ist der unbequeme Tenor des Films: Straw Dogs sind überall zu finden.

Zur DVD: Die Edition lässt keine Wünsche offen und kann zu den wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichung gezählt werden. Das Booklet aus der Feder Mike Siegels informiert über die Produktionsbedingungen des Films und ist reichhaltig mit Werbematerial aus verschiedenen Ländern illustriert. Der ebenfalls von ihm eingesprochene Audiokommentar changiert enorm aufschlussreich zwischen Anekdote und Analyse. Das Material der Bonus-DVD besteht aus einem Teil seiner Dokumentation „Passion & Poetry: The Ballad of Sam Peckinpah.“ Als Ergänzung finden sich nicht verwendete Interviews sowie Trailer und die Super 8 Fassung des Films.

Da Euro Video es geschafft hat, nicht nur die langjährige Indizierung durch eine Neubewertung aufzuheben, sondern auch eine 16-er Freigabe zu erreichen, kann endlich jeder Interessierte auf dieses Meisterwerk stoßen, ohne verschämt das Gefühl erdulden zu müssen, mit halblegaler Ware zu hantieren, wenn sich der Händler gen Giftschrank bewegt.

Manufacturing Dissent

(CAN 2007, Regie: Rick Caine, Debbie Melnyk)

Von Petzen und Strebern
von Sven Jachmann

In „Manufacturing Dissent' ist der Verweis auf die Produktionsbedingungen des eigenen Werkes evident, denn das Regisseurgespann agiert selbst in der Figur des forschen Journalisten vor, bzw. als Erzählerstimme im Off, …

In „Manufacturing Dissent' ist der Verweis auf die Produktionsbedingungen des eigenen Werkes evident, denn das Regisseurgespann agiert selbst in der Figur des forschen Journalisten vor, bzw. als Erzählerstimme im Off, hinter der Kamera. Angetreten, um der Medienfigur Michael Moore auf die Schliche zu kommen und seinem selbstkreierten Mythos, altruistische und kämpferische Stimme aller Leidtragenden des kapitalistischen Verwertungssystems zu sein und so widerstandsmobilisierende Impulse zu initiieren, zu destruieren. Zu diesem Zwecke heften sie sich, im Zuge der Produktion von „Fahrenheit 9/11“, während einer amerikaweiten Lese-, Vortrags- und Aufnahmetour an seine Fersen und versuchen durch die direkte Konfrontation den Ungereimtheiten seines (filmischen) Werkes habhaft zu werden. Das Prinzip folgt also dem interaktiven resp. reflexiven Vorgehen: Alle Authentisierungssignale verweisen auf die Echtheit des Materials. Die Kamera läuft heimlich mit, wenn der unwirsche Rausschmiss aus einem Vortrag wegen einer gefälschten Akkreditierung angedroht wird. Dadurch wissen wir, dass sich das Team vor Ort befindet und der ganze Aufwand schließlich der Untermauerung jener These dient, dass Moore die Realität nach eigenem Gusto zurechtbiege und keine Gegenstimmen dulde.

Aber eine These will argumentiert sein, gefilmte Schauplätze allein können sie nicht unterfüttern. Deswegen greifen die Regisseure auf das Mittel zurück, welches sie vermutlich als Moore-Methode identifiziert haben wollen: Parallelmontagen von Behauptung und tatsächlicher Umsetzung, stakkatohafte Einflechtung zahlreicher Medienfunde aus TV und Film, noch unzähligere Interviewköpfe und zu guter Letzt immer wieder die Aufnahme des eigenen Konterfeis, meist nachdenklich bis besorgt in die Kamera blickend.

Auf der einen Seite finden wir also die Versicherung, dass alles Gezeigte sich so, manchmal gar unter erschwerten Bedingungen, und nicht anders zugetragen hat, auf der anderen Seite befindet sich der inszenatorisch ziemlich bescheidene Versuch, aus der Bearbeitung des Materials einen Argumentationsstrang zu flechten. Verstümmelte Kriegsheimkehrer aus dem Irak befürworten hier, obwohl in „Fahrenheit 9/11“ Gegenteiliges behauptet wird, nach wie vor ihren Fronteinsatz und das berüchtigte Gewehr aus „Bowling for Columbine“, welches Moore nach einer Kontoeröffnung direkt am Tresen als Prämie geschenkt bekommt, wird tatsächlich erst nach einer Überprüfung des Vorstrafenregisters in einer viele Meilen weit entfernt ansässigen Filiale ausgehändigt.

Man sieht, Moore verzerrt die Fakten für seine Botschaft, ist an der Integrität seiner Bilder scheinbar nicht interessiert, fiktionalisiert gar an Stellen, in denen nach Dokumentarfilm-Credo allenfalls Dramatisierung von Nöten ist. Ein Lanzenbruch für die Bilder-Skepsis also bei einem Mann, der in seinen Filmen die Geschichte Amerikas als sarkastischen Cartoon im South Park-Stil nacherzählt und, ganz uneigentlich, gleichzeitig die Illustrierung eines naiven Gattungsvertrauens der zwei Regisseure, in dem der Dokumentarfilm tatsächlich noch als Platzhalter der Wirklichkeit gegenüber dem Spielfilm siegreich ist, zumal beide bereits in der Wahl ihrer Interviewpartner nicht mit Sorgfalt glänzen: Da linke Kritiker (und dass hier der Diskurs aus linker Position vorangetrieben werden soll, suggeriert bereits der an Noam Chomskys und Edward S. Hermans Buch „Manufacturing Consent“ angelehnte Titel) der Moore-Methode in den USA scheinbar rar gesät sind, findet sich dann unter denen auch schon mal ein beleidigter Homepage-Betreiber wieder, dessen Qualifikation darin besteht, dass er sich schlicht von Moores gespielter Aufrichtigkeit hintergangen fühlt.

Caine und Melnyk unterliegen hier einem eklatanten Irrtum, denn Moores Weltbild dürfte mit dem der Linken bloß marginal übereinstimmen. Seine Kritik gilt nicht dem Wesen von Institutionen; sein Ruf nach gerechten Arbeitslöhnen für die ungerecht Behandelten tastet das kapitalistische Arbeitsprinzip nicht im Geringsten an; sein Unmut ergießt sich über korrupte Politiker, Gewerkschaftsführer, Medienmogule, Journalisten, Schauspieler, Vorstandsvorsitzende und Lobbyisten, also Funktionäre, die ihren Job genau genommen zu gut erledigen, als dass man es ihnen ungestraft durchgehen ließe. Ihnen ist der Zorn Moores gewiss und dabei betreibt er weiß Gott keine genuin linke Analyse der falschen Verhältnisse, sondern geriert sich vielmehr als emotionaler Moralist mit liberalistischer Attitüde und einem ordentlichen Hang zur Zivilcourage. Dass bei einem Mann, dessen ideologisches Gerüst vor allem die wortgetreue Auslegung der Verfassung darstellt, mit Vokabeln wie Entfremdung, Warenfetischismus und universellem Verblendungszusammenhang nicht sonderlich viel zu holen ist, dürfte auf der Hand liegen.

So beschreibt der Film letztlich eigentlich nicht mehr als den bloßen Umstand, dass populäre Menschen unter Organisationsstress leiden und nicht jedem Interviewer bereitwillig ein Drei-Stunden-Gespräch gewähren bzw. auch nicht fortwährend mit ihren Security-Guards besprechen, wer da gerade eigentlich des Platzes verwiesen wurde („Dabei sagte Michael Moore, dass er Kanadier liebt.“). Wenn Moore sich in seinen Filmen ziemlich unsubtil als hartnäckiger Querulant geriert, beschreiten Caine und Melnyk mit ähnlichen Methoden den umgekehrten Weg: Die angestrebte Destruktion des Images einer Pop-Figur führt zur Konturierung eines maulverdrossenen Nörgler-Paars, das einfach nicht begreifen will, warum es so wenig Aufmerksamkeit von seinem Gegenstand erhält, obgleich es doch mit einem ebenbürtigen Durchhaltewillen aufwartet.

Cannibals – Welcome to the Jungle

(USA 2007, Regie: Jonathan Hensleigh)

Die Amerikanisierung des Dschungels
von Sven Jachmann

Die zeitgenössische Renaissance des Splatterfilms drückt sich nicht bloß in der schlichten Entität zahlreicher Neuinterpretationen seiner klassischen Vertreter aus, sondern geht auch einher mit einer sukzessiven Transformation der ihnen zugrundeliegenden …

Die zeitgenössische Renaissance des Splatterfilms drückt sich nicht bloß in der schlichten Entität zahlreicher Neuinterpretationen seiner klassischen Vertreter aus, sondern geht auch einher mit einer sukzessiven Transformation der ihnen zugrundeliegenden Sujets und Motive, der man mit neuen Kategorisierungsversuchen, wie etwa dem so genannten Torture Porn, beizukommen versucht. 'Cannibals – Welcome to the Jungle' ist kein genuines Remake, dennoch drängt sich der Vergleich zu Ruggero Deodatos 1980 enstandenen Kannibalenfilm „Cannibal Holocaust' förmlich auf: Hier wie dort begibt sich eine Gruppe, in diesem Fall zwei sehr gegensätzliche adoleszente Pärchen, in die Tiefen des Dschungels; hier wie dort sind sie Vertreter westlicher Hegemonialmächte, angetrieben nicht nur vom Willen, ein Geheimnis zu lüften, sondern auch aus dessen Aufklärung entsprechendes Kapital zu schlagen, und hier wie dort bekommt der Zuschauer das quasi unverfälschte Destillat dieser Expedition präsentiert: nämlich die unbearbeiteten Aufnahmen des verschollenen Grüppchens, obgleich ungeklärt bleibt, wie dieses Rohmaterial in die Hände eines findigen Produzenten gelangen konnte, um einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden.

Natürlich gibt es auch Differenzen: Die beiden Pärchen sind keine Wissenschaftler, die das Andere, Naturwüchsige und deshalb zu Kolonisierende im unerschlossenen Territorium zu finden hoffen, sondern leicht zu begeisternde Mittzwanziger, denen vor allem der schnelle Ruhm und noch mehr das schnelle Geld vorschweben, nachdem sie vom mysteriösen Verschwinden Michael Rockefellers in Neuguinea, immerhin ein Sprössling des US-Vize-Präsidenten Nelson Rockefeller, unterrichtet wurden, der scheinbar eingeborenen Kannibalen zum Opfer gefallen ist. Aber auch die Authentifizierungsstrategie, die behauptete Echtheit des Filmmaterials und seine Aufbereitung, wandelt sich von einer Beobachterposition zweiten Grades in den unmittelbaren Blickwinkel: In 'Cannibal Holocaust' filmt sich ein Forschergruppe selbst bei der Suche nach den Hinweisen auf das Verschwinden einer zuvor ausgezogenen Forschergruppe, welche im brasilianischen Urwald das Leben eines mutmaßlichen Kannibalenstammes dokumentieren wollte. Nachdem das Filmmaterial ausfindig gemacht wird und der dokumentarische Blick ersten Grades bereits drastisch die Existenz der Kannibalen unter Beweis gestellt hat, folgt nun die Perspektive zweiten Grades: die Sichtung des vorgefundenen Filmmaterials, in dem sich die Anthropologen enthemmten Schlächtern gleich herrisch an ihrem Objekt verlustieren: Folternd, mordend und vergewaltigend drängen sie das Andere auf seine zu kolonisierende Position, bis die blutige Rache, das finale Gefressenwerden, erfolgt. 'Now we know, who the real Cannibals are', spricht es zum Schluss ein verstörter Kollege stellvertretend für den nicht minder verstörten Zuschauer aus, und der Kapitalismus-Diskurs lugt bereits um die Ecke.

Der wird in „Cannibals – Welcome to the Jungle' nicht unterbunden, jedoch zeitgenössischer Seherfahrung angepasst; es braucht scheinbar keine zwischengeschaltete Instanz mehr, weder um die Authentizität des Gezeigten zu untermauern, noch um es kritisch zu kommentieren. Denn wie in „The Blair Witch Project' wird das Material unbearbeitet, also 'unverfälscht' präsentiert, aber dennoch wird dieser Eindruck von einer personalen Erzählerinstanz beständig torpediert. Zu viele unlogische Schnitte verweisen auf die Künstlichkeit des Produkts (genauso wie die Akteure selbst, wenn sie regelmäßig die Kamera untereinander weiterreichen), zu viele Momente werden von der Kamera erfasst, in denen jeder überlebensympathisierende Mensch nur noch seine Füße in die Hand nehmen oder zumindest endlich das Handtuch resp. die Kamera werfen würde. Was echt sein könnte, diktiert einzig nur noch die Wahrnehmung der medialen Materialität, nicht derjenige, der sie auch noch verbalisieren muss, und diese Wahrnehmung ist nunmal nach rund 30 Jahren „Cannibal Holocaust' wesentlich geschulter.

So setzt sich die Spaltung der Perspektivierung, im Gegensatz zum Vorbild, gruppenintern fort: Rationalität vs. Hedonismus wird nun nicht mehr über zwei Forschergruppierungen verhandelt, sondern bereits im Kern verortet: Die hier präsentierte Gruppe bricht auseinander, nachdem das Hedonistenpärchen, lange Auseinandersetzungen über die spontan beschlossene Expedition vorausgehend, die Schnauze voll hat, den Proviant raubt und auf eigene Faust die Suche nach Rockefeller fortsetzt, wohingegen das Rationalistenpärchen zunächst erstmal mit der Suche nach dem Hedonistenpärchen beschäftigt ist, bevor es ebenfalls getötet wird. Diese unterschiedlichen Verläufe sind denn auch von den Kameras exakt aufeinander abgestimmt, will meinen, nach dem Überfall auf das erste Pärchen, setzt die Kamera des zweiten ein.

Und an dieser Stelle wird die Spaltung, die bisherig vielleicht plotimmanent erscheinen mochte, genremanifest: Genaugenommen haben wir es mit einem Hybrid, möchte man den Torture Porn denn als Subgenre anerkennen, zu tun: Im Gerüst des Kannibalenfilms schleicht sich der Torture Porn ein, und trotzdem referieren beide nicht mal entfernt in ihrer Präsentationshemmung auf die Kernelemente des jeweiligen Typus. Keine Folterungen, keine obligatorischen Fressszenarien, nirgendwo. Stattdessen: amerikanisch konnotierte Jugendliche im Urwald der Menschenfresser, deren Beschaffenheit ihren forschungsfreudigen Vorgängern in nichts nachsteht, obgleich bzw. weil ihre Herkunft scheinbar die Hybris diffus begleitet: Grenzkontrollen werden mit einem lapidaren 'I’m an American' quittiert, und das ist in etwa dasselbe Un- bzw. Selbstverständnis, welches schon in 'Hostel' die Figuren in die Bredouille trieb. Die Party wird also in den Dschungel verlagert, und sollte sie noch etwas Geld abwerfen, umso schöner, aber hierzu braucht es kein anthropologisches Erkenntnisinteresse mehr, sondern lediglich eine imaginierte Unantastbarkeit qua Nationalität, derer es in der Vorstellung der Figuren wohl einzig bedarf, um die Figur Rockefellers ausfindig zu machen. Aus organisatorischer Sicht jedenfalls kann das Vorhaben nur den sicheren Tod bedeuten: Die Nahrungsmittel sind auf ein Minimum beschränkt, auf einen Dschungelführer wurde verzichtet, und der Sonnenaufgang ist gleichbedeutend mit Katerstimmung. Was die Gruppe antreibt, ist ihr scheinbar unbeirrbarer Glaube, schon allein über die Rückversicherung ihrer nationalen Identität keiner Gefahr ausgesetzt zu sein.

Anders gesagt: Dem Dschungel droht nicht die globale Verdinglichung, sondern eine Amerikanisierung. Das Vergehen der Jugendlichen ist nicht ihre rationalistische Perspektive auf das Fremde, sondern die Perspektive ihrer Herkunft, und das erklärt dann auch die rückhaltenden Schauwerte des Films: Dass ihre Abstrafung nicht graphisch erfasst wird, mag dann das rächende Äquivalent zur von ihnen drohenden lebensweltlichen Okkupation sein. So wird dem Körper durch Marter nicht mehr Identität zugeschrieben, sondern er verschwindet, wird vom Dschungel unsichtbar verschlungen, so wie sich spiegelbildlich die Dominanz eines Lebensstils unsichtbar vollzieht. Ob dies nun allerdings beißenden Sarkasmus oder schnöden Konservatismus bedeutet, will noch entschieden werden.

Session 9

(USA 2001, Regie: Brad Anderson)

Augen / Blicke
von Sven Jachmann

Schön, wie der Film bereits mit der allerersten Einstellung sein narratives Prinzip etabliert: Die gewohnte Wahrnehmung wird hier buchstäblich auf den Kopf gestellt, dem Blick der Kamera sollte lieber mit …

Schön, wie der Film bereits mit der allerersten Einstellung sein narratives Prinzip etabliert: Die gewohnte Wahrnehmung wird hier buchstäblich auf den Kopf gestellt, dem Blick der Kamera sollte lieber mit Misstrauen begegnet werden. Gleichzeitig scheint sich hier eine entrückte Perspektive zu korrigieren; Erinnerungsfragmente zwingen den Blick förmlich zur Bodenständigkeit. Wir befinden uns in den Abgründen des unzuverlässigen Erzählens, und die Exposition lässt da keine weiteren Unschlüssigkeiten zu.

Im Auto unterhält sich Gordon, Chef seiner eigenen Gebäudereinigungsfirma, mit seinem Kollegen und Freund Phil über ein in Aussicht stehendes Engagement. Wir hören als erstes Phils Stimme, die mahnend und mit leicht autoritärem Unterton auf Gordon einredet. Im anschließenden Schuss-Gegenschusserfahren ist der Winkel jedoch ein wenig zu schief angesetzt, mit dem naheliegenden Effekt, dass beide aneinander vorbei zu reden scheinen und so recht dezent der Boden für die Skepsis in die Vertrauenswürdigkeit des Kamerablickes geebnet ist. Diese Methode ist heutzutage weiß Gott nicht neu; man könnte den Film abschätzig als Blaupause für Andersons drei Jahre später realisierten und von der Kritik hofierten „The Machinist' betrachten. Jedoch, und das ist es nunmal, was jede (auch vermeintliche) Genreerzählung zu einem hochkarätigen Diamanten schleift, der Weg ist das Ziel. Andersons Weg in „Session 9' ist unprätentiöser, vor allen Dingen erheblich selbstironischer ausgefallen, als im doch recht penetrant auf Verfall getrimmten Machinist. Sein Verlauf ist mit Spuren gespickt, Anhaltspunkten aber auch Irrwegen, die in erster Linie genregeschulte Sehkonventionen in die Enge treiben wollen.

Spätestens nachdem der Auftrag zur Sanierung eines seit den 80er Jahren leer stehenden Psychiatriegebäudes unter Dach und Fach ist, sich Gordon mitsamt seiner vierköpfigen Phalanx daran begibt, alle Artefakte des Vergangenen abzutragen, ist das Haunted-House-Motiv evident. 'Shining'-Referenzen, unheimliche Stimmen, zunehmende Spannungen in der Gruppe und so manche Szene, die direkt dem Baukasten des Horrorfilms entnommen sein könnte, zeugen davon. Insbesondere diese: Im Keller des Gebäudes findet Mitarbeiter Mike einen Karton mit den Unterlagen samt Tonbandaufnahmen einer ehemaligen Insassin. Neugierig an seinem Auge herumkratzend, öffnet er ihn mit Hilfe eines Messers. In einer schönen Parallelmontage sehen wir nun Gordon, der sich im selben Augenblick an der Wange verletzt; die düstere Tonspur leistet ihr übriges. Das Böse scheint entsprungen, Verdorbenes dringt hervor und wird von nun an die Gemüter in Beschlag nehmen. Meint man. Das ist auch gar nicht so falsch, allerdings wird sich dieses Böse von gar nicht allzu metaphysischer Natur präsentieren, wie der Film es konstant in seinem Duktus vorzugeben scheint. Stattdessen erweist sich das Auge selbst als schwächstes, angreif- wie manipulierbarstes, aber auch gefährlichstes Organ. Zahlreiche Detailaufnahmen, Gespräche, Inschriften, finale Attacken samt Vorgeschichte rücken es immer wieder an exponierte Stelle, so dass sich die anfangs etablierte Skepsis als vollkommen berechtigt heraustellen soll.

Nicht dem mutmaßlichen Haunted House ist die Gefahr inhärent, sie entspringt vielmehr dem fehlgeleiteten Blick nicht nur der Protagonisten: Unser Vertrauen in die Eindeutigkeit des Abgebildeten ist blanker Hohn.

Übriggebliebene ausgereifte Haltungen

(D 2007, Regie: Peter Ott)

Einen Matschwurf vom Abgrund entfernt
von Sven Jachmann

Grob gesagt läßt sich die Bandgeschichte der Goldenen Zitronen in zwei Phasen unterteilen: die Zeit vor und jene nach dem Mauerfall. Als Punk im Punk, als subkulturinternes Spiel mit Codes …

Grob gesagt läßt sich die Bandgeschichte der Goldenen Zitronen in zwei Phasen unterteilen: die Zeit vor und jene nach dem Mauerfall. Als Punk im Punk, als subkulturinternes Spiel mit Codes und Regeln einer starren Szene, die sich in den 1980ern entweder im plakativen Deutschpunk oder dem asketischen Straight Edge-Hardcore verfestigten, war ihr Auftreten zunächst auf die Irritation dieser missverstandenen Doktrin einer Selbstverwirklichung im Elend gerichtet. In Schlafanzügen und dererlei Verkleidungen mehr skandierten sie die Durchhalte- und Bekennerfloskeln der, ja, Mitstreiter einen Tick parolenhafter ('Für immer krank/ möchte ich sein/ für immer krank/ für immer bei der Krankenschwester/ für immer bei ihr sein') und vermengten das Klangschema mit Disco, Schlager, Glam, Pop, so dass dem Ergebnis bei noch so emsiger Suche keine Coolness oder Härte mehr abzuringen waren. Eine Identifikation mit den Inhalten war trügerisch (und sollte als Verfahren durchaus leitmotivisch auch das zukünftige Werk begleiten), weil sie stets mehr über den Zustand des Affen aussagen wollten, als ihn willfährig weiterhin mit Zucker milde zu stimmen. Diese Abgrenzung schien nach der 1986 erfolgten Tour im Vorprogramm der Toten Hosen, dem Bild-Skandal ums Stück 'Am Tag, als Thomas Anders starb' und Tim Renners 5-Jahres-Vertragsofferte bei Polydor zunehmend die letztverbleibende Möglichkeit, um nicht fortwährend vor einem Schnauzbartpulk das zur Farce geronnene Abbild der einstigen Parodie zu geben.

Das Publikum wurde dann ausgetauscht, als der Staat seine Fratze nicht mehr zu verbergen brauchte: Wiedervereinigung, Pogromstimmung in Hoyerswerda, Solingen etc. und Abbau des Asylrechts waren klare Wegmarken für eine politische Kultur des Regress, die auch ein reiferes Bandprofil forderten: Im Laufe der Jahre entwickelte sich hieraus eine völlig eigenwillige Collage aus HipHop, No und New Wave, Electro, Funk, Punk, Glamrock und eine Sprache der Zitation, die eigentlich kein genuines Autoren-Ich mehr kennt, sondern die Verhältnisse selbst durch Zitat und (Klang-) Montage erzählen lässt: vom gehorsamen Arbeitsethos, von verkrüppelten Beziehungen in den längst eingerissenen Sphären der Freizeit, vom Primat der Ware gegenüber dem Menschen, vom Revanchismus der Kunst.

Die Brüchigkeit des Kapitalismus setzt sich fort in der Identitätsverweigerung. So wie sich in den Songs die verschiedenen Stimmen und Positionen überlappen, gleicht auch die Bandstruktur einem Kollektiv, fernab vom zivilcouragierten Anstandsaufstand so vieler Phasenbetroffener: Töne werden nicht gespielt, sondern diskutiert eingesetzt, eine klare Zuweisung der Urheberschaft entzieht sich meist, und das Resultat pendelt zwischen gesungenem Diskurs und ästhetisierter Konsequenz einer nun mal missratenen Welt. Das ist keine Kritik, die konstruktiv im Parlament diskutiert werden will, sondern philantropisches Gespür für die Dialektik der guten Absicht, die sich trotzdem nicht zu echauffieren scheut.

Der Film bedient sich inszenatorisch dieses Prinzips. Inhaltlich zeichnet er akkurat die Historie nach, nutzt den Kommentar, setzt auf Talking Heads der einstigen wie derzeitigen Bandmitglieder oder sonst Involvierten, auf szenenahe Journalisten und Poptheoretiker. Aber er verweist gleichzeitig inhaltlich auf das Prozessuale, indem er die Bilder der Vergangenheit immer wieder mit den Studioaufnahmen der aktuellen Produktion kontrastiert, die ständige Reflektion abbildet, Gegenwart und Vergangenheit in Beziehung miteinander setzt und so dem Historisierungsverfahren der einschlägigen Rockumentarys entgeht. Da schreit so vieles nach Bruch und Relativierung: Die Interviews mit Urgesteine Ted Gaier und Schorsch Kamerun werden, teils dialogisch via Split Screen, von einem ergrauten Herrn verlesen, Gesprächspartner verschwinden aus dem verwackelten Bild oder sprechen im lauten Tumult eines Konzerts und sind kaum zu verstehen, minutenlange tonlose Archivbilder werden zur gegenwärtigen Studioaufnahme geschnitten. Alles macht deutlich: Dies hier ist nur ein Entwurf eines Verfahrens, das ständig in Bewegung ist. Entsprechend gleicht der Film einem Einordnungsversuch, dessen Schlusspunkt noch gar nicht eingetreten ist, dessen Bilder lediglich ein Deutungsangebot sind. Das mag für manchen eine elitäre Hermetik ausstrahlen; den Zitronen eher abholde Zeitgenossen werden sich durch den Film vermutlich nicht zu glühenden Anhängern wandeln. Daniel Richters Antwort auf die Frage, warum denn statt der Abgrenzung zum Schnauzbart nicht die Missionierung gewählt wurde, könnte genauso als Credo der Dokumentation herhalten (und spricht der Verweigerungshaltung des Punk wie der Autonomie der Kritik das Wort): 'Weil es die Mühe nicht wert ist. Du bist Künstler, weil du deinen eigenen Matsch verkleckern willst. Und wenn nur drei Leute sich bekleckern lassen wollen, dann ist das besser, auch für den Prozess, als wenn du auf dem Marktplatz stehst und Leute, die sich nun mal nicht bekleckern lassen wollen, mit Matsch beschmierst und die spannen alle nur die Regenschirme auf. Wozu soll das gut sein? Das macht dich nur unglücklich.'

Brinkmanns Zorn

(D 2006, Regie: Harald Bergmann)

Das Versprechen der Töne
von Sven Jachmann

Ein Spiel mit den medialen Realitäten: In „Brinkmanns Zorn' schnauft, grunzt, schimpft, trauert, monologisiert, dokumentiert der echte Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann jede Begebenheit ins Mikrofon, und all dies wird lippensynchron …

Ein Spiel mit den medialen Realitäten: In „Brinkmanns Zorn' schnauft, grunzt, schimpft, trauert, monologisiert, dokumentiert der echte Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann jede Begebenheit ins Mikrofon, und all dies wird lippensynchron von Eckhard Rhode ins Schauspiel und Bild übersetzt. Oder eben umgekehrt (der DVD-Directors Cut berücksichtigt auch Brinkmanns Super-8 Aufnahmen und unterlegt sie mit Dialogen und Monologen). Brinkmann schlägt auf Mülltonnen, erfasst das Schnattern der Enten, versucht penetrant wie empathiefrei seinen lernbehinderte Sohn zur Sprache zu führen, pinkelt in eine Nebengasse, beschimpft den Betonblock Köln usw. usf.

In Bergmanns Film wird das vorgefundene Material zum Destillat der Fiktion, und das lässt ihn irgendwo zwischen Dokumentar- und Spielfilm oszillieren. Hier sind alle Instrumente darauf ausgerichtet, dem Poeten Brinkmann ein filmisches Gesicht zu verleihen und zwar ausnahmslos mit Hilfe des bereits vorgefundenen Materials, den Tonbändern aus Brinkmanns Nachlass.

Der Film gibt sich redlich Mühe, aus den assoziativ vorgefertigten Dokumenten eine Geschichte zu entwickeln, weswegen das Präsentierte eben auch nicht als genuin Dokumentarisch begriffen werden sollte. Nicht der Schauplatz strukturiert das Geschehen, sondern es drängt umgekehrt das Geschehen dazu, den Schauplatz immer wieder aufs neue den Dokumenten zu überantworten, was gelegentlich nicht ohne Witz geschieht, etwa wenn ein Inlinekater das Szenario ohne Zweifel ins Hier und Jetzt befördert, obgleich der Schauplatz im Jahre 1973 angesiedelt ist.

Worum es Brinkmann geht: alles Erlebte, unmittelbar Gegenwärtiges detailgenau wie möglich mit Sprache zu fixieren und im Wissen um das Scheitern dieses Vorhabens aus der medialen Doppelung einen Bezug zur Wirklichkeit zu fixieren. Wohlwissend, dass dieser Vorgang keine Realität abbildet, aber vielleicht der Wahrheit am nächsten ist. Dieses Prinzip versucht sich auch Bergmann anzueignen, indem er den narrativen Rahmen den medialen Anforderungen anpasst. In den Wohnungen dominieren Halbtotale und Nahaufnahme den Bildausschnitt, unter freiem Himmel hingegen zittert die Kamera, entgleitet, verfolgt andererseits geradezu die Figur Brinkmanns, dem latent paranoide Züge nicht abgesprochen werden können und dessen Zorn sich fundamental an allem, ob Architektur oder Mensch, entlädt. Der Schnitt kopiert entweder seine Cut-Up-Technik oder die Kamera kontrastiert mit leichter Zeitlupe seinen assoziativen Wortschwall, um irgendwie eine Korrespondenz zwischen Ton und Bild zu finden, die in geschlossenen Räumen wiederum durch die Ruhe der Intimität ersetzt wird.

Hinter all dem verbirgt sich darüber hinaus noch die (eben erst durch den Film strukturierte) Biografie eines Künstlers, die Zurichtung des Materials zur erzählgeeigneten Plotkonstruktion oder eben ein unkoventionelles Verständnis einer adäquaten Literaturverfilmung. So wird Brinkmanns Methode in ein anderes Medium überführt, gleichzeitig aber auch eine in Teilen stimmige Biografie geformt. Die Impertinenz, mit der Brinkamm seinen sprachbehinderten Sohn zum Reden treiben will oder auch sein Umfeld unentwegt mit dem Mikrofon bedrängt, lässt die Ehe auseinanderbrechen und der Drang zum Dokumentieren erweist sich fortschreitend als Suche nach der Position des Subjekts in einer ausnahmslos durchverwalteten Welt, in der alles, die Wut wie die Trauer, die Literatur wie das Erleben, zumindest im brinkmannschen Verständnis, Kopie ist. Für diese Suche nimmt er also einiges in Kauf, und ob sie irgendwann mal von einem Ziel gekrönt worden wäre, bleibt ungewiss. Nach einer Lesung 1975 in Cambridge wird er von einem Auto angefahren und stirbt noch am Schauplatz. Ende der Geschichte.

The Wrestler

(USA 2008, Regie: Darren Aronofsky)

Ekstatische Körper
von Sven Jachmann

Darren Aronofsky ist ein Chronist des Untergangs. Und der (verborgenen) Süchte. Die Sucht wissen zu müssen, was die Welt zusammenhält oder ins Chaos stürzen wird, treibt den Mathematiker aus „PI' …

Darren Aronofsky ist ein Chronist des Untergangs. Und der (verborgenen) Süchte. Die Sucht wissen zu müssen, was die Welt zusammenhält oder ins Chaos stürzen wird, treibt den Mathematiker aus „PI' in die Paranoia, jene nach Glück, ein wenig Anerkennung und Unabhängigkeit mündet für die Protagonisten aus „Requiem for a Dream' in Abhängigkeit und Wahnsinn, dem unumkehrbaren Endpunkt. Der ist für jede Figur in Aronofskys Werk bereits mit der ersten Einstellung besiegelt, und der Weg dorthin ist ein dunkles Inferno aus Jump Cuts, Reißschwenks, Split Screens, ungewöhnlichen Kadrierungen, präzisem Musik- und Toneinsatz und dergleichen mehr – die Frage nach der verheerenden Wirkung sozialer Gewalt ist auch eine nach dem Einsatz der technischen Mittel. Der gesamte Apparat ist darauf ausgerichtet, das destruktive Potential der Selbstbehauptung in einer durch und durch abweisenden Welt zu beleuchten.

Das gilt auch für Randy the Ram, den einstmals in den 1980er Jahren begeistert gefeierten Starwrestler, von dessen Ruhm nur noch die Zeitungsmeldungen im Vorspann künden. Der Film setzt 20 Jahre später ein mit der Rückansicht auf Randy, der sich, hustend und körperlich schwer gezeichnet, in der Umkleidekabine einer Schulsporthalle von den gerade erduldeten Strapazen erholt. In dieser ersten Einstellung scheint bereits Aronofskys Abkehr von seinen stilistischen Manierismen durch: Das Schlachtfeld Leben wird nun vornehmlich auf den Körper selbst fokussiert, die einst exponierten inszenatorischen Mittel haben sich ihm unterzuordnen. Stattdessen wird das erwartete Bilderstakkato von der im Vergleich fast gediegen erscheinenden Handkamera Maryse Albertis ersetzt. Trotzdem ist bereits frühzeitig klar: Dies hier ist kein Pendant zur verspäteten Aufsteigergeschichte eines Rocky Balboa, der Sog in den Abgrund hat längst eingesetzt. Das zeigt sich nicht nur in Randys hilflosen Versuchen, seinem Leben, wenn auch verspätet, Halt zu verschaffen, nachdem er mit knapper Not backstage einen Herzinfarkt überlebt, der ihn für immer aus dem Ring zwingt: Der (seit Jahren vernachlässigte) wiederbelebte Kontakt zu seiner Tochter scheitert ebenso wie die Annäherungsversuche zur Stripperin Cassidy. Dass es soweit kommen konnte, ist Folge des Mythos einer Zeichenwelt, die Ruhm verspricht, aber mit ihm das Fundament der identitären Selbstbesinnung absorbiert: Randy ist Relikt einer vergangenen Epoche, und hieraus resultiert auch die Tragik der Story: nämlich seinem Unvermögen, diesen Status als Relikt weniger zu akzeptieren als überhaupt zu begreifen und damit, dass das, was er als Zeichen verkörpert, nur noch von einem kleinen Kreis Eingeweihter (oder Unbedarfter: Die ansässigen Kinder im Trailerpark bekommen gar nicht genug von The Ram) erschlossen werden kann. In manchen Momenten ist dies noch tragisch-komisch, etwa wenn Randy einen Nachbarsjungen durch ein pixeliges 8-Bit-Nintendospiel beeindrucken will, in dem er selbst eine Spielfigur ist, stattdessen aber schwärmerisch in die Finessen von „Call of Duty' unterwiesen wird. In den meisten Fällen ist es bitter: Die schlecht besuchten Autogrammstunden scheinen einzig eine Ansammlung geschundener und längst vergessener Imagekörper zu sein.

Den ekstatischen Körper sehen wir bei den seltenen Ringkämpfen. Dann ist die Kamera nah dran und der Schnitt folgt der Dynamik der früheren Werke. Das Gesicht bleibt aber oftmals ausgespart – den Fixpunkt bildet die maschinelle Funktion des Körpers Publikumsreaktionen zu erzeugen. Außerhalb des Seilgevierts folgt seine Manipulation: der Besuch beim Friseur, im Solarium, im Gym, der Konsum von Steroiden. Es folgt aber ebenfalls der Eintritt in eine Welt, in der der Körper seine Zeichenhaftigkeit verloren hat: Hinter der Fleischtheke, wo er wochentags zu arbeiten gezwungen ist, um die Miete für den Wohnwagen aufzutreiben, verblassen Randys Performerqualitäten: Die Kunden reagieren mit Irritation. Erst nachdem ihn ein Fan belustigt identifiziert, verschreibt er sich vollkommen der Welt im Ring, um daran zu scheitern.

Dies ist die Bruchstelle, zwischen der Randys In-Ring-Character und seine Identität verwischen und die abweisende Welt zum Vorschein kommt: Es ist nicht die Ruhmsucht, die Randy vor das Publikum treibt, sondern eine Einsamkeit, die durch die Kunstfigur erst geboren wurde und nur durch die Rückkehr in den Ring wieder behoben werden kann. Sie trat dann ein, als die Simulation ein Leben außerhalb ihrer selbst nicht mehr gewährte, als der Ruhm zum manifesten Fetisch wurde. Im Prinzip stellt Randy gleich zwei Simulationen dar: Hinter der Identität außerhalb des Rings lauert die Einsamkeit, auf den Performer wartet nur noch der Tod. Dass Mickey Rourkes zu Recht Oscar-prämierte Rolle einige Stationen dessen eigener Karriere reflektiert, mag richtig sein. Diese Sicht unterschlägt aber eine weitere Karriere eines tragisch gescheiterten Akteurs, dem das Sujet wohl den Großteil seiner Inspiration verdankt (und dabei wird mir wohl jeder, der Barry W. Blausteins Dokumentarfilm „Beyond the Mat' gesehen hat, beipflichten): Jake »the Snake« Roberts, dem 'echten' Randy the Ram.

Monga – Gangs of Taipeh

(TW 2010, Regie: Doze Niu Chen-Zer)

Beschränkter Charme
von Lukas Foerster

Am Anfang gehen die fünf Jungs noch in die Schule. Doze Niu filmt die Bildungsanstalt wie ein Gefängnis. Knastähnliche Uniformen, sinnloser Drill, beengte, entfärbte Gänge. Von Anfang an ist klar, …

Am Anfang gehen die fünf Jungs noch in die Schule. Doze Niu filmt die Bildungsanstalt wie ein Gefängnis. Knastähnliche Uniformen, sinnloser Drill, beengte, entfärbte Gänge. Von Anfang an ist klar, wohin die Bewegung gehen muss: raus hier, über die Mauer, in die bunten Straßen, zwar nicht unbedingt ins echte Leben, aber doch immerhin in den Gangsterfilm.

Die antimoderne Welt des Gangsterfilms wird – gerade im asiatischen Kino – strukturiert vom Ritual. Blutsbrüderschaft, Treueschwur, Religion. Doze Nius zweiter, mit seinen knapp zweieinhalb Stunden Laufzeit eindeutig zu lang ausgefallener Spielfilm „Monga“ beschreibt die Initiation einer Gruppe Jugendlicher in den Ritus. Fünf Jungs, drei davon hinreichend individualisiert: Dragon trägt eine Fokuhila-Frisur – der Film spielt in den Achtzigern – und ist nominell der Anführer, im Grunde aber ein Emo avant la lettre, die gesamte zweite Filmhälfte über ist er chronisch verheult und er scheint zu wissen, dass ihm das steht. Eigentlich hat der coole Macchiavellist Monk die Fäden in der Hand, der einzige, der ihm Paroli bieten könnte, ist der Neue: Mosquito, ein agiler Melancholiker und ewiger Außenseiter, dessen vier, fünf Gesichtsausdrücke allesamt in erster Linie Weltschmerz kommunizieren. Die beiden anderen, Monkey und A-Lan, prügeln sich einfach nur unbeschwert und unreflektiert durchs Leben.

Im heimatlichen Taiwan war „Monga“ ein veritabler Blockbuster. Mit der reflektierten, entschleunigten Ästhetik des Neuen Taiwanesischen Kinos (das durchaus auch Gangsterfilme hervorgebracht hat: Hou Hsiao Hsiens „Goodbye, South, Goodbye“; Edward Yangs „A Brighter Summer Day“) hat das alles natürlich nichts mehr zu tun. Eher erinnert „Monga“ an die Triadenfilm-Schwemme im Hongkong-Kino der neunziger Jahre: Etwa an die seinerzeit überaus erfolgreiche „Young and Dangerous“-Serie, in der stets perfekt frisierte Popsternchen mehrere Jahre lang durch Hochglanzkulissen rannten und sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Auch die fünf Jungs in „Monga“ sehen eher nach Mitgliedern einer Boyband aus, als nach Kleinkriminellen – und in der Tat sind die drei zentralen Schauspieler in Taiwan populäre Teeniestars.

Was dem Film im Vergleich zu noch den schwächeren Hongkong-Filmen fehlt, ist ein Begriff von seinem Handlungsort. Monga, das titelgebende berüchtigte Viertel Taipehs, nimmt nie hinreichend Gestalt an, alle Schauplätze wirken austauschbar, verflacht, aufdringliche Ausleuchtung ersetzt kohärente räumliche Inszenierung. Eine Szene ist in blaues Licht getaucht, die nächste in gelbes, die übernächste in rotes. Wie die Panels eines Comics.

Man mag dem Film zu Gute halten, dass er noch in seinem Pathos konsequent billig bleibt, dass ihm – abgesehen von einigen technischen Spielereien in der Anfangsphase – alles Prätentiöse fremd ist. Das gilt auch für die obligatorisch bittersüße Liebesgeschichte: Wenn die Prostituierte Ning und Mosquito im Bordell nebeneinander liegen und auf einem Walkman gemeinsam kitschigen Asiapop hören, während um sie herum die Betten knarren und die Freier stöhnen, dann bekommt Doze Niu die Erbärmlichkeit seiner Figuren und ihrer Welt für einmal tatsächlich ziemlich genau zu fassen. Aber es ist ein Glückstreffer: die Musik ist auch im restlichen Film auf ähnlichem Niveau und alles in allem natürlich affirmativ gemeint. Seinen beschränkten Charme verdankt der Film seiner unbedingten Hingabe an die Klischees der ostasiatischen Pulp Fiction. Aber wirklich gutes Pulp-Kino entwickelt in seiner Form ein Verhältnis zu den Klischees – nicht unbedingt ein kritisches oder subjektives, aber doch irgendeines, irgendeine Form semantischen Widerstands. Im Fall von „Monga“ sind die Beschränkungen der Klischees ganz klar die Beschränkungen des Films.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Crosby, Stills, Nash & Young – Déjà Vu

(USA 2008, Regie: Neil Young)

Patriotische Pazifisten
von Andreas Thomas

Es gibt einen alten Sketch von den Monthy Pythons, da rennt ein aufgeregter Rekrut zum General und ruft mit wichtig rollenden Augen: „Nein, ich will nicht mehr Soldat werden, denn …

Es gibt einen alten Sketch von den Monthy Pythons, da rennt ein aufgeregter Rekrut zum General und ruft mit wichtig rollenden Augen: „Nein, ich will nicht mehr Soldat werden, denn wussten Sie schon: MAN KANN DABEI GETÖTET WERDEN!“ Ein bisschen kann man diese Überraschung mit jener der bushtreuen Amerikaner vergleichen, die zuerst für den amerikanischen Angriffskrieg auf den Irak waren und sich nun wundern, dass sie seitdem eine stets anwachsende Zahl toter Soldaten zu beklagen haben.

In Neil Youngs (unter dem Pseudonym Bernard Shakey gedrehten) Film „Crosby,Stills, Nash & Young – Déjà Vu“ kommen versehrte und enttäuschte Irak-Veteranen zu Wort, um ihre Söhne trauernde Mütter, sich betrogen fühlende Wähler – und die durch Neil Young wieder belebte Band „Crosby, Stills, Nash & Young“, die sich ihrer politischen Rolle zu Zeiten des Vietnamkrieges rückerinnert und mit den von Young geschriebenen Protestsongs seines Albums „Living With War“ auf die US-amerikanischen Bühnen stieg. Der Film „Déjà Vu“ begleitet die Anti-Kriegs-Tournee vom Norden in den Süden der USA von den „blauen“ in die „gelben“ Staaten, dorthin wo die konservativen Republikaner dominieren, die mit ähnlichem Fanatismus George W. Bushs „war against terror“ bejahen wie sie die Leidenschaft der Lieder des deklarierten amerikanischen Patrioten (der eigentlich gebürtiger Kanadier ist) Young lieben, der nach den Anschlägen des 11. September noch den Einschränkungen der Bürgerrechte mittels des „patriot act“ zugestimmt hatte.

Nun geht eine Schockwelle durchs Publikum in Atlanta, das CSNY mit ein Paar Songs in schönste Country-Rock-Schunkellaune erhoben hat, als Young im gleichen sing-along-Duktus anhebt, man möge den Präsidenten wegen Betrugs unter Amtsanklage stellen. Ein Drittel verlässt mit erhobenen Mittelfingern den Saal, und mit dubiosen Argumenten: „Niemand, der nicht sein Leben für das Vaterland riskiert hat, darf den Krieg kritisieren und: die Regierenden sind doch viel klüger als wir“ (der Sprecher, ein junger Mann, beweist gleichzeitig, was er sagt), angstbestimmt und unreflektiert: „Die muslemischen Terroristen im Irak versuchen, alle freien Amerikaner zu töten“ (dass Al Quaida vor dem Krieg keinen Nährboden im Irak und dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen besaß, wird verdrängt) oder völlig hirnlos und angepasst: „Die Musik von Neil Young lieben wir, aber er ist leider ein bisschen politisch geworden, Sorry.“

Dass schon allein eine eigene politische Meinung einen Bürger disqualifizieren kann, darauf verfallen nur totalitäre Staaten, oder Staaten, in denen das Selberdenken aus der Mode gekommen ist. Aber eben weil das amerikanische Hirn durch Indoktrination obligatorisch unterfordert und das amerikanische Gefühl durch Panikmache permanent überfordert ist, gelingt es CSNY im Jahr 2006 ihr Land da abzuholen, worin es am tiefsten steckt: in einem so irrationalen wie nationalen Zustand der Enttäuschung und Ratlosigkeit, angesichts ansteigender Opfer unter den Soldaten. Wo bisher Paranoia und kindliche Verlassenheitsängste herrschen, bieten CSNY den Menschen nun stimmungsvolle Hymnen zum Mitsingen und Mittanzen an, neue Identifikationsangebote mit ihrer Nation, Lieder von der Hoffnung auf einen starken und entschlossenen neuen „Anführer“, möge er auch „schwarz“ oder eine „Frau“ sein, Lieder, die weniger gegen den Krieg als vielmehr nationalistisch und, wenn man es so übersetzen will, egozentrisch sind. Lieder für Menschen, die nur dann zu Pazifisten werden, wenn sie einen Krieg verlieren.

Auf der emotionalen Schiene erreichen die schönen alten und schlichten und die neuen ein wenig zu eingängigen Protest-Songs Eltern, die in Angst um ihre Töchter und Söhne leben, Vietnamveteranen, die angesichts des Irakkriegs eine Art Déjà Vu ihrer Vergangenheit zu erleben vermeinen und „Hippieveteranen“, auch sie genuin eher emotionale als intellektuelle Wesen, die im Rentenalter noch einmal einen Hauch von Hippienostalgie spüren dürfen. Mit Politik hat all das natürlich herzlich wenig zu tun.

Das Schlimme aber ist, dass es nur so zu funktionieren scheint: Eine Nation, die in der Lage ist, zweimal denselben Präsidenten zu wählen, der nicht nur nachgewiesenermaßen aufgrund einer bewussten Falschaussage Krieg über ein anderes Land gebracht, sondern auch menschenrechtswidrige Haftbedingungen und Foltermethoden eingeführt hat, scheint kaum mehr mit rationalen Argumenten erreichbar zu sein, sondern nur noch über ihr verletztes patriotisches Bauchgefühl. So sehen wir immer wieder weinende, gekränkte und gerührte amerikanische Staatsbürger, allzu oft die amerikanische Flagge und die Ästhetik der amerikanischen Militäreinrichtungen und allzu oft CNN-Bilder mit den unten eingeblendeten Zahlen getöteter amerikanischer Soldaten (Präziser Bodycount: 4113, Stand: 5.Juli 2008). Auf die Zahl der irakischen Kriegsopfer aber wartet man im Film vergebens, sie beruht freilich auch nur auf Schätzungen. Seit Kriegsbeginn im März 2003 sollen zwischen 650 000 und einer Million irakische Zivilisten umgekommen sein.

Das Deutsche Kettensägenmassaker

(D 1990, Regie: Christoph Schlingensief)

Blut und Boden und Schleim
von Andreas Thomas

Nur bei einer zu schreibenden Filmkritik war mir so mulmig wie bei dieser: bei der zu „The Third Society“ von J.A. Steel, dem bis an ihre stählernen Zähne bewaffneten, bis …

Nur bei einer zu schreibenden Filmkritik war mir so mulmig wie bei dieser: bei der zu „The Third Society“ von J.A. Steel, dem bis an ihre stählernen Zähne bewaffneten, bis in die tödlichen Haarspitzen durchtrainierten Kampfschwein, das mir ihre unvorstellbar misslungene DVD eigenhändig aus USA zuschickte: mehr ein Befehl als eine Bitte um Rezensierung. Und nun ist Schlingensief dran, der im Interview auf der DVD „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ selig lächelnd erzählt, wieviel Spaß es bei der Premiere des Films gegeben habe, besonders als dieser eine „Redakteur“ ihm sagte: „Was du machst, ist Scheiße!“ und er einen seiner Lakaien beauftragte, den Mann doch mal eben von hinten an den Eiern zu packen und hochzuheben. Was für ein Fest, als er dann vornüber fiel…

Auch sehr freue ich mich auf diese Kritik, weil eine tragende Rolle in diesem Film (Dietrich) von dem lieben Co-Herausgeber und Förderer der filmzentrale Dietrich Kuhlbrodt, dem Schlingensief-Fan Nummer 1 innerhalb der deutschen Filmkritik, verkörpert wird. Dass seine Gattin Brigitte Kausch (Brigitte) auch mitspielt, macht alles nur noch unverfänglicher.

Okay: Dieser Film ist nicht nur Scheiße, er ist mehr als das: Er ist Scheiße plus das Gedärm, das sie produzierte, plus Reste der Tiere, deren Gedärm die Scheiße produzierte. Wobei wir schon beim Allegorischen wären, denn von nichts kommt nichts, und in dieser „Überhöhung“ erst ist zu erkennen, dass wir alle Scheißer einer Scheiße sind, genauso wie wir alle Schiss haben und dass wir alle irgendwie irgendwo irgendwann entweder ver- oder ausgeschissen haben oder haben werden. Scheiße, eine deutsche Spezialität.

Scheiße spielt im „Deutschen Kettensägenmassaker“ nur eine vergleichbar untergeordnete Rolle – genau wie im Metzgereifach, denn hier geht es ums Handwerk, um das Zeug um die Scheiße herum, um den goldenen Darm-Boden und um die hohe Kunst der Wurstzubereitung, eine andere deutsche Spezialität – im Vergleich zur texanischen des T-Bone-Steaks. Verarschen lassen wir Deutsche uns nicht, aber verwursten.

Im Jahre 1990 hat der Westen mit seiner 41-jährigen, schon leicht inzestuösen, Wurst-Erfahrung unerwartet neues, ein wenig graues (konnte man dann mit Farbstoffen auf frisch trimmen) Rohfleisch aus dem Osten gewinnen können. Jenen Vorgang nannte man „Wiedervereinigung“. Und selbiges Ereignis war Anlass für diesen Film, dessen Drehbuch Schlingensief – einerseits inspiriert durch Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“, (Teil 1 und 2) andererseits durch die bananenschwenkenden, „Wir sind das Volk“-skandierenden Menschenmassen beim Grenzübergang Ost-West, innerhalb von 14 Tagen fertig hatte. „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ bringt der Slogan des Films die Geschichte auf den Nenner, und Schlingensief korrigiert im Interview etwa 10 Jahre später: „Nicht einmal Wurst, sondern einfach nur Grütze“ sei rückblickend aus ihnen, den Brüdern und Schwestern aus dem Osten, geworden.

Zur Handlung:

Clara (Karina Fallenstein) aus Leipzig macht zuerst Haustier und Gatten (Susanne Bredehöft) nieder, dann über die Grenze (noch pseudobewacht von u.a. VOPO Irm Hermann) nach Westen, wo sie sich mit ihrem Lover Artur (Artur Albrecht) verabredet hat. Doch Artur hat keinen ausgeprägten Sinn für Romantik. Seitdem er im Westen ist, ist er „gestählt“ und leidet unter Zeitmangel. So hat er für Clara, aus Wiedersehensfreude, gleich zwei Matratzen auf die Straße gelegt, damit es sofort los gehen kann. Sein Vergewaltigungsversuch aber misslingt, weil ihm der Schädel von einem debilen Teutonen (Volker Spengler) weichgekloppt wird. Dieser ist inzestuöses Produkt einer Westfamilie, die, seit die Mauer gefallen ist, in ihrem Mercedes-Cabrio durchs Ruhrgebiet zieht – ganz wie John Wayne in „Hatari“ – um die gutgläubigen Tiere des Ostens einzustimmen auf den großen Verkauf: Zuerst werdet ihr tot! (Auf welche Weise Ihr hernach Euer Fleisch opfert, ist unbedeutend!) Und schließlich werdet ihr gegessen!

Unsere Westler zieren ihre zwanghaften blutigen Tötungsdelikte mit deutschem, allzudeutschem Jargon. So besteht in Großdeutschland nun wirklich keine Gefahr mehr, missverstanden zu werden, und alles passt. Und wenn Udo Kier in einer Doppelrolle einmal als Hitler-Double mit einem Hakenkreuz als Oberlippenbart und später dann als USA-Rückkehrer (Johnny) (der er ja auch ist) auftritt, der überkandidelt eine Show daraus macht, wenn er seine mit Hochprozentigem beträufelte Vokuhila-Minipli entzündet („Johnny breeennt!“), dann ahnen wir, dass hier die Zeichen und Symbole sprechen – solange wir denken und nicht fühlen wollen, weil das ja unseren ganzen Hormonhaushalt und guten Geschmack nachhaltig infizieren könnte.

Alfred Edel spielt den Haupterben der deutschen Tragödie. Er tut es eingedenk des mit Totenkopf gefüllten Wehrmachthelms, den er als „Vater“ bezeichnet und den er nicht sterben lassen kann – weil er definitiv untot ist. Edel spricht den Chef der Metzgerei und Edel spricht uns den deutschen Vater, nach dessen simpler Leichen-Ordnung sich das Deutschland dieser Metzgerfamilie zurücksehnt – angesichts der doch komplexeren postmodernen Schlachte-Kultur – allein: der Nazi-Patriarch schweigt, damit Edel uns sagen kann, was er immer noch denkt. Genauso wie Hitchcock uns per Anthony Perkins verriet, was Frau Bates nicht mehr sagen konnte, aber wollte!

Überhaupt die Zombies hier, all die Untoten und all das Untote. Deutschland per se ist vergammelt, versammelt, verdammt und drin in dieser kruden, stümpernden Vergangenheits- und Gegenwartswurst. Letztlich einlassen müsste man sich schon darauf, dass im „Texas Chainsaw Massacre“ genau so viel Surrealismus steckt wie im „Goldenen Zeitalter“ eines Bunuel – um dessen deutsche Antwort als das zu begreifen, was sie wirklich sei….Denn wenn wir unser Unbewusstes denken, können wir uns freuen über einen der besten deutschen Filme der Nachkriegszeit, sollten wir aber beginnen zu fühlen, werden wir kapieren, dass Christoph Schlingensief uns bereits jetzt voll an die Eier/-stöcke genommen hat.

Die Dinge des kapitalistischen, westdeutsch-gewendeten ostdeutschen „life-style“ werden nicht mehr gezeigt, sondern rohest versinnlicht. Der gefühlte, wie eine Kettensäge vibrierende, Film-Text ist der der Gewalt, der psychotischen Finalität, und die erzählte Geschichte ist die vom Immerwiederkehren des Vergewaltigen, Massakrieren und Verdarmen. Der Film ist weit jenseits konventioneller Geschichtsklitterung angelangt, er geht triebhaft, hemmungslos und irrational dem latenten Paradigma der beiden vereinigten Deutschlands auf den Leim und deshalb bis zum Ende auf den Grund: „In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es egal, ob es gut ist oder schlecht!“

„Das Deutsche Kettensägenmassaker“ zählt, neben etwa von Sternbergs „Der blaue Engel“, Staudtes „Der Untertan“, Kluges „Die Patriotin“, Fassbinders „Lola“, Schlöndorffs „Die Blechtrommel“, zu den filmischen Schlüsselwerken der deutschen Geschichte, weil der Film Geschichte da verortet, wo sie eigentlich passiert: in dem, was feuilletonistischer Geist gern verdrängt, im puren Körper (und seiner Verwendung), und heute und gestern: im Grinsen des Totalkapitalismus, im systemimmanenten Verdikt zum mentalen Töten, Sterben, Quälen, Leiden. Der Film über das Irresein in Deutschland. Adorno nannte dergl. noch höflich: „Das Unbehagen in der Kultur“.

Zu wenig geschleimt?

Wenn Ärzte töten

(D 2009, Regie: Hannes Karnick, Wolfgang Richter)

Der alte Mann und das Meer
von Andreas Thomas

Leider fängt das Distinktionsproblem dieses Dokumentarfilms zum Thema Ärzte im Dritten Reich schon mit seinem Titel an, der sich so reißerisch wie ein B-Krankenhaus-Horror-Film gibt. Des Weiteren aber wussten die …

Leider fängt das Distinktionsproblem dieses Dokumentarfilms zum Thema Ärzte im Dritten Reich schon mit seinem Titel an, der sich so reißerisch wie ein B-Krankenhaus-Horror-Film gibt. Des Weiteren aber wussten die Regisseure Hannes Karnick und Wolfgang Richter anscheinend nicht so recht zu unterscheiden zwischen den Medien Buch und Film, weil sie Zweiteres benutzen als sei es Ersteres…

Seit Jahrzehnten erforscht der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton die psychischen Konditionen für Individuen in totalitären Gesellschaftssystemen oder ideologischen Zusammenhängen. Er beschäftigte sich mit den psychologischen Lebensbedingungen in der Volksrepublik China, befragte Überlebende der Atombombenabwürfe von Japan oder Vietnamkriegsteilnehmer, um deren mentale Strategien zu erforschen, mit Erlebnissen umzugehen, die über das Normalmaß hinaus belastend sein müssen.

Lifton untersucht gleichermaßen die Folgen für das menschliche Bewusstsein nach Kriegs- oder anderen Extremsituationen wie auch das ideologisch geprägte Denken einer großen Anzahl von Menschen, ohne welches Krieg und Homizid nicht möglich wären.

Zu ihnen zählen bekanntlich auch einige deutsche Ärzte, welche, angeleitet von Leuten wie Dr. Josef Mengele, direkt in Auschwitz einerseits mit zynischen medizinischen Experimenten an wehrlosen Opfern betraut waren, und denen andererseits, und zwar an oberster Stelle – das ist weniger im Bewusstsein der Öffentlichkeit – der Einsatz der Gaskammern, also die aktive Tötung der darin befindlichen Menschen überantwortet war. Vergasung als Ärzteauftrag, dergleichen Erkenntnis ist eine der besonderen, deren dieser Film eines Lobes zu würdigen sei.
Konjunktiv. Deshalb, weil ein Film Film ist und nicht tausend Worte machen kann wie ein Buch – aber Bilder, derer sich „Wenn Ärzte töten“ enthält, da wo es gut gewesen wäre.

Die Kamera verharrt meistens in Liftons spartanischem Studierzimmer und beobachtet den über achtzigjährigen Autor und Miterfinder der psychohistorischen Wissenschaft beim Nachdenken und Nachformulieren dessen, was 23 Jahre zuvor in seinem Buch „The Nazi Doctors“ redigiert und lektoriert und angesichts des Themas in gebotener Gründlichkeit erschienen ist. Mit jedem Satz, mit jedem Gedanken steigert sich der Eindruck, dass das Wesentliche hier nicht unterkommen kann, dass aber auch die gelegentlichen Fragen der beiden Regisseure eher die Kette der Liftonschen Gedanken unterbrechen, als dass sie dem Film helfen, auf einen thematischen Kernpunkt zu kommen: „Wie kommt es, dass Ärzte in kurzer Zeit zu Mördern werden können?“ heißt eine Frage, die direkt nach einer fünfminütigen Ausführung Liftons darüber, dass Ärzte sich prädestinierter als andere dazu fühlen mögen, über Tod und Leben zu entscheiden, weil sie sich seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte mit dem Mystischen assoziierten und auch assoziiert wurden, alles Gesagte annulliert und den Autor dazu zwingt, wieder neu anzufangen.

Und immer wenn Lifton etwas von Gewicht sagt, wie z.B.: „Nach dem Krieg hat mir ein Nazi-Arzt erzählt, dass er als Geburtshelfer jetzt Leben zur Welt bringt. Er hat dabei gedacht, dass er vorher Leben beendet hat, aber er hätte es nie gesagt“, dann wird sensibel eine dezente, nachdenkliche Musik über seinen Monolog geblendet, so dass wir auch alle mitbekommen, dass hier etwas ganz Empfindliches und Wichtiges gesagt wurde. Undenkbar wäre solch eine emotionale Lenkung etwa in einem Claude-Lanzmann-Film.

'Wenn Ärzte töten' wird die Leistungen von Robert Lifton sicherlich nicht schmälern, auch wenn der Film kaum Versuche unternimmt, Lifton näher zu kommen als es eine falsche Ehrfurcht nahe legt. Aber so bleibt es bei den Bewunderern, hinter der Kamera, des Denkenden, vor der Kamera, und bei den Pausen mit Musik und mit dem Blick auf die leichte Meeresbrandung, die der Zuschauer erhält, um nachdenklich sein zu dürfen.

Still Walking

(J 2008, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Normal ist, was sich sehen lässt
von Florian Reinacher

Einmal im Jahr kommt die Familie Yokoyama zusammen, um des ältesten Sohnes zu gedenken. Dieser, so erfährt man sehr früh, kam vor Jahren schon beim Versuch ums Leben, einen kleinen …

Einmal im Jahr kommt die Familie Yokoyama zusammen, um des ältesten Sohnes zu gedenken. Dieser, so erfährt man sehr früh, kam vor Jahren schon beim Versuch ums Leben, einen kleinen Jungen vor dem Ertrinken zu retten. Für einen lauen Sommertag entführt uns 'Still Walking' in ein kleines Küstenstädtchen, hinein ins Elternhaus von Ryota (Abe Hiroshi) und dessen Schwester Chinami (You), um diesem schönen, melancholischen Ritual beizuwohnen. Wie kaum ein anderer seines Faches versteht es der japanische Autorenfilmer Hirokazu Kore-eda dieses recht ereignislose Ereignis in seinen vielen teils ernsten, teils verspielten und zuweilen auch komischen Abläufen und Schattierungen auszumalen, ebenso die vielen kleinen und großen Geschichten aus dem Familienleben, die Geschäftigkeit und die Ruhe zu erzählen. Die ganze Festivität steht unterm Diktum der Alten, von der Zubereitung des Essens bis zu den nicht abreißenden Sticheleien des Vaters, für den der Zweitgebohrene eine konstante Enttäuschung ist. Dieser hat es nämlich versäumt, anders als sein toter Bruder, rechtzeitig in die Fußstapfen von Vater Shohei (Harada Yoshio) zu treten und den Arztberuf zu ergreifen, von dessen Prestige und überragender Wichtigkeit sich der Alte unumstößlich überzeugt zeigt.

Zu allem Überfluss bringt Ryota auch noch seine neue Ehefrau, die Witwe Yukari (Natsukawa Yui) und deren Sohn aus erster Ehe mit, was für den eigensinnigen Vater ein kaum zu verkraftender Affront gegen die Anständigkeit und das Gebot der Normalität darstellt. Und auf Normalität – dies wird nicht nur an der immer wiederkehrenden Frage danach deutlich – kommt es an. Die Normalität der Familie – und auch das ist typisch für die Filme Kore-edas – ist dabei immer bestimmt von einer gewissen Abwesenheit. Schon in seinem 2001 veröffentlichten 'Distance' versichern sich die Protagonisten ihres Normal-Seins erst durch das Sprechen über und das Erinnern an die abwesenden Personen. In 'Nobody Knows' erwarten die vier Kinder ständig die Rückkehr der abwesenden Mutter, bis diese Wartehaltung selbst normal wird und in seinem letzten Spielfilm 'Air Doll' von 2009 steigert sich die Abwesenheit eines Mannes sogar zur fantastischen Belebung einer Aufblaspuppe, die sich dann in Tokyo auf die Suche nach einer eigenen Identität aufmacht.

Die Totenfeier in 'Still Walking' entpuppt sich im Laufe der Geschichte als im doppelten Sinne verstellte Trauerarbeit. Auf der einen Seite gibt es das Außen des familiären Hauses. Dort ist der Ort einer Maskerade, welche die Familie als geschlossene idyllische Einheit zeigt. Der Vater ist dabei Teil des Spiels, wenn er sich von den Nachbarn auf seinen täglichen Spaziergängen immer noch als „Doktor“ anreden lässt, obwohl er seit langem seine Praxis wegen eines Augenleidens nicht mehr betreiben darf; die Mutter, die selbst beim gemeinsamen Aufstieg zum Friedhof – Anstiege, Hügel, Berge und Treppen kommen häufig vor in Kore-edas Filmen und lassen sich als äußere Zeichen einer inneren Überwindung lesen – der offenbar unverwundenen Trauer über den toten Sohn keinen Raum gibt und selbst am Grab, wenn auch auf sehr liebevolle Art, den Prozess des Abschieds in seinem einstudierten Ablauf konserviert; der Sohn, der sich mit dem Handy am Ohr geschäftig gegenüber den Nachbarn zeigt, obwohl der arbeitslose Kunstrestaurator hier in der Rolle eines Bittstellers auftritt. Im Inneren des Hauses ist die Trauerarbeit auf eine andere Weise verstellt. Hier zeigt sich, dass besonders der Vater den toten Sohn schon deshalb nicht verabschieden kann, weil er in einem ungerechten Verdikt auf ihn all jene Hoffnungen projiziert, die der Zweitgebohrene bisher enttäuscht hat.

Ryotas Frau Yukari befindet sich als Fremde in Mitten dieser beiden Welten und ist damit fast eine der interessantesten Figuren in Kore-edas Film. Im Haus erweist sich die Witwe als Reibepol, als „gebrauchtes Modell“, wie Ryotas Mutter Toshiko (Kiki Kirin) sie nennt, an dem sich Mutter und Tochter über viele kleine symbolische Details ihrer eigenen Überlegenheiten versichern können und für die der Vater zunächst nur unverhohlene Abweisung übrig hat. Sie ist zudem eine ungeschickte Lügnerin, der die moralischen Bedenken der falschen Aussage im Wege stehen, zu der sie ihr Mann überredet, damit dieser nichts über seine schlechten Verdienstverhältnisse erzählen muss und ohne die sie sich wahrscheinlich nahtloser ins Maskenspiel der familiären Konstruktion einlassen könnte. Sie stellt damit aber eben jene Konstruktion auch infrage und veräußert sie als Motiv einer Abwesenheit von Abwesenheit, die im Inneren des Hauses herrscht, das nämlich zu klein und zu dünnwandig ist, als dass so etwas wie ein wirklicher Rückzugsraum für den einzelnen möglich wäre.

Nach Außen hin ist sie jedoch ein notwendiger Teil des Ganzen, ohne den das Bild der intakten Familienstruktur im Sinne väterlicher Traditionsvorstellungen gar nicht funktionieren würde. Dies fällt bei den beiden Szenen auf, in denen man die nach außen hin wichtige Konstellation sieht: Beim Gang zum Friedhof auf dem sich Großmutter, Schwiegertochter, Sohn und Enkelsohn zur harmonisch melancholischen Reflexion über die Verstorbene zusammenfinden und gemeinsam den mühseligen Aufstieg zum Friedhof meistern; bei der Abschiedsszene, als der Patriarch zusammen mit der Großmutter den neuen Verwandten die Hand gibt, als äußeres Zeichen der Reverenz. Ohne diese Oberfläche einer vermeintlichen Geschlossenheit ist die Existenz einer erfüllten Familienidee nichtig, die von den Beteiligten immer wieder als die alles bestimmende Frage nach Normalität aufgeworfen wird. Was kann diese Normalität überhaupt noch sein, nachdem das katastrophale Ereignis die Strukturen der Familie so tiefgreifend erschüttert hat? Kore-eda beantwortet diese Frage nicht leichtfertig, handelt sie vielmehr über einen originär filmischen Kniff aus.

An Yukari und ihrem Sohn demonstriert er nämlich, wie es mit der Sichtbarkeit steht in 'Still Walking', was gesehen werden kann und darf, oder was sich zeigen lässt und was nicht. Es gelingt Hirokazu Kore-eda auf meisterhafte Weise, über die Strategien des Zeigens von Normalität im Film diese Frage zu reflektieren, indem er der Figur Yukaris so etwas wie eine funktionale Macht zuschreibt und so die Nebenrolle zur heimlichen Hauptrolle erhöht. Normalität wird hier buchstäblich als eine Nebensache vorgestellt, die es an sich nicht gibt und die zunächst nur in der Außenwahrnehmung, als deren inszenierte Geschlossenheit existiert. Mit dieser Verschiebung der Ordnung von Sichtbarkeit erweitert er nicht nur die Forderungen des Autorenfilms, den Film von der „Tyrannei“ des Bildes als narrative Begleiterscheinung zu befreien, ohne das Bild dabei zu suspendieren. Er schafft sich so auch ein Höchstmaß an bildnerischer Freiheit, wie sie nur selten anzutreffen ist im japanischen Gegenwartskino. Diese Freiheit braucht jedoch seine inneren Opfer und Kore-eda wird nicht müde uns eben dies in seinen Filmen immer wieder zu versichern. Die Gemeinschaften, die er aufruft, stellen die innere Distanznahme, die sich paradoxerweise aus einem Zuviel an Nähe ergibt, stets ins Zentrum ihres Wirkens und ringen den verschiedenartigen Begegnungen einen anderen Gebrauch sozialer Praxis ab. Er lotet die mentalen und körperlichen Kosten aus, die es braucht, um das soziale Band zwischen den Individuen in seinen Filmen gleichermaßen zu knüpfen und zu lösen.

Obwohl Kore-eda im Vergleich mit seinen früheren Versuchsanordnungen hier ein sehr persönlichen Bild zeichnet, in dem der Regisseur, wie er selbst sagt, vieles über das Verhältnis zwischen ihm und seinen eigenen Eltern preisgibt, fällt der Film, was das Experimentieren mit dem Möglichkeitsraum des Normalen angeht, nicht aus dem Rahmen seines Werkes. War es in 'Distance' noch die abgelegene Waldhütte, in der sich die Protagonisten zusammenfinden, um das Geheimnis über eine obskure Sekte zu lüften, der jeweils einer der Angehörigen zum Opfer gefallen ist, in 'Nobody Knows' die tokyoter Wohnung, die als innerer Ausschlussort fungiert, wo die Kinder vor dem Zugriff der Außenwelt sicher sind und zugleich von diesem Außen mehr und mehr abgegrenz werden, oder in 'Air Doll' die Junggesellenwohnung des vereinsamten Mannes, der dort seiner Obsession für Liebespuppen nachgeht, bis dieser Wunsch im buchstäblichen Sinne ein Eigenleben entwickelt und auf die Straße tritt, so erprobt Kore-eda hier die Porösität der elterlichen vier Wände. Er zeigt uns was es heißt, diese Durchlässigkeit durch Rituale und Normalisierung abzudichten, damit im Inneren ein Leben mit den Toten möglich ist. Dies gelingt ihm sowohl cinematographisch als auch narrativ auf wunderschöne Weise. Sein visuelles Einfühlungsvermögen, sein feiner Sinn für die Aufteilung von Raum und vor allem sein sensibler Umgang mit den stets als ambivalent vorgestellten Figuren, machen 'Still Walking' unterm Strich zu einem der sehenswertesten Filme dieses Kinoherbstes.

Erstveröffentlichung in: f.lm

Full Metal Village

(D 2007, Regie: Sung-Hyung Cho)

Integratives Bangen
von Sven Jachmann

Ihr Regiedebüt „Full Metal Village“ nennt die südkoreanische Regisseurin Sung-Hyung Cho – nicht ohne Ironie – im Untertitel einen Heimatfilm. Mit fast schon ethnographischem Blick portraitiert sie die innere Dynamik …

Ihr Regiedebüt „Full Metal Village“ nennt die südkoreanische Regisseurin Sung-Hyung Cho – nicht ohne Ironie – im Untertitel einen Heimatfilm. Mit fast schon ethnographischem Blick portraitiert sie die innere Dynamik des kleinen Dorfes Wacken, wie es sich allmählich auf den alljährlichen Ansturm zehntausender Metalfans zum bereits traditionellen Wacken-Open Air vorbereitet. Dieser kurzfristige Ausnahmezustand ist es, was die Dorfbewohner zusammenführt und den Rekurs zum titelgebenden Heimatfilm vollzieht. Allerdings steht hier nicht der unmittelbare Zusammenprall zweier vermeintlich gegensätzlicher Kulturen im Mittelpunkt. Dafür nehmen die 20 Minuten Festivitätenschilderung deutlich zu wenig Platz ein.

Zunächst bleiben wir lange Zeit allein mit den Bewohnern und ihren ganz alltäglichen Empfindungen, ihren Sorgen und Freuden gleichermaßen. Da wird von einem der ansässigen Bauern die semantische Breite des Rinderbegriffs erläutert und selbstgemolkene Milch unter stoischer Beobachtung auf 40 Grad erhitzt, Teenies trainieren für ihre ersehnten ersten Gehversuche als Model, arbeitslose Bauarbeiter betonen ihre Rolle als vergessene Pioniere des Festivals, rüstige Bauernpärchen bekunden etwas ruppig ihre bereits über 40 Jahre anhaltende Liebe, auch wenn der Mann später eingestehen wird, dass diese Zeit selbstverständlich nur mit „einer Freundin“ zu bewältigen sei. Diese Offenheit mag verblüffen, aber zu diesem Zeitpunkt haben wir schon einiges über die Methode der Regisseurin gelernt.

Einmal, relativ zu Beginn, ist sie vor der Kamera zu sehen, als ihr vom Bauer mit gutmütigem Lächeln der Unterschied zwischen Bullen und Ochsen erklärt wird, was sie nickend mit Nachfragen dankt, die vielleicht nicht ohne Grund etwas zu naiv anmuten. Wer den Untertitel „Ein Heimatfilm von Sung-Hyung Cho“ übersehen hat, darf sich nun jedenfalls nachträglich ihrer offensichtlich asiatischen Herkunft versichern. Denn dezent webt der Film auch einen Diskurs über Xenophobie im beschaulichen Idyll ein, der sich im weiteren Verlauf, nicht vordergründig, aber doch beständig steigert, bis er, die Symbolik ist nicht schwer zu entziffern, am Beginn des Festivals kulminiert. Auch wenn wir Sung-Hyung Cho nicht mehr sehen, ist sie doch präsent: gelegentlich als Off-Stimme, manchmal auch als angesprochene Protagonistin: „Kennt ihr das gar nicht?“ und “Bei uns sagt man dazu …“. Eine kleine Differenz zwischen ihr und wir ist bereits markiert. Später wird sich der arbeitslose Bauarbeiter über die billigen polnischen Arbeitskräfte echauffieren, Oma Irmchen en detail vom Schicksal Vertreibung sprechen, kurz darauf gar, wenn die Festivaltage gekommen sind, erneut die Flucht zur weit entfernt lebenden Freundin antreten, weil ihr die Satansanbeter und Friedhofschänder zu großes Unbehagen bereiten, während ihre Enkelin begeistert Geschichtsbücher zum Nationalsozialismus durchblättert, die in ihrer reißerischen Aufmachung sicher nicht der Schulbibliothek entliehen sind. Als kuriosen Höhepunkt könnte man dann ihre Aussage bezeichnen, beseelt von der Hoffnung, das Schicksal der Ostpreußen und iher Oma auch „richtig“ zu verstehen, dass ihr größter Wunsch darin bestände, einmal wenigstens für eine Stunde den Zweiten Weltkrieg mitzuerleben.

Man merkt durchaus, dass Sung-Hyung effektive Mittel gefunden hat, um ihre Figuren zum Sprechen zu bringen. Trotzdem dominiert der versöhnliche Tonfall. Das Dorfleben nimmt seinen Lauf, seine Bewohner wirken schrullig und völlig harmlos und werden mit dezentem Witz in Szene gesetzt, wie auch ihre Tätigkeiten, die sich vornehmlich um Vorbereitungsarbeiten drehen. Die Ruhe vor dem Sturm, die dann vorbei ist, als die Kühe ängstlich die Weide verlassen, wenn auf der Tonspur der Metalsound hereinbricht. Die dramaturgische Zuspitzung ist inszenatorisches Programm, doch ein Eklat bleibt aus. Die betrunkenen Besucher sehen allenfalls düster aus, ihr Gemüt aber ist freundschaftlich. Wenn die dörfische Blaskapelle auf dem Festival zum Tanze bittet, vereinen sich Bewohner und Besucher auf der Tanzfläche, jeder zwar mit seinem eigenen Ritual, aber die Welt scheint zu Gast bei Freunden.

Nun bestechen Gäste insbesondere durch ihre Eigenschaft, früher oder später wieder zu verschwinden. Die Demarkationslinie der gemeinsamen Begegnung ist offensichtlich, wird aber nicht weiter verfolgt: Für die Besucher ist der Festivalbesuch ein rauschdurchsetzter Kurzurlaub, für die Anwohner ein Abwechslung versprechendes Intermezzo, kurz genug, um keine ordnungsdestabilisierenden Erschütterungen zu hinterlassen. Die Präsenz der Regiesseurin zeitigt sich als Spiel mit Angst vor dem Fremden und handfesten Ressentiments, gleichwohl sollen sich all diese Denkstrukturen durch die reale und aktive Begegnung als null und nichtig erweisen. „Die sind gar nicht schlimm. Die sehen nur anders aus.“ Bis zu diesem Punkt bleibt die Kamera dabei. Zu einem „Und sie bleiben ja nicht für immer“ dringt sie nicht vor. Zum Schluss scheint sich das halbe Dorf einzufinden, um gemeinsam die unüberschaubaren Reste des Gelages zu beseitigen, dieselbe Sequenz, mit der der Film eröffnet wurde. Gemeinsam lässt sich das Andere erdulden, scheinen die Bilder zu suggerieren, und der Diskurs über Xenophobie, über die Heimat in der Fremde gerinnt notgedrungenen zum Arrangement mit dem Unvermeidlichen, weil Unabwendbaren und schließlich für wenige Tage Prosperität versprechenden. Die polnischen Arbeitskräfte hingegen werden Störenfriede bleiben, weil sie als imaginierte Konkurrenten den Platz auf dem „eigenen“ Feld beanspruchen. Auch das kann Heimat bedeuten, wovon „Full Metal Village“ dann aber doch, bei aller Herzlichkeit, kein Zeugnis ablegen möchte.

Malevil

(F / D 1981, Regie: Christian de Chalonge)

Was tun?
von Sven Jachmann

Die atomare Vernichtung braucht keine Bilder der Zerstörung, auch keine insgeheime Koketterie mit der unbändigen Kraft der totalen Vernichtung: Wenn sich im beschaulichen Naturidyll des französischen Dorfes Malevil urplötzlich die …

Die atomare Vernichtung braucht keine Bilder der Zerstörung, auch keine insgeheime Koketterie mit der unbändigen Kraft der totalen Vernichtung: Wenn sich im beschaulichen Naturidyll des französischen Dorfes Malevil urplötzlich die Detonation ereignet, befinden sich die sieben Protagonisten im Weinkeller des Bürgermeisters. Blitze flackern hinter den Türritzen, die steigende Hitze lässt die Eingesperrten sich fast zeitlupenartig winden und das folgende Schweigen ersetzt jeden Schauer des Infernos. Der erste Blick nach draußen fällt auf eine graue Steppe.

Im Kino der letzten Hitzeperiode des kalten Krieges war der große Knall nicht selten bereits beschlossene Sache. Auch in „Malevil“ gilt es nun vornehmlich zu klären, wie sich auf den Trümmern zukünftig Zivilisation noch denken ließe. Dass diese Verhandlungen vor allem schweigend stattfinden, sich in den Handlungen beweisen, weil scheinbar niemand die Ursachen der Katastrophe kommunizieren möchte, verleiht dem Film seine entrückte Stimmung, irgendwo pendelnd zwischen endgültiger Resignation und stiller Hoffnung auf einen archaischen Neubeginn. Fast pittoresk fährt die Kamera das ausgetrocknete Flussbett ab, die verstummten Vogelgesänge werden von den Figuren simuliert. Aber es bleibt bloß Spiel mit der Normalität im Nirgendwo. Alle finden ihre Aufgaben, ohne dass es großen Austauschs bedarf, autark versucht man sich in der Burgruine einzurichten, und es soll auch tatsächlich gelingen, obgleich es der Intensität der Endzeitstimmung keinen Abbruch beschert: Da scheinen die Bedeutungen von Gesten und Aussagen längst als Relikt des vorherigen Lebens irgendwo unterm Aschehaufen zu verkümmern oder wollen neu gefunden werden. Aber die langen Einstellungen der Gesichter zeugen von der Furcht vor der Ungewissheit, die nur durch kleine Lichtblicke, wie einer sich langsam entfaltenden Liebe, erhellt wird.

Bis hier ist „Malevil“ eine bedrückende Parabel des unabdingbaren Durchhaltewillens des Menschen gegen jede politische Gewalt, schlimmstenfalls eben auch gegen die eigene Vernichtung. Mit dem Auftritt einer zweiten Gruppe, die sich unter der Herrschaft des faschistoiden Führers Fulbert in einem Zugtunnel eingerichtet hat, schlägt dieses Verfahren über in einen Disput der politischen Selbstverständnisse, an dessen Ende der blanke Verteilungskampf steht. An dieser Stelle gerät die flottierende Stimmung des Films ins Wanken. Was zuerst, dank der surrealen Inszenierung der vernichteten Welt als Raum und Abbild der Befindlichkeit der in ihr Überlebenden, die undurchscheinbaren Motivationen der Figuren skizzierte und somit das Gefühl der Ausweglosigkeit äußerlich wie innerlich erfasste, gerät ein wenig zu einem Stellvertreterkrieg, aus dem jedoch nicht so recht ersichtlich wird, weshalb er eigentlich geführt wird, scheint doch jeder vom Regime Fulberts abgestoßen zu sein. Glücklicherweise verkommt dieser Konflikt jedoch nicht zum sozialdarwinistischen Kommentar, sondern bleibt politisch motiviert. Das gilt auch für den pessimistischen Schluss, in dem Helikopter jäh in die langsam wieder gestaltbare Welt einbrechen. Das Gebiet wird evakuiert und zur militärischen Experimentierzone erklärt. Aus ihren schockierten Gesichtern ist abzulesen, dass den Überlebenden die Entscheidungsfähigkeit, welche ungewisse Zukunft nun die aussichtsreichere sei, langsam abhanden gekommen ist.

Poison

(USA 1991, Regie: Todd Haynes)

Identitätsfalle Genre
von Sven Jachmann

Dass queer nicht einzig auf den geschlechtsspezifischen, sondern auf die Irritation jedweden Identitätsbegriffs referiert, kann nun in Todd Haynes Debütwerk, welches gern als Initialklassiker des New Queer Cinema apostrophiert wird, …

Dass queer nicht einzig auf den geschlechtsspezifischen, sondern auf die Irritation jedweden Identitätsbegriffs referiert, kann nun in Todd Haynes Debütwerk, welches gern als Initialklassiker des New Queer Cinema apostrophiert wird, in aller Ruhe nachvollzogen werden. Wie auch in seinem Bob Dylan-Biopic „I`m not there“, in dem nicht weniger als sechs verschiedene Schauspieler der Figur Dylan ein Gesicht verleihen, ist auch bereits in „Poison“ diese zentralmotivische Ausrichtung in Haynes Schaffen spürbar.

Der Film erzählt drei ineinander verwobene Geschichten, die formell und narrativisch zwar wenig, motivisch aber sehr viel gemein haben: „Hero', „Horror' und „Homo'. Stilistisch einer TV-Reportage gleichend erzählt „Hero“ die Geschichte vom siebenjährigen Richard Beacon, der seinen Vater tötete und anschließend, laut Aussage seiner ihn in höchsten Tönen idealisierenden Mutter, einfach aus dem Fenster flog. Er selbst bleibt, mit Ausnahme einer kurzen Einstellung, abwesend; es sind die interviewten Gesichter, die uns Einblick in sein Seelenleben verschaffen. „Horror“ indes steht in der Tradition der 50er Jahre SciFi- und Horror-B-Filme und transformiert die darin eingelagerte (folgt man zumindest einer fast schon zur Kulturgeschichte verdichteten Rezeptionsebene) Kommunismusparanoia in eine sehr offensichtliche Aidsparabel.

In herrlich kruder Laboratmosphäre isoliert ein Wissenschaftler den Sexualtrieb, und nachdem er, abgelenkt durch seine neue Assistentin, versehentlich von der Mixtur trinkt, überfällt ihn eine Art Pockenpest, die nicht nur die Libido verstärkt, sondern sich durch Körperkontakt epidemieartig verbreitet. „Homo“ zuletzt arrangiert Elemente des Knast- und Arthouse-Kinos zu einer tragischen Liebesgeschichte zweier Inhaftierter, die sich bereits aus ihrer gemeinsamen Zeit im Erziehungsheim kennen und im machistischen Milieu der Institution gezwungen sind, ihre Homosexualität einzig als sadomasochistische Herrschaftsbeziehung auszuleben, um der Ausgrenzung zu entgehen. Was bei dem einen über Verdrängung kanalisiert wird, mündet bei dem anderen in der Adaption dieser Gewaltverhältnisse und letztlich in einer Vergewaltigung.

Verbindendes Element der drei Geschichten ist die Stigmatisierung der Außenseiter-Figuren. Dabei steht nicht ein Plädoyer für die Akzeptanz des Unbekannten im Fokus, sondern die Reaktionen der Umwelt auf potentielle Erosionsgefahren des status quo. Das zeigt sich bereits in der Verbindung des scheinbar Unverbindlichen: Die Leerstellen zwischen den Sequenzen drängen zu ihrer Unterfütterung mit Sinnrelevanzen, zumal sie selbst bereits das identitäre Gefüge der einstmals schließlich originären Genreerzählungen aufbrechen, sei es mit Mitteln des Experimentalfilms oder mit erzählfremden Kameraperspektiven. Inhaltlich erweisen sich die Erzählstränge zunehmend als Panoptikum individueller wie struktureller Exklusionsmechanismen gegenüber allem als deviant Deklariertem: Der kleine Richard ist ein Schwächling und wird dafür mit Prügel bedacht, gegen die er nicht mal aufbegehrt, sondern sie sogar forciert; der entstellte Wissenschaftler wird von einem Mob durch die Straßen gejagt, bis er, nach einem kurzen Appell an die Meute, in den sicheren Tod springt (Masken seines Konterfeis werden gleich vor Ort verkauft). Die Häftlinge unterliegen einem derart rigidem System der Selbstverleugnung, dass die einstmalige Misshandlung des einen (mit geöffnetem Mund muss er sich von seinen Folteren bespucken lassen) die Stimulation seines Vergewaltigers befördert, dessen Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit sich beständig als kitsch-poetischer Kontrast zum trist-grauen Knastalltag offenbart, bis die Realität die Bilder einholt und grausam überschattet.

Haynes spielt hier mit der strengen Codierung dichotomer Zeichensysteme: das, wie es ist schließt das, wie es sein könnte bereits kategorisch aus. Roberts Identität wird uns durch seine Abwesenheit als Konstruktionsleistung seines Bekanntenkreises vermittelt, die sich in ihrer Diagnose des pathologischen Befunds einig sind und das Erinnerungsvermögen des Häftlings hat sich der milieuspezifischen Realität solange unterzuordnen, bis es von ihrer Gewalt bis in die letzte Faser durchdrungen ist. Aber so unmöglich innerdiegetisch ein Ausbruch aus diesen Gesellschaftsgesetzen auch sein mag, so konsequent wird er dann doch in der Transformation der Genremodi vollzogen.

Breaking the Waves

(DK 1996, Regie: Lars von Trier)

Religion revisited
von Andreas Thomas

Spätestens seit Nietzsche wird jeder halbwegs aufgeklärte Mensch die filmische Thematisierung eines Gottesopfers als etwas problematisch empfinden, was Lars von Trier ('Europa', 'Die Idioten') nicht davon abgehalten hat, 1996 dem …

Spätestens seit Nietzsche wird jeder halbwegs aufgeklärte Mensch die filmische Thematisierung eines Gottesopfers als etwas problematisch empfinden, was Lars von Trier ('Europa', 'Die Idioten') nicht davon abgehalten hat, 1996 dem Kinogänger mit 'Breaking the Waves' genau diesen Stoff, im Brustton der Überzeugung, zuzumuten. Dass der Film mit Preisen überschüttet wurde, ist entweder Beleg für eine orientierungslose Filmkritik oder für die Raffinesse eines der intelligentesten Filmemacher der Gegenwart

Die junge, naive und kompromisslos empfindsame Bess, Mitglied einer kleinen, streng religiösen Gemeinde an der schottischen Küste zu Beginn der siebziger Jahre, heiratet Jan. Was seine Freunde verwundert: Nach der Trauung gibt es kein Glockengeläut. Die puritanische Gemeinde besitzt aus Prinzip keine Kirchenglocken. Weil Bess das Leben ohne Jan, der wochenlang auf einer Bohrinsel arbeiten muss, nicht erträgt, betet sie in einem ihrer vielen Zwiegespräche zu 'Gott' (wobei sie 'Gottes' Antworten sich selbst mit sonorer Stimme gibt), dass Jan für immer bei ihr bleiben kann. Als Jan nach einem Arbeitsunfall als fast vollständig Gelähmter zu ihr zurück gebracht wird, gibt Bess sich selbst die Schuld. Jan, angesichts der Hoffnungslosigkeit seines Zustandes, und weil er Bess ein glückliches Leben ermöglichen will, bittet Bess sich einen anderen, fähigen Liebhaber zu suchen. Weil Bess darauf mit absolutem Widerwillen reagiert und ihre Freundin Dodo ihm klar macht, Bess würde alles für ihn tun, versucht er Bess glauben zu machen, er selber würde darin einen Ersatz für ihr gemeinsames Sexualerleben finden, und es würde ihm dadurch wieder besser gehen, wenn sie sexuell mit anderen Männern verkehrt, und ihm davon berichtet. Im festen Glauben, Jan mit ihren Kontakten zu helfen, versucht Bess vergeblich einen jungen Arzt zu verführen, masturbiert sie angeekelt einen Mann in einem Bus, lässt sich von einem anderen neben einer Straße penetrieren, erstattet Bericht – alles ohne Erfolg: Jans Zustand verschlechtert sich. Da Bess‘ Aktivitäten der kleinen Gemeinde nicht verborgen bleiben und sie den Fehler begeht, während eines Gottesdienstes zu sprechen, was Frauen streng untersagt ist, wird sie exkommuniziert, und schließlich, als Maßnahme des jungen Arztes zu ihrem Schutz in eine Psychiatrie eingewiesen, aber sie kann fliehen. Als aber dann 'Gott' ihr im Gebet nicht mehr antwortet und sie von Dorfjungen als 'Nutte' verhöhnt und mit Steinen beworfen, von ihrer eigenen Mutter ausgestoßen wird, vollzieht sie ihr Opfer: Sie begibt sich als Hure bewusst auf ein Schiff mit zwei gewalttätigen Matrosen – auf der Hinfahrt spricht 'Gott' wieder zu ihr- und stirbt bald darauf an ihren Misshandlungen im Krankenhaus.

Dem wie durch ein Wunder geheilten Jan, der weiß, dass 'sündige Seelen' wie ihre in ihrer Gemeinde der Hölle überantwortet werden, gelingt es mit seinen Freunden ihren Leichnam aus dem Sarg zu stehlen und ihr auf der Bohrinsel eine Seebestattung zu ermöglichen. Am Morgen wird er geweckt, weil hoch am Himmel über der Bohrinsel Glocken hängen und läuten.

Die Geschichte von Bess lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Eine junge Frau opfert ihr Leben für das Leben ihres Mannes. Für sich genommen ist das der Stoff einer tragischen Liebesgeschichte und durchaus vorstellbar, wenn auch selten genug. Aber 'Breaking the Waves' handelt auch von einem Wunder und von einem Gott, der dafür das Opfer fordert, und hier beginnt das, was den Film schwer verdaulich macht. Denn eigentlich ist nicht mehr erkennbar, ob Bess sich für Jan opfert oder für ihren Gott, dessen (sichtbares!) Ziel nicht ihr (irdisches) Glück, sondern ihr physisches Leiden und ihr Tod ist, und Bess‘ Geschichte wäre leichter nachvollziehbar, solange sie erkennbar aus einem Irrglauben heraus geschähe, aber durch Einführung eines wundertätigen Gottes am Ende wird dessen Existenz behauptet,- vor allem aber dessen unmenschliche Praxis sanktioniert. Wer immer schon Probleme damit hatte, der Passionsgeschichte Christi einen Sinn abzugewinnen, wird hier gnadenlos daran erinnert: Alleingelassen und schwach, dem Spott der Kinder ausgesetzt, annähernd gesteinigt, schiebt Bess ihr Mofa, als würde sie ihr Kreuz tragen. 'Mein Gott, warum hast du mich verlassen?' soll Jesus im Todeskampf gesagt haben, 'Es war alles nicht wahr.' sagt die sterbende Bess, die gesehen hat, dass Jan trotz ihres Martyriums noch nicht geheilt ist. Am Morgen nach ihrer Bestattung läuten am Himmel die Glocken für alle hörbar, sie ist auferstanden, wie Christus an Ostern. Bess ist eine Heilige, eine Märtyrerin.

Gnadenlos ist der Film vor allem dadurch, dass er hervorragend gemacht ist. Die von Emily Watson hinreißend gespielte Bess nimmt uns so sehr mit in ihre Wahrnehmung, dass wir am Ende ihrer Logik folgen und unserer eigenen misstrauen müssen. Die (auf Breitwand formatierten) wackeligen Handkameraaufnahmen erzeugen eine bis dato im Kino selten gesehene Präsenz und Authentizität, eine Technik, die sich erst mit dem später von Trier mitbegründeten 'Dogma-Stil' etablierte. Eine mit viel Hingabe und Können gearbeitete Filmerzählung mit einer zweifelhaften Kernaussage? Unterstellt man (dem zum kritischen Katholiken konvertierten Atheisten) Lars von Trier gute Absichten, kann man – mit ein wenig Toleranz – zu folgendem Ergebnis kommen:

Alles, was Bess tut, tut sie aus reiner Liebe, nur um Jan zu retten, und beinahe widersinnigerweise rettet sie ihn auch genau deswegen. Die Unbedingtheit einer spirituellen Überzeugung ist für uns museal. Die Naturwissenschaft (unsere moderne Gottheit) lehrt uns, so lange an unseren Erkenntnissen zu zweifeln, bis ihr Gegenteil erwiesen ist. Bess in ihrem Glauben wider jegliche Vernunft praktiziert das exakte Gegenteil dessen, worauf unsere atheistisch-rationale Zivilisation stolz zu sein sich angewöhnt hat. Vielleicht könnte eine Verortung des Menschen seiner selbst in der Welt mehr sein als eine Anhäufung von zufälligen Notwendigkeiten, sie könnte, auch ohne einen Gott, eine Art spirituelles Credo beherbergigen. Aber wie dem auch sei: 'Breaking the Waves' bleibt ein kleiner Geschichtsexkurs der christlichen Religion inclusive deren Perversitäten. Welchen Standpunkt man zu diesem Film auch bevorzugt, er wird einem alles andere als bequem gemacht. Dies ist der Affront, den uns Lars von Trier beschert, und er versteht dabei die Meisterschaft, weder die eine, die vernünftige, noch die andere, die religiöse Seite überzeugend und unhinterfragt siegen zu lassen. Trier proklamiert zwar den Gott und das Wunder, aber man meint dabei, ein hinterlistiges, fast gemeines Augenzwinkern zu entdecken.

Er zeigt uns Konflikt und Reibung, und er beweist mit 'Breaking the Waves', dass in Sachen Religiosität vielleicht noch nicht das allerletzte Wort gesprochen worden ist – oder vielleicht doch? Es gelingt von Trier dem Zuschauer geistige Mühsal aufzubürden. Wer Filme zur Entspannung benötigt, sollte 'Breaking the Waves' tunlichst meiden.

Dorfpunks

(D 2009, Regie: Lars Jessen)

Kommerzpunk
von Andreas Thomas

Platsch! Ein Riesenwelle überrollt einen gelangweilten Jüngling, ein paar laute, schnelle Akkorde: Slime skandieren: Weg mit dem Scheißsystem. Punk ist Anfang der Achtziger auch endlich in der norddeutschen Provinz angekommen. …

Platsch! Ein Riesenwelle überrollt einen gelangweilten Jüngling, ein paar laute, schnelle Akkorde: Slime skandieren: Weg mit dem Scheißsystem. Punk ist Anfang der Achtziger auch endlich in der norddeutschen Provinz angekommen. Einen „Jugend-Tsunami“ nennt Rocko Schamoni das Ereignis, das sein Leben grundlegend neu definiert hat. In seinem autobiografischen Roman Dorfpunks ist dies eine Metapher, im gleichnamigen Film von Lars Jessen („Am Tag als Bobby Ewing starb“) wird die Punk-Taufe zum plitschnassen Mitfühlkino.

Mit recht konventionellen Mitteln versucht Jessen dem Trumm eines Phänomens nahe zu kommen, das schon das anekdotische Memoirenstück von Schamoni postum nur mühsam zu transzendieren verstand. Eine rapide zu Zeichen, Sprache und Style mutierte jugendliche Kulturrevolution, die im Buch dahinter noch spürbar, im Film aber überlagert ist von fast dreißig Jahren Post-Punk, Funpunk, Kommerzpunk. So sieht der stets neckisch lächelnde Roddy Dangerblood (Cecil von Renner), der Held aus dem schleswig-holsteinschen Schmalenstedt, im Film schon aus wie die Schwiegermüttersöhne einer weichgespülten Band wie Green Day, und der im Film durchdefinierte MTV-Body seiner (im Buch diversen, hier zu einer zusammengeschnurrten) Angebeteten, trägt keine Spuren der alternativ-punkigen oder Popper-Ambivalenzen der achtziger Jahre mehr.

Was eigentlich am besten an „Dorfpunks“ funktioniert, ist das Milieu, das platte Land und dessen derb-lakonische Bewohner, das „Leben an der Peripherie“, wie Jessen es bezeichnet, das sich bis heute kaum verändert hat. Für Roddy und seine Clique von typgerecht besetzten Landeiern mit überzeugenden Laiengesichtern ist Punk die Initialzündung, um sich von der Lethargie zu befreien und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. „Gestern waren wir noch scheiße, heute sind wir eine Band.“ Und nach dem Bandstand: „Zweitletzter zu sein ist irgendwie scheiße, letzter zu sein ist geil!“ Schon manchmal blubbert im Film der wahre Schnack, die wahre Stumpfheit, der wahre Punk nach oben. Zu vereinzelt aber sind diese Blasen der Beobachtung und dem Film will nicht recht gelingen, mehr zu sein als die Summe dieser Teile, so als zitiere er nur, aber als wisse er nicht, wovon er spricht.

Punkig ist Rocko Schamonis Einleitung im Presseheft: „Die Bilder sind eigentlich völlig egal, Schauspieler – nicht so wichtig, Inhalt – ergibt sich schon irgendwie, entscheidend ist der Sound. In diesem Fall haben wir einige der besten Songs der frühen 80er lizensieren dürfen.“ Der Mann wird wissen, wovon er spricht – Lars Jessen sagt: „Rocko hat mir Sachen vorgespielt, von denen ich noch nie etwas gehört hatte.“ – Ich sage: Es ist faszinierend zu sehen, wie ein Film es schaffen kann, die versammelte Energie seiner Film-Musik aufzuheben. Oder ist Punk etwa doch tot?

Das Fest

(DK / S 1998, Regie: Thomas Vinterberg)

Der Patriarch, der Täter
von Andreas Thomas

Christian, Ende Zwanzig, beschuldigt seinen Vater, einen wohlhabenden, saturierten Hotelier, ausgerechnet an dessen 60. Geburtstag und vor versammelter Gästeschar, ihn und seine Schwester in deren Kindheit wiederholt sexuell missbraucht zu …

Christian, Ende Zwanzig, beschuldigt seinen Vater, einen wohlhabenden, saturierten Hotelier, ausgerechnet an dessen 60. Geburtstag und vor versammelter Gästeschar, ihn und seine Schwester in deren Kindheit wiederholt sexuell missbraucht zu haben. Vier Kinder haben der Hotelier Helge und seine Frau herangezogen, von denen Tochter Linda den Freitod gewählt hat. Wie ihr Zwillingsbruder Christian hat die erwachsene Linda unter Depressionen gelitten, bei ihm führten sie zu psychotherapeutischen Maßnahmen. Der Tod der Schwester brachte ihn offenbar zum Handeln.

Flatterig, als wäre der Boden unsicher wie bei einem Erdbeben, wackelt die Kamera und unsicher und angespannt trifft die Familie zum väterlichen Geburtstag im dänischen Landhotel ein. Die z.T. eher dem klassischen Thriller entlehnte Bildauswahl unterstreicht die Subjektivität. Durch die bewegliche digitale Videokamera (später auf Kinoformat aufgeblasen) jedoch wird diese Subjektivität mit neuen Perspektiven und Geschwindigkeiten ausgestattet. Teilweise wirkt ‚Das Fest‘ zwar wie ein Familienvideo, in dem wir nur manchmal tatsächlich das sehen können, was gerade interessant ist, weil der liebe Verwandte keinen Blick fürs Wesentliche hat. Selten bekommt der Zuschauer einen Überblick über die Szenerie, aber dann wird die Kamera immer wieder überraschend professionell als unterstreichendes Mittel eingesetzt. Durch seine häufig suggestiv-manipulative Oberfläche ist „Das Fest“ sogar geradezu un“dogma“tisch.

Jedes Geschwister ist mit einem Klischeechen bekleidet, aber das gibt es auch jenseits von „Derrick“, nämlich in einem Milieu, das Klischees gebraucht, um seine Wahrheiten zu verbergen. Michael ist das Enfant Terrible, der Schwache, Jüngste, der eine seelische Disbalance durch Alkoholabusus, Rohheit gegen Frau und Kinder, und ein allgemein erhöhtes Aggressionspotential kompensiert. Helene ist die Geflohene, eine Studentin der Anthropologie (ein Wort das ihrer Mutter ungern über die schmalen Lippen geht), die exotische Männer und eher die Liebe als den einen liebt. Christian hat sich schon lange nach Frankreich abgesetzt. Er ist der Stille, Sensible, und wegen seines angeknacksten, aber wachen Reflexionsvermögens auch Handlungsmotor und auslösendes Moment (wie alle Künstler und Revolutionäre). Dieses Typisierende aber beraubt keine der Figuren ihrer Lebendigkeit, und wer in einer größeren Familie aufgewachsen ist, findet in diesem „Fest“ sicherlich einiges von hohem Wiedererkennungswert.

Übrigens muss „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ Pate gestanden haben bei „Das Fest“. Alle Rahmenbedingungen sind vorhanden: Das Oberhaupt feiert seinen 60. Geburtstag, die Kinder mitsamt ihren psychischen Defiziten reisen an. Die Enthüllung einer Krankheit/Aberration des Vaters/der Kinder führt zu Eskalation und Reinigung. In beiden Fällen wird Krankheit durch Härte gegen sich und die Familie hervorgerufen. In der „Katze“ wendet sich dieser patriarchische Zynismus, zum Krebs geworden, gegen den Vater selbst und zwingt ihn, mithilfe eines Sohnes, sein Leben zu überdenken. Im „Fest“ ist die Krankheit a priori in die väterliche Person integriert, systemimmanent, schon immer hat er eine seinem Lebensstil eigene Destruktivität ausgelebt, nach außen, mittels gewohnheitsmäßiger Penetration zweier seiner Kinder, aber auch hier ist es der leidende, lebensuntüchtige Sohn, der lange Gedeckeltes thematisiert. In beiden Filmen ist die Krankheit bösartig und unheilbar, in der „Katze“ aber kann der Vater noch eine Wandlung zur Selbsterkenntnis und Läuterung, sprich Offenheit und daher Vergebung, vollziehen. Derartiges ist dem Vater im „Fest“ versagt. Sein Zynismus erscheint unveränderlich, ihm bleibt nur die soziale und familiäre Ächtung, eine Versöhnung ist im „Fest“ nicht denkbar.

Der Vater wird entmachtet. „Das Fest“ ist eigentlich die Geschichte einer Revolution, eines Tyrannen- wenn nicht -mordes, dann –sturzes, und eines Machtwechsels. Bis zuletzt schützt den Despoten sein Machtapparat, sein jüngster Sohn, einige Hotelangestellte und (natürlich) seine Logenbrüder. Der Revolutionär, Christian, wird weggeschafft, vorübergehend mundtot gemacht, aber er hat Verbündete im „Pöbel“: seine Schwester und vor allem sein Jugendfreund, jetzt Chefkoch, der, vermittelst seines Küchenpersonals aus der Kellerküche heraus subversiv agiert. Bezeichnenderweise der wenig geachtete, aber verbissendste und autoritätsgläubigste Vasall des Königs, der Sohn Michael, wird nach dessen Abdankung fast zu dessen Mörder. Die Gesellschaft (also die Geburtstagsgesellschaft) richtet ihr Fähnlein nahezu gleichgültig nach dem Wind. Sie überhört die unerhörten Vorwürfe Christians und lässt sich zur Kaffeepause oder zur Polonaise umleiten. Selbst nach dem Staatsstreich tanzt sie sorglos in die Nacht hinein, als wäre immer noch der Jubilar zu feiern. Als wär’s ein Stück von Büchner.

Thema des Films ist ein Tabu, das bis heute, wo doch angeblich alles thematisiert werden kann, nicht tiefer oder ernsthaft behandelt worden ist, kaum im Kino, im Fernsehen höchstens zum Zweck der Sensationsvermarktung. Bekannt ist, dass die Dunkelziffer bei Kindesmissbrauch in der Familie weit höher liegen muss als bei anderen Delikten, weil die häufig schwer geschädigten Opfer selbst, wenn überhaupt, oft erst nach Jahrzehnten in der Lage sind, darüber zu sprechen und meistens die passiv beteiligten Elternteile die aktiven durch ihr Schweigen schützen. Kindesmissbrauch kann man nicht mit anderen gesellschaftlich geächteten Straftaten gleichsetzen, und auch durch die hervorragende Darstellung eines durch seinen Vater geschädigten Sohnes stellt „Das Fest“ klar, warum.

Das Merkwürdigste: Der Kreis der direkt Betroffenen, der Geschwister, ist in keinem Moment in der Lage, sich über das Kernproblem der Familie, die väterlichen Misshandlungen auszutauschen. Man feiert zwar einen Sieg, aber scheut sich, das Besiegte zu bezeichnen, es zu artikulieren – kaum anders, als es vor der Revolte üblich und angeordnet war. Das ist vielleicht der schwächste Punkt des „Fests“, weil der Film dadurch an der Oberfläche der Entrüstung verharrt, aber ihre Ursache nicht ausbuchstabiert, vielleicht aber auch der authentischste und analytischste.

Denn möglicherweise handelt „Das Fest“ ja nicht nur vom Aufsehen erregenden „Outing Vatis, des Kinderschänders“, sondern auch von der Unfähigkeit der Familie (der Gesellschaft) sich mit der Phänomenologie eines psychologischen und soziologischen Backgrounds institutionalisierter Abgründigkeiten dieser Art zu befassen. Dann hätte „Das Fest“ Tiefe. Wir kennen das ja, den tief verwurzelten Hass auf „Kinderschänder“, der oftmals mit einer Lynchjustiz kokettiert – aber parallel dazu viele aufgedeckte Fälle innerhalb der „besten Familien“ und die allgemein ungeklärte Frage, wie es dazu kommen kann. Christian sagt zu seinem Vater: „Ich habe nie verstanden, wieso du es getan hast.“ Dessen Antwort „Ihr wart nicht mehr wert.“ ist immerhin ein Erklärungsansatz: Verachtung, und natürlich nicht zu viel, sondern zu wenig Liebe…

Neu in der Filmgeschichte ist (nach meinem Kenntnisstand) die Personalunion des bürgerlichen, klassischen Patriarchen, der vor allem von den 68-ern und deren Filmen ausgiebig bekämpft worden ist (sein Revival ist ein Kuriosum des 90-er-Jahre-Films), mit dem Sexualtäter, die Ergänzung psychischer Druckmittel mit früher sexueller Demütigungspraxis – als Erziehungsmethode. Vorsichtig sage ich: Dieser Aspekt ist interessant, umso interessanter, wird er – und dadurch ein (un)bewusster Teil der in Europa praktizierten „Pädagogik“ – im Licht jener hohen Dunkelziffer.

Hostel 2

(USA 2007, Regie: Eli Roth)

Der Mensch als Ware
von Sven Jachmann

Es gibt in der Filmgeschichte nicht viele Beispiele für Sequels, die ihre Vorgänger qualitativ zu übertrumpfen schafften. Eli Roth hat mit dem zwei Jahre später vorgelegten Nachfolger seiner Torture-Porn-Burleske ein …

Es gibt in der Filmgeschichte nicht viele Beispiele für Sequels, die ihre Vorgänger qualitativ zu übertrumpfen schafften. Eli Roth hat mit dem zwei Jahre später vorgelegten Nachfolger seiner Torture-Porn-Burleske ein solches Kunststück vollbracht. Vermutlich liegt es daran, dass das Drehbuch diesmal die Story wesentlich origineller zu dehnen versteht, indem man sich nicht einzig auf das nunmehr weibliche Kanonenfutter konzentriert, sondern die innere Struktur der Mordorganisation Elite Hunting samt ihrer Kundenschar miteinbezieht.

So stehen nicht nur die drei amerikanischen Kunststudentinnen Whitney (Bijou Phillips), Beth (Laura German) und Lorna (Heather Matarazzo), quasi die Pendants zu den männlichen Protagonisten aus „Hostel‘, die es durch die Geschicke eines auf sie angesetzten Models zum Partyurlaub in die slowakische Provinz verschlägt, im Mittelpunkt der Geschichte, sondern auch gleichberechtigt ihre zukünftigen Peiniger Stuart (Roger Bart) und Todd (Richard Burgi), deren Weg vom Vertragsabschluss, der Initiation durch ein tätowiertes Symbol bis zur Anreise samt Hotelunterbringung mitverfolgt wird. Baute der Vorgänger seine Schockmomente eher auf das Unwissen der Figuren, sich inmitten der waldumzäumten Fremde mit einer straff organisierten Folter-Organisation, dem Anderen in der Fremde, konfrontiert sehen mussten, deren innere Verfasstheit indes undurchsichtig blieb, weil ihre bloße Präsenz den Schrecken evozierte, so spielt „Hostel 2′ viel stärker mit diesem Vorwissen des Zuschauers. Auf der einen Seite ist bereits mit der Ankunft der Protagonistinnen alles und jeder verdächtig, auf der anderen Seite wird dieser Verdacht auch erhärtet, weil Roth sich nun die Zeit nimmt, nicht nur in Gestalt Stuarts und Todds, den funktionalen Ablauf des Apparats zu erläutern und so mit den Mitteln der Suspense die unvermeidlich absehbar leidtragenden Figuren dem Zuschauer näher zu bringen.

Die Gewalt der zweiten Hälfte ist immer noch drastisch und unschön anzusehen, aber gar nicht mehr selbstverliebt cartoonesk dem Überbietungsmodus verhaftet, wie er beim Vorläufer spätestens im völlig hektischen Finale eintrat. Sie erscheint eher dekadent, morbide und durch den sexualisierten Subtext (die Blutdusche oder die finale Kastration) wesentlich stärker an ihrer Konnotation als ungebremster bzw. ungefilterter Ausdruck von Machtverhältnissen interessiert, der wiederum im Sinne einer kapitalistischen Verwertungslogik so ungefiltert gar nicht stattfinden kann. Denn das Geschäft will zunächst abgewickelt, der Vertrag eingehalten werden. Nicht ohne Grund verkehren sich die Motivationen der zwei amerikanischen Folter-Touristen, wenn das Großmaul Todd plötzlich gehemmt, der einst zweifelnde, introvertierte Stuart umso sadistischer auf ihre Opfer reagieren.

Die Lust an der Zerstörung des Körpers wird hier also zweierlei verwaltet: Es braucht zunächst Beschaffung, Abwicklung und Bereitstellung der Ware (Roth hält in einer wirklich grimmigen Montage die Ersteigerung der noch ahnungslosen Mädchen von einer durch und durch bösbanalen Kundenschaft fest), dann aber eben auch einer entsprechenden psychischen Disposition, um der Phantasie Taten folgen zu lassen (auch hier ist der zeitlupengedehnte Marsch der beiden Mörder in spe zu den Zellen ihrer Opfer, ihr mimischer Kampf zwischen Entscheidungszwang, Beklemmung und insgeheimer Vorfreude, bevor sich die Türen der Folterkammern öffnen werden, voll bedrückender Tragik und Ekel zugleich, zumal sich Täter und Opfer zuvor bereits auf einem Stadtfest begegneten). Diese Disposition ist im Preis jedoch nicht inbegriffen. Wer den Job nicht vertragsgerecht erfüllt, ist selbst nur noch Fleisch, als Kunde untauglich und wird, wie der letztlich doch zu ängstliche Todd, infolgedessen entsorgt.

Dieser Teil könnte als ziemlich platt geratene Kapitalismusparabel zu den Akten gelegt werden, aber auch hier wird das Spiel mit den Erwartungshaltungen fortgesetzt. Denn die Entanonymisierung der Opfer führt nicht zu ihrer erhofften Rettung, sondern bildet vielmehr den Triebmotor der Attraktivität der Gewalt, die spätestens an dieser Stelle als Demonstration sexueller Omnipotenz manifest wird. Die Degeneration bleibt nicht allein an der Grenzüberschreitung einer moralischen Hemmschwelle stehen, an der alles, eben auch die Verfügbarkeit über den Körper, verwertet werden kann, sondern setzt sich buchstäblich im Versuch der körperlichen Zurichtung und Unterwerfung des “anderen” Geschlechts fort. Wenn sich also Stuart nach der versuchten Vergewaltigung Beths schließlich selbst auf dem Folterstuhl wiederfindet, nach der für Beth erfolgreich verlaufenden Verhandlung mit dem Gründer von Elite-Hunting schließlich selbst Opfer der ihm zuvor zuspielenden Ökonomie wird, dann kann seine finale Kastration eben auch als geschlechtsidentitäre Neutralisierung seiner Macht aufgefasst werden, der die ökonomische vorausging. Das mag den Genderdiskurs nicht neu ins Rollen bringen, aber der Film scheint seine gewalttätigen Bilder doch wesentlich differenzierter zu reflektieren, als es noch sein Vorgänger vermochte.

Dark Horse

(DK / IS 2005, Regie: Dagur Kári)

Projekt: Anpassung
von Andreas Thomas

„Gerade, als du von A- und B-Steuer geredet hast, da hast du mich schon verloren. Mir wird ganz schwarz vor Augen. Ich möchte einfach sterben“, sagt Daniel zum Finanzbeamten mit …

„Gerade, als du von A- und B-Steuer geredet hast, da hast du mich schon verloren. Mir wird ganz schwarz vor Augen. Ich möchte einfach sterben“, sagt Daniel zum Finanzbeamten mit dem angeklebten Scheitel und dem Pullunder und der muss konstatieren: „Das ist nicht normal.“

Wie schon in seinem Erstlingsfilm „Noí Albinói“ berichtet der isländische Regisseur Dagur Kári wieder einmal parteilich von der Norm, der Anorm und dem Verlierer. Nur macht er in „Dark Horse“ (in Schwarzweiß und schwarz auf weiß) gleich klar, dass der wahre Verlierer das „System“ ist. Nämlich deshalb, weil es Menschen in Kategorien, Bürokratien, Steuerklassen sperren will. Für den jungen Daniel liegt der einzige Weg zum Überleben – und darin ist er ein Bruder von Michel aus „Außer Atem“, von Martin aus „Zur Sache, Schätzchen“ und von Renton aus „Trainspotting“– in der Verweigerung staatsbürgerlicher Pflichterfüllung.

Daniel vereinigt alle Attribute des Außenseiters auf sich: Er ist Individualist, also trägt er immer dasselbe T-Shirt, hat er immer die Kopfhörer auf den Ohren mit dem Bach’schen Präludium in C-Dur in allen Variationen und darum fährt er einen alten, kleinen Fiat 500. (Davon gibt es auf der Erde noch kaum mehr als drei, oder?). Der niedliche Daniel ist nicht dafür geschaffen, Rechnungen zu bezahlen, weil er nicht dafür gemacht ist, Geld zu verdienen. In nahezu jeder Faser seines Seins ist er die Verneinung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit. Daniel ist der wahre Bohemién der Postmoderne. Im Unterschied zum kreativen, aber durchschnittlich angepassten Designer der Gegenwart sitzt er (noch) nicht in einem PR-Büro, in dem jeglicher Kunst der letzte freie Geist ausgetrieben wird, sondern schafft er noch Bildwerke, deren Anfertigung strafrechtlich verfolgt wird. Denn Daniel ist ein Sprayer, ein letzter Avantgardist also. Nur weil er sich Brötchen kaufen muss – nicht um Geld zu verdienen! – nimmt Daniel auch Auftragsarbeiten an. Er produziert sogar Werbung, aber Werbung für die Liebe, Brautwerbung nämlich, wenn er die Hauswände vor dem Fenster diverser zukünftiger Bräute im Auftrag ihrer Bräutigame mit ihrem Namen verziert.

Die Kälte des Nordens muss die Wortkargheit erfunden haben. Denn auch der Skandinavier Daniel ist einer jener merkwürdigen „Typen“ mit lakonischem Habitus, ein (hier glücklicherweise nicht zu) liebenswerter Outdrop – die Sorte also, die seit den Kaurismäki-Brüdern immer mehr europäische Filmkomödien unterwandert hat – und natürlich kommt so einer nicht allein. Mit seinem Kumpel, einem verpeilten und neurotischen Fatty-Typ namens „Opa“ (Ende 20), verbindet Daniel eigentlich nur, dass man sich gegenseitig auf einfallsreiche Art behindert und auf die Nerven geht. Subtilisierte Laurel und Hardys sind sie und sie erinnern ein wenig an die unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaften der Nerds aus Kevin Smith’s „Clerks“.

Eigentlich könnte alles weiter seinen nonkonformen Gang gehen, wäre der erotischen Liebe nicht. Und nur jene ist’s, die solid verwucherte Männersymbiosen sprengt, die dem jungen Mann das Herz bricht, ihm den geliebhassten Freund und schließlich auch den Samen entwendet. Ab jenem Augenblick, da Daniel den Namen seiner Herzensdame in eigener Sache (und orthografisch unkorrekt: er ist schließlich Legastheniker) plakatiert, beginnt sein Leben aus dem Ruder zu geraten. Die Liebe nimmt, aber sie gibt auch unendlich viel mehr, manchmal zu viel, um einer Anarchie so ganz treu bleiben zu können. Aus dem autarken Verweigerer wird ein irritierter Träumer – und mit Träumern hat das „System“ ja schon immer leichtes Spiel gehabt.

„Kopf hoch Baby, lehn dich an mich, es wird schon irgendwie geh’n“ sang einst der welterfahrene Frank Farian. In Euphemismen dieser Art und also darin, dass Daniel beginnt, der gesellschaftlichen Keimzelle „Familie“ seine persönliche Zuversicht und seinen persönlichen Tribut zu zollen, schlummert schon das Aufweichen der kreatürlichen und kreativen Kanten unseres Symphatieträgers, die uns doch die ersten zwei Drittel des Films subversive Freude bereitet hatten. Nun treten die Systeme Biologie und Gesellschaft ihren Siegeszug an. Darüber kann kaum hinweg trösten, dass „Dark Horse“ im letzten Drittel sein zuvor etwas überstrapaziertes Witzemachen vergisst und zwei seiner weltflüchtigen Protagonisten statt reden nur noch atmen lässt: in großen, leeren Landschaften und kleinen, leeren Hotelzimmern. Zwei Herren machen einen Abstecher in ein anderes Land und zugleich wechselt auch das Genre: Eine Komödie der Beengten mutiert zum existenziellen Drama, schier zu einem modernen physischen Kino der Gegenwart. Eine ganz andere, fesselndere Verunsicherung entsteht so, die Regisseur Kári aber wohl kaum unter Preisgabe des Plots hätte weiter entwickeln können. Vielleicht driftet deshalb der Film sicherheitshalber scharf vorbei an einer interpretatorischen Offenheit, die weder transzendieren noch nihilisieren will, sondern gegen Ende nur dazu da war, gefährlich konformistische Sehnsüchte zu wecken nach einem Konfektionsglück im Du und Du und Du.

Doppelt traurig ist daher Daniels Abschied von Jugend, Individualität und Anarchie, und folgerichtig todesnäher ist sein Einstieg ins Projekt Menschengeschlecht. Doch wenn dann sechs Fiat 500s die Landstrasse herabtuckern und seine niedliche Francesca für ein paar Sekunden in Farbe erscheinen darf, bleibt dem Kritiker nichts anderes übrig, als einmal rundherum gerührt gewesen zu sein. Scheiße, Daniel, du und ich, sind wir jetzt etwa erwachsen geworden?

Im Tal von Elah

(USA 2007, Regie: Paul Haggis)

Auslaufmodell Humanismus
von Sven Jachmann

9/11 als traumatischer Bezugspunkt bestimmt schon seit längerer Zeit den Bilderkosmos Hollywoods: manifest etwa in Oliver Stones „World Trade Center“, latent in den jüngsten Apokalypsevisionen „I am Legend“ und „Cloverfield“. …

9/11 als traumatischer Bezugspunkt bestimmt schon seit längerer Zeit den Bilderkosmos Hollywoods: manifest etwa in Oliver Stones „World Trade Center“, latent in den jüngsten Apokalypsevisionen „I am Legend“ und „Cloverfield“. Schon die exzessive Gewalt in „Hostel“, so wollte es der Gesellschaftskritiker in manchem Filmkritiker, sei im Kern als Reflex der Folterbilder aus Abu Ghraib zu deuten, die selbst wiederum dem Diskurs der Mythologien eine weitere Note hinzuzufügen wussten: Nicht bloß die Wahrheit stürbe als erste im Krieg, sondern mit ihr nun auch die Humanität. An letzteren Strang knüpft Paul Haggis mit seiner zweiten Regiearbeit nach dem Debüt „Crash“ an und führt das Trauma 9/11 anhand des Irak-Kriegs ins handfeste Narrativ seiner geopolitischen Folgen.

„Im Tal von Elah“ erzählt von der Gegenwart des Krieges als phantomale Erscheinung. Nicht das Schlachtfeld ist sein Raum, sondern die Öde New Mexicos, wo der pensionierte Militär-Polizist Hank Deerfield (Tommy Lee Jones) auf der Suche nach den Mördern seines Sohnes Michael schmerzhaft seinen fast pathologisch anmutenden Patriotismus in die demütige Geste der Enttäuschung überführen wird. Nachdem die verstümmelte Leiche Michaels, der erst wenige Tage aus seinem Irak-Einsatz zurückkehrte, in der Nähe des Militärstützpunktes gefunden wurde, macht sich Deerfield eigenhändig auf, die Spuren der Tat zusammenzufügen. Unterstützung erhält er dabei lediglich von der Polizistin Emily Sanders (Charlize Theron), die dabei beständig ihr Vorhaben seitens der männlichen Kollegenschaft torpediert sieht.

Die Rahmung der Geschichte gehorcht in toto den Konventionen des Kriminalfilms. Das whodunit-Prinzip motiviert die Handlungen der Figuren, die Frage nach dem Tathergang ist das entscheidende Spannungsmoment. Zunächst als mutmaßlichen Nebenstrang etabliert, öffnet der Film jedoch im weiteren Verlauf ein Panoptikum an Bedeutungen, was der Krieg aus Menschen macht: nämlich Tote, versteinerte Patrioten, traumatisierte Mütter, apathische Soldaten. Und was er hervorruft: Devianz, Desillusion, gebrochene Vaterlandsliebe und einen Mikrokosmos an leerer, adressatenloser Kommunikation, an deren Ende die Gewalt als letztes Medium der Rückversicherung des Ichs verbleibt.

Wie das geht? Zunächst erstmal durch die Erzeugung medial gedoppelter Authentizität: Durch die vorerst verzerrten Videos aus Michaels beschädigtem Handy, die Deerfield von einem Computer-Crack rekonstruieren lässt, erlangt der Ort Irak Präsenz und die Figur Michaels eine dezente Kontur. Weil diese Videos unbearbeitet und deswegen glaubwürdiger sind, können wir ihnen mehr Vertrauen schenken als der massenmedialen Bildproduktion. Die Kontur Michaels wächst nun mit den fortschreitenden Ermittlungen: Was zunächst einem irgendwie typischen Soldatenalltag ähnelt, entpuppt sich zunehmend als Reise in den Irrsinn. Dem zunächst unbedachten Fußballspiel mit den Kindern eines ungenannten Ortes folgt ein zunehmend rauer Ton der Soldaten untereinander und kulminiert in einer sadistischen Folterung an einem Gefangenen. Den düsteren Erkenntnissen gleicht sich die Beschaffenheit des Ortes an: Gebrochene Soldaten vergessen sich in Drogen, belästigen Tänzerinnen eines Nachtclubs; ein anderer bringt den Hund seiner Freundin um, später sie selbst. Dies alles geschieht bloß auf der Tonebene, lenkt aber den Blick zunehmend auf die Schäbigkeit des Ortes, die immer auch die Schäbigkeit des Krieges nachzeichnen soll. Blumige Panoramaaufnahmen sind in dieser Welt latenter Verzweiflung ohnehin nicht zu erwarten.

Letztendlich dann die erschütternde Erkenntnis: Es war ein befreundeter Soldat, der Michael nach einer durchzechten Nacht umbrachte. Über 40 Stichwunden, Kopf und Hände abgetrennt, aber die Leiche konnte nicht mehr begraben werden. „Wir hatten Hunger“ sagt der Angeklagte stoisch zu Deerfield. „Es tut mir leid, dass wir ihren Sohn verloren haben.“

Aber hieraus spricht nicht die Banalität des Bösen, auch kein schizophrener autoritärer Charakter, der die Orte des Krieges und des Friedens nicht mehr zu trennen weiß, sondern schlicht die Banalität der falschen Kriegsführung. Nicht ohne Grund will Deerfield den Ergebnissen erster Ermittlungen, in denen noch davon ausgegangen wird, dass Michael wegen einer gruppeninternen Prügelei einfach zurück gelassen wurde, keinen Glauben schenken: Kein Soldat kämpfe Schulter an Schulter und würde dann so etwas tun. Als Vertreter einer anachronistischen Ordnung repräsentiert er ein überkommenes Solidaritätsethos, das den Prinzipien moderner Kriege nicht mehr Stand hält. Seine Katharsis erlebt er, ganz didaktisch, stellvertretend für den Zuschauer und die stilistischen Finessen des Films sind in Gänze auf diesen Effekt ausgerichtet: Nachdem alle Fragen geklärt sind, bekommen wir eine zuvor fragmentierte Video-Sequenz aus dem Irak nun in voller Länge präsentiert: Michaels und ein Kollege überfahren ein Kind. Niemals stehen bleiben, lautet der Befehl, die Gefahr eines Hinterhalts sei zu groß. An dieser Stelle besitzen die Authentifizierungsstrategien keine Relevanz mehr: Michaels steigt trotzdem aus und urplötzlich sehen wir sein zum Schock erstarrtes Gesicht aus der Warte eines imaginären Erzählers. Es verdichtet sich unweigerlich nur ein einziger Sinn: Seht her, das macht dieser Krieg aus unbescholtenen Bürgern! Unter solchen Bedingungen verabschiedet sich jedweder Anflug von Humanität, und zu welch entrückten Charakteren das führt, haben wir ja nun gesehen!

Dahinter verbirgt sich nicht mehr als das larmoyante Pathos des enttäuschten Patrioten, und das muss auch Deerfield realisieren, als er zum Schluss ein zweites Mal die amerikanische Flagge hisst. Allerdings verkehrt herum. Ein S.O.S.-Zeichen, wie wir zuvor erfuhren. Dieses Amerika hat Probleme, und dem Kritik simulierenden Tenor des Films folgend, helfen hier womöglich auch keine Blumen in den Gewehrläufen mehr, sondern nur noch ein paar ernste Worte mit den militärischen Machthabern.

Ein Kind zu töten

(ESP 1976, Regie: Narciso Ibáñez Serrador)

Schuld und Sühne?
von Sven Jachmann

Es ist nicht so einfach mit Serradors hierzulande seit 1984 durch eine Indizierung von der Öffentlichkeit ausgeschlossenem Terrorfilm: Die im Booklet angeführten Antragsbegründungen sind zu irrwitzig, als dass man den …

Es ist nicht so einfach mit Serradors hierzulande seit 1984 durch eine Indizierung von der Öffentlichkeit ausgeschlossenem Terrorfilm: Die im Booklet angeführten Antragsbegründungen sind zu irrwitzig, als dass man den Verantwortlichen auch nur einen Hauch Medienkompetenz zusprechen möchte. Denn die Geschichte um das junge Ehepaar Tom und Evelyn, die auf der spanischen Insel Almanzora eigentlich nur einen ruhigen Urlaub verbringen möchten, dort aber mit einer ganz und gar irdischen Gefahr konfrontiert werden, nämlich einer fröhlich lächelnden Schar von Kindern, ist weder exploitativ, noch entschuldigt sie Gewalt gegen Kinder, wie man in besagtem Antrag besorgt konstatierte. Ob er allerdings die Frage 'Wer kann ein Kind töten?', so der Originaltitel, seinem inszenatorischen Programm gemäß befriedigend löst, ist zweifelhaft. Dessen Implikationen berücksichtigend sollte er wohl eher lauten 'Wer tötet Kinder unter welchen Umständen?', aber das klänge in der Tat etwas zu thesenhaft.

Sicher jedenfalls ist, dass das im Horrorfilm nach wie vor außergewöhnliche Setting und so manche ebenso außergewöhnliche Szene darauf fokussieren, im Zuschauer einen Reflexionsprozess auszulösen. Das beginnt mit der durchaus auf Provokation getimeten Exposition, in der schwarzweiße Archivbilder getötete und verletzte Kinder aus verschiedenen realen Kriegen präsentieren. Jeder Schnitt auf das nächste Ereignis wird dabei von Kindergesängen begleitet, die stets in einem kollektiven, unschuldigen Lachen münden. Erwachsene tun Kindern schreckliche Dinge an. Es setzt sich fort in der auch genreuntypischen Diskrepanz zwischen mediterraner Idylle, die fast ausnahmslos sonnendurchflutet bleibt und kindlicher Unschuld, die nicht durch Alterität angetastet wird. Der Schrecken entsteht überhaupt erst dadurch, dass die Kinder in schönster Landschaft bei ihren grausigen Taten nie den Habitus des kindlichen Liebreizes abstreifen. Entsprechend gehemmt versucht sich das Paar ihrer Attacken zu erwehren, nachdem unmissverständlich klar geworden ist, dass die Kinder einen Rachefeldzug gegen alle Erwachsenen angetreten haben. Aber sie bleiben nun mal Kinder, auch wenn sie beim Pinata-Spiel statt einer mit Süßem gefüllten Pappfigur einen halbtoten Mann mit einer Sichel traktieren.

Wollte man vom Backwood-Programm des Horrorfilms ausgehen, das ja nun zwei Jahre zuvor mit 'Texas Chainsaw Massacre' seinen wohl immer noch wichtigsten Vertreter hervorbringen sollte, dann ist es nicht die pervertierte Kehrseite der Zivilisation, die hier zur Gefahr wird und von den potentiellen Opfern eine Assimilation erfordert, um ihrer wieder Herr zu werden, sondern das manifeste Konzept Zivilisation und die in ihr verankerten Rollen selbst: Auch in ihrer Unschuld können Kinder Böses tun, so wie ihnen von Erwachsenen trotz ihrer Unschuld, so zeigte es bereits die Exposition, jederzeit Böses angetan werden kann.

Aber hätte sich aus der Unauflösbarkeit dieser pessimistischen Prämissen nicht das viel radikalere Werk ergeben? Auch wenn keine endgültige Klärung der Motivationen, keine Rationalisierung und keine Katharsis erfolgen, führt der Film dennoch im Finale ein metaphysisches Element ein, wenn er den Kindern quasi telepathische Fähigkeiten zuweist, die in letzter Instanz selbst das ungeborene Kind Evelyns zur Rebellion zwingen werden. Das schwächt zwar nicht den brillant inszenierten Horror der Erzählung, aber ihren gesellschaftskritischen Impetus doch erheblich. Dass im Anschluss hieran Toms Vorgehen vollends rücksichtslos ausfällt, wirkt da fast schon genrekonform.

Eine ähnliche Konformität würde man sich allerdings bei anderen DVD-Anbietern wünschen, wenn es um Fragen der Qualität und Ausstattung geht. Denn beides ist auch bei dieser Edition wieder exzellent geraten.

Bugs! – Abenteuer Regenwald in 3D

(GB 2003, Regie: Mike Slee)

Effekt frisst Insekt
von Andreas Thomas

Insekten in 3D? Da erwacht der Mann im Kinde und sein Forschergeist, praktiziert sich die 3D-Brille auf die Nase, legt die Scheibe in den Player und glaubt zu schielen. Wenn …

Insekten in 3D? Da erwacht der Mann im Kinde und sein Forschergeist, praktiziert sich die 3D-Brille auf die Nase, legt die Scheibe in den Player und glaubt zu schielen. Wenn unter 3D zu verstehen ist, dass man statt einer gleich drei parallel sich abseilende Spinnen sieht, dann ist „Bugs!“ wohl in 3D gedreht. Vielleicht sich erst dran gewöhnen? Doch nach zehn Minuten setzen zeitgleich mit einer sehr vagen räumlichen Wahrnehmung leider vor allem erste Anzeichen von Kopfschmerz ein. Also die Brille zur Seite gelegt, das Ganze zurück auf Start in der alternativen 2D-Version. Hier endlich kommen die Eier, Larven, Puppen, Raupen, Schmetterlinge, Fliegen, Gottesanbeterinnen hochauflösend und scharf ins Bild, doch was wird uns dergestalt präsentiert? Nichts Wissenwerteres und optisch Revolutionäreres als das, was uns täglich im Fernsehen geboten wird oder wir im Biologieunterricht sehen durften. Im Gegenteil, das Hauptaugenmerk der Macher schien tatsächlich der Technik zu gelten, deren Spielereien und nicht den Geheimnissen der Natur.

Auffallend ist in „Bugs!“ tatsächlich die Abwesenheit jeglicher biologischer Neugierde. Der natürliche Lebensraum „Regenwald“ und die spezifischen Charakteristika der gezeigten Arten müssen den Machern als eine Art Störfaktor gegolten haben, denn, wie im „Making of“ zu sehen, kauften sie den Hauptschauplatz, eine Indianerhütte, einem Eingeborenenvölkchen ab, um sie aus dem überschwemmungssicheren Dorf zu entfernen und sie malerischer aber völlig unauthentisch direkt an einem Flusslauf wieder aufzubauen. Dortselbst werden in die nun von Menschen unbewohnte Kulisse Kerbtiere befördert, um sich zu entpuppen und gegenseitig zu fressen (sehr viel mehr lernen wir nicht, weil die Macher offenbar nicht mehr Hintergrundswissen hatten). Als man in einer Höhle Krabbelaktivitäten vorfindet, werden tiefe Löcher gebuddelt, damit die Riesen-3D-Kamera nah genug heran rankommt und weil eine normale Höhle doch zu wenig nach einer „echten“ Höhle aussieht, werden kurzerhand woanders Moose ausgerupft, um damit den Höhlenboden zu dekorieren.

Diese also stark gefakten, aber wenigstens in einem (nicht näher bezeichneten) Regenwald gefilmten Szenen machen jedoch nur etwa ein Drittel des Films aus, denn die Hauptdreharbeiten fanden im authentischen englischen Studio statt, wie das Making of (das mit 45 Minuten länger ist, als der nur 38 Minuten kurze Film selbst) offenherzig und mit völlig unangebrachtem Stolz verrät. Hierhin transportierte und baute man jene Original-Indianerhütte also zum zweiten Mal auf und platzierte die in Boxen gesammelten und mitgebrachten, da „interessant aussehenden“ Geziefer so lange in fotogenen Perspektiven, bis sie das taten, was sie sollten. Das konnte Stunden dauern, und muss nicht nur die Nerven des Teams sondern auch die Gesundheit der Tiere strapaziert haben. Es ist fast ein Wunder, dass das Making of nicht auch noch damit angibt, wie viele Insekten für die Dreharbeiten sterben mussten. Das Peinlichste ist, dass der Film in Zusammenarbeit mit dem WWF, dem World Wildlife Fund, entstand.

Das Interessanteste am Film, da symptomatisch für den Zeitgeist, aber sind seine Wertigkeiten. Der „Spiegel“ etwa bejubelte die „atemberaubende Imagepflege, für alles, was krabbelt, kreucht und fleucht“, und bringt so auf den Punkt, was zeitgenössische Teenager mit der Deutschen Telekom und zeitgenössischen Insekten gemeinsam haben: Die perfekte Hülle, die gewiefte Public Relation, die eindrucksvolle Präsentation. Dass gerade eine sozial verkorkste, aber teuer angezogene Generation heranwächst, dass die Werbung das einzige ist, was bei der Telekom wirklich funktioniert, dass „Bugs!“ Insekten zwar in sensationslüsterner Großaufnahme, aber rücksichtslos und desinteressiert an der Kreatur vorführt und sich im Endeffekt nicht von irgendeinem Insekten-Horrorfilm unterscheidet, wen interessiert das schon, so lange ein „Image“ stimmt?

Irgendwann mal in den Siebzigern hatte ein gewisser Horst Stern mit einer Sendung namens „Bemerkungen über die Spinne“ das deutsche Fernsehpublikum wirklich seines Atems beraubt, nicht weil er Spinnen unter einem 3D-Mikroskop festklemmte, sondern weil er sie wirklich aufmerksam beobachtete! Das Wundersame war damals die unbekannte Lebensweise der Tiere und nicht die Eitelkeit, mit der ein Regisseur sein viel zu teures Equipment vorführt…

Ferien

(D 2007, Regie: Thomas Arslan)

Nix geht mehr
von Andreas Thomas

Wie dem imaginären „Berliner Schule“-Lehrbuch entnommen, so ist „Ferien“, der neue Film von Thomas Arslan („Dealer“, „Der schöne Tag“) gedreht. Starre Kadragen, eine gestrenge Vermeidung aller Theatralik, eine Distanz, so …

Wie dem imaginären „Berliner Schule“-Lehrbuch entnommen, so ist „Ferien“, der neue Film von Thomas Arslan („Dealer“, „Der schöne Tag“) gedreht. Starre Kadragen, eine gestrenge Vermeidung aller Theatralik, eine Distanz, so kühl, dass man sie mit Gleichgültigkeit verwechseln könnte. Erfahrene Darsteller in Höchstform wie Angela Winkler, Uwe Bohm oder Karoline Eichhorn spielen an, so scheints, gegen eine Form, die sich zum Inhalt erklärt hat.

Denn wenn „Ferien“ mit seiner ersten nüchternen Kameraeinstellung bereits die Erkenntnis vorwegnimmt, dass der Mensch allein sei, sein Leben ein glückloses Fatum und nichts ihn daraus befreien könne, dann sind die anschließenden Handlungsstränge nur noch Redundanz: Vier Generationen einer Familie mit irgendwie gutbürgerlichem Background treffen sich in der hochsommerlich flirrenden Uckermark, um Ferien zu machen, was eigentlich bedeutet, um vorhandene Konflikte nicht auszutragen, um eine Ehekrise nicht in den Griff zu bekommen, um das Sterben der Großmutter nicht verbalisieren zu können. Jeglichem Ausbruchsversuch ist schon im Ansatz sein Scheitern anzusehen und jede Hoffnung lächelt auf ihre Träger so müde und angestrengt zurück, wie die von Angela Winkler verkörperte Mutter und Großmutter auf ihre Kinder und Kindeskinder. Krampf! Arslans Absicht, „eine Balance zwischen den einzelnen Strängen zu finden und diese im Verlauf des Films in Schwingung zu versetzen“ misslingt angesichts des asketischen, nahezu unbeweglichen stilistischen Rahmen, der vor nichts so sehr zurückzuschrecken scheint, wie vor Bewegung, und wo keine Bewegung sein darf, da darf auch nichts schwingen, kaum ein Gefühl der, aber schon gar nicht ein Gefühl für die Protagonisten.

Eine (unausgesprochene) Ideologie der „Berliner Schule“ scheint auf einen Kunstbegriff gegründet, der lauten könnte: Erhabene Kunst muss ernst sein und sie wird mittels (protestantischer) Strenge und Entsagung und Stoizismus hergestellt. Die hohe Präzision und die Nüchternheit, die dieses Verfahren zwangsläufig zeitigt, führt in den glücklichsten Fällen (und Ulrich Köhlers „Montag kommen die Fenster“ ist ein solcher) zu klischee- und überwältigungsfreien Annäherungen an die Wirklichkeit – solange sich ihr der Blick des Autors nicht verschließt. Doch manchmal, wie in „Ferien“, droht schon der rigide Rahmen zum Bild an sich zu werden.

Genährt wird die Ästhetik dieses fatalen Verdikts in „Ferien“ durch einen Kontrast: Das Scheitern menschlicher Glücksuche wird inszeniert in einem friedlichen Sommerparadies, in (und immer wieder separiert von) der Kulisse einer zugleich vollkommenen und gleichgültigen Natur, der in langen, unbewegten Kadrierungen die Qualität einer autonomen, tragenden Rolle zugedacht ist. Inhaltlich erinnert „Ferien“ an den Abgesang des Bürgertums tschechowscher Sommerdramen, ästhetisch an die esoterische Vorbegrifflichkeit der Filmsprache von Apichatpong Weerasethakul („Tropical Malady“), des thailändischen Regisseurs, von dessen Filmen Thomas Arslan unübersehbar beeinflusst ist. Tschechow ist’s weniger geworden, Weerasethakul mehr; und das in den gelungeneren Momenten von „Ferien“.

Aber bitte warum immer diese „Berliner Schule“-Phobie vor Milieus und sozialem Hintergrund? Arslan sagt, er wollte „die Figuren nicht zu sehr soziologisieren. Eine Figur und ihr Verhalten“ sei „ja letztlich nicht durch sowas zu erklären.“ Nicht nur, aber auch, möchte ich erwidern. Man macht ja nicht gleich Polit-Kino mit einem pädagogisch-aufklärerischen Impetus, wenn man gelegentlich durchscheinen lässt, dass die Figuren eines offenbar in der deutschen Gegenwart spielenden Films auch irgendwie mit der Gesellschaft, Politik und Ökonomie diese Landes assoziiert sind?

Filme der Dardenne-Brüder z.B. beweisen, dass die vorurteilslose Aufmerksamkeit gegenüber dem Sujet Mensch und die Film-Erzählung, die sich einer zwar empathischen Schilderung aber nicht einer Manipulation des Zuschauers bedient, weder einem künstlerischen Kino im Wege zu stehen braucht, noch hysterische Grenzen errichten muss, vor allem und jedem, was eventuell die Gestalt soziologischer oder gar politischer Erkenntnis annehmen könnte.

Bei solch erklärter Eliminierung alltäglicher Wirklichkeit aus dem Kunst-Werk nimmt es nicht wunder, wenn Arslan, wie er sagt, die Welt als „zugleich konkret und seltsam irreal“ wahrnimmt.. Übrigens war das bei seinem Film „Dealer“ ein wenig anders. Da gab es noch Milieu (ohne Klischee) und Drama (ohne Überwältigung). „Ferien“ nun ist der vorläufige Sieg der strengen „Form“, eine undialektische, puristische Durchführung des ideologisch-technischen Überbaus, der mir an der „Berliner Schule“ nur gefällt, wenn er sich an irgend etwas in der Erzählung reiben kann. Doch „Ferien“ bleibt „Schul“-System at its worst: stumpf und taub durch zuviel Abstand, programmatisch ätherisch-pessimistisch und ohne jede Überraschung, weil der Zufall, der sich Leben nennt, aus seiner Szenerie verbannt ist. Da kann der Wind noch so existentiell durch die Linde streichen.

Hans im Glück

(CH 2003, Regie: Peter Liechti)

Drei Akte übers Aufhören
von Andreas Thomas

Zu Fuß von Zürich nach St. Gallen, von seinem Wohnort zur Stadt, in der er aufgewachsen ist, führt den Schweizer Peter Liechti das Filmprojekt „Hans im Glück“ – und seine …

Zu Fuß von Zürich nach St. Gallen, von seinem Wohnort zur Stadt, in der er aufgewachsen ist, führt den Schweizer Peter Liechti das Filmprojekt „Hans im Glück“ – und seine Rosskur, mit der er sich die täglichen 50 Zigaretten abgewöhnen will. Vom ersten Schritt an wird nicht mehr geraucht, die Kamera dokumentiert die lange Reise, das Tagebuch hält Gedanken fest. Scheinbar richtungslos wurden hier Gedanke, Assoziation und Bild, und Bildschnipsel aus ganz anderen Filmen am Schneidetisch zusammengefügt zu einem Film, der künstlerische Dokumentation ist, oder Poesie im Reality-Format, zugleich Abbilden und Abschweifen.

Der Nebel des Nikotinrauschs wird ersetzt durch die Nahsicht auf die Heimat, die Ostschweiz, die – wer vermag da die inneren von den äußeren Perspekiven zu unterscheiden? – je nach Entzugsleid unschöner aussieht. Die Ungeduld im Krieg gegen das Nikotin – die weitgehend unausgesprochen bleibt – entlädt sich so einmal in der Wut auf die Leute, aber die Neugierde auf die Unabhängigkeit und die innere Veränderung während der Loslösung vom Gift, und der offene Blick auf das Land, seine Landschaften, seine Menschen und die ewig laufenden Füße des nichtrauchenden Rauchers treiben Film und Filmemacher voran.

Eine Schweiz, in der nichts mehr so ist wie früher, Schweizer, die so leben, als sei alles noch immer so wie früher, Touristenfolklore, überschwemmte Gebiete am Bodensee, Busse, Unwetter im Gebirge, die Poesie von Parkbänken im Regen, stundenlanges Warten auf den Moment, an dem der Zug über die Brücke fährt und immer wieder Raucher. Mitunter raucht alles: Silvesterraketen, Flugzeuge, und Zigarren in Kindermündern, Zigaretten in Mündern todkranker Lungenkrebspatienten. Dazwischen Portraits der Lieblingstiere: Gazellen, Fische. Und dann ein Besuch bei den Eltern, die letzte Filmaufnahme der Großmutter. Straßenbahnen, Sessellifte, eine Heroinabhängige, coole Jugendliche, denen man ansieht, wie anstrengend das Coolsein sein muss. Assoziierte Splitter der Straßen, der Hotels, Ausschnitte eines Schweizpanoramas, schier zusammenhangslos, die auf ihre Dechiffrierung warten und ihr atemloser Sammler:

„Seit das Rauchen kein Problem mehr ist, wird mir das Denken zum Problem. Kaum hör ich auf mit dem Rauchen, fang ich schon an mit dem Denken. Wo früher das Denken limitiert war, da denk’ ich heute völlig ungebremst drauflos. Das bedeutet nicht größere Denkschärfe oder Denktiefe, vielmehr ist es eine Art gedankliches Hyperventilieren. Schon gegen Mittag hat sich mein Denken im Grunde erschöpft bei dieser Gedankenraserei – dann geht’s aber den ganzen Tag noch weiter.“

Monologe vom Überdruss, vom Unglück und Glück der Langeweile, Reflexionen über die Endlichkeit, ein Kreisen ums Altwerden und Altsein, um die Angst vorm Tod, um die eigene Feigheit und um die Würde alter Menschen wechseln ab mit Beobachtungen des scheinbar Banalsten. Eine Markierung des Schwerpunkts durch immer größere und freiere Pirouetten. Die Schweiz als Kosmos, die Person Liechti als Mikrokosmos, aber eine Trennung zwischen beidem ist nicht möglich, das eine geht durch das andere hindurch und das andere ist im einen enthalten: Der Mensch, in eigener Transformation begriffen und als Transformator der Außenwelt; in diesem Film ist er Privatestes und Gesamtkunstwerk in einem.

Liechti bleibt ein paar Wochen lang rauchfrei. Dann genießt er das schöne Gefühl, der eigenen Schwäche nachzugeben, und raucht wieder so viel wie vorher. Der zweite Marsch im Sommer und der dritte Marsch im Herbst über jeweils andere Routen folgten notgedrungen – war er noch nicht fertig mit dem Rauchen oder mit dem Film? Ein Drama braucht drei Akte – und die Schweiz etwa drei Jahreszeiten.

Irgendwann dann der Peterer, Liechtis Hans im Glück, der mit seinem tänzelnden, glücklichen Schwein spazieren geht und am Ende darauf reitet. Liechti, in diesem Augenblick so weit entfernt wie nie von Nikotingelüsten, erkennt: „Zigaretten hätten den feinen Zauber sofort zerstört und Peterers Verrücktheit auf öbszöne Spielchen reduziert. Nikotin ist eine kalte, vulgäre Droge, die einem bald einmal den Zugang verwehrt zu delikateren Realitäten.“

„Hans im Glück“ ist ein Marsch zwischen vielen Polen, zwischen Gift Nikotin und Gegengift Schweiz, von einer Gegenwart zu einer Vergangenheit und zurück, vom Prosaischen zur Prosa, vom Bild zum Wort zum Bild, vom Wissen zur Erfahrung, von der Antwort zur Frage. Der Fußmarsch als Ziel, undenkbar ohne Vertrauen in ein verstecktes Dazwischen.

Ein gutes Herz

(DK / FR / IS / D / USA 2009, Regie: Dagur Kári)

Schule des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Dunkelgrau, kalt und in bläuliches Licht getaucht, erscheint New York in Dagur Káris neuem Film „Ein gutes Herz“. Die Behausungen seiner beiden Protagonisten liegen an den finsteren Rändern der Gesellschaft. …

Dunkelgrau, kalt und in bläuliches Licht getaucht, erscheint New York in Dagur Káris neuem Film „Ein gutes Herz“. Die Behausungen seiner beiden Protagonisten liegen an den finsteren Rändern der Gesellschaft. Von dort aus führt der isländische Regisseur in einer einleitenden Parallelmontage den bärbeißigen Barbesitzer Jacques (Brian Cox) und den jungen Obdachlosen Lucas (Paul Dano) zusammen. Weil Jacques seinen mittlerweile fünften Herzinfarkt erleidet und Lucas einen Selbstmordversuch unternimmt, landen beide im Krankenhaus. Hier, im Angesicht des Todes, beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft, die sich auch als Vater-Sohn-Beziehung oder als Lehrer-Schüler-Verhältnis beschreiben lässt und die auf umfangreichen, das Leben verändernden Austauschprozessen beruht.

Denn es sind vor allem die mitunter fast schon stereotypen Gegensätze der Charaktere, die Dagur Kári dramaturgisch nutzt, um deren Annäherung als ebenso skurrile wie komische Verwandlung zu erzählen. So wird aus dem prinzipientreuen Misanthropen Jacques, der zu viel raucht und trinkt und sich in seinen wüsten Schimpftiraden konsequent rassistisch, frauenfeindlich und homophob gebärdet, irgendwann ein milder Menschenfreund mit (mehrdeutig) gutem Herzen; während der in seiner gutmütigen Freundlichkeit zunächst naive, unbeholfene Außenseiter Lucas an Stärke und Selbstbewusstsein gewinnt. Jacques‘ heruntergewirtschaftete Spelunke wird dabei zu einer Art Schule des Lebens. Als Katalysator fungiert aber auch die hübsche April (Isild Le Besco), die eines Abends triefend nass das „Haus der Austern“ als Asyl aufsucht.

Ihre Rolle sowie die mit ihr verbundene Liebesgeschichte bleiben allerdings merkwürdig unterbelichtet und uninspiriert. Dagur Kári, der mit seinen unkonventionellen Indie-Filmen „Nói Albínói“ und „Dark Horse“ bekannt wurde, ist mit seiner kalkulierter und auch vorhersehbarer wirkenden neuen Arbeit wohl im Arthouse-Mainstream angelangt. Weitgehend treu geblieben ist er seinem Interesse für Randfiguren und einem lakonisch-schrägen Tonfall, zu dem das tragische, ins Gleichnishafte überhöhte Ende dann aber doch nicht ganz passen will.

Au Revoir Taipeh

(TW / D / USA 2009, Regie: Arvin Chen)

Französisch für Fortgeschrittene
von Florian Reinacher

Natürlich gibt es für einen Film kaum eine gefälligere Sache, als wenn das Publikum am Ende mit einem breiten Lächeln auf den Lippen den Kinosaal verlässt. Wer kennt nicht den …

Natürlich gibt es für einen Film kaum eine gefälligere Sache, als wenn das Publikum am Ende mit einem breiten Lächeln auf den Lippen den Kinosaal verlässt. Wer kennt nicht den heilsamen Effekt eines stimmigen Happyends und wer schmunzelt nicht gerne über einen gelungenen Komödienfilm, auch wenn es sich dabei um eine romantische Komödie handelt. Obwohl sich bei diesem Schlagwort ein Großteil der Audienz nun mit Grausen an die retortenhaften Hollywooduntaten von Sandra Bullock und Konsorten erinnert fühlen wird, sollte man dennoch nicht ausschließen, dass es auch jenseits dessen, was uns von dieser Seite des Atlantik aufgetischt wird, andere Spielarten gibt, die dem Genre zuträglich sind und ihm auf eigentümliche Weise zum Nutzen gereichen. „Au Revoir Taipeh“ ist genau so ein Film, in dem alles gut geht, man sich am Ende im Kinosessel entspannt zurücklehnt, sich freut, dass die Welt sich auf eine so liebevolle Art zu drehen vermag und bei dem man das Gefühl hat, dass irgendwie alles richtig gemacht wurde. Das Spielfilmdebüt des taiwanischen Regisseurs Arvin Chen folgt zwar fast schulbuchmäßig allen Genrekonventionen von der französischen Liebeskomödie über die amerikanischen Gauner- und Heistfilme der 70er und 80er Jahre, er bearbeitet diese jedoch auf eine sehr originäre und kenntnisreiche Weise und schafft es, das Genre der Romantikkomödie ins Portrait einer Stadt zu transformieren.

Die Geschichte handelt von dem unglücklich verliebten Kai (Jack Yao), dessen Freundin ihn gerade verlassen hat und der er nun in Paris nachspüren will, wofür er nachts in einer 24-Stunden-Buchhandlung fleißig französische Anfängerlektüre liest. Dort lernt er auch die schüchterne Buchhändlerin Susie (Amber Kuo) kennen, die in der Nachtschicht arbeitet und sich zudem sehr an Kais Sprachlernversuchen interessiert zeigt. Leider kommt Kai mit seinen Verdiensten im elterlichen Nudelimbiss nur leidlich über die Runden und um an Geld zu gelangen, wendet er sich an den Ganovenboss 'Bruder' Bao (Frankie Gao). Dieser verspricht ihm, die Reise zu finanzieren, wenn Kai als Gegenleistung ein mysteriöses Päckchen nach Paris liefert. Baos Neffe Hong (Lawrence Ko), der die zwielichtige Immobilienfirma des Oberganoven leitet, bekommt Wind von der Sache, wittert einen großen Coup und setzt seine nichtsnutzigen Gehilfen auf Kai an, der zu allem Überfluss auch noch Susie ungewollt in die Sache mit hineinzieht. Als sich nun noch ein beziehungsfrustrierter Polizist in die Angelegenheit einmischt, beginnt für beide eine 85minütige turbulente Jagd durch Taipeh, in der sie nicht nur ihren Verfolgern entkommen müssen, sondern vor allem auch sich selber zu finden beginnen.

Obwohl dies alles so klingt, als sei es schon mehrfach dagewesen, schafft es Arvin Chen dennoch, dem so oft gesehenen Thema eine visuell ausgeklügelte Nuance zu verleihen. Der Film spielt nämlich fast ausschließlich nachts, wenn Taipeh bereits im Schlaf liegt und irgendwie doch niemals richtig schläft. Er zeigt eine andere Seite der sonst so quirligen Metropole und beweist nicht nur ein sehr feines Fingerspitzengefühl für Dramaturgie und wohldosierten Slapstick, er hat auch ein ausgesprochen gutes Händchen für die Auswahl der Spielorte: belebte Nachtmärkte, eine Buchhandlung, die durchgehend geöffnet hat, eine verlassene Imbissbude, Hinterhöfe, ein Park in dem nachts zur immer wiederkehrenden Themenmusik Synchrontanz geübt wird, oder ein heruntergekommenes Bordell. Die Liebesgeschichte, die hier inszeniert wird, scheint unter diesem Gesichtspunkt vor allem eine Liebeserklärung an die Stadt zu sein, für die Arvin Chen mit seinem 2006 gedrehten Kurzfilm „Mei“, der auf der 57. Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, bereits das Präludium komponiert hatte.

Um seine Figuren kümmert sich Chen zudem auf sehr liebevolle Weise. Dies wird vor allem in einem unausgesprochenen Verhältnis deutlich, in dem sie zueinander stehen. Alle Protagonisten teilen nämlich dieselbe Leidenschaft für die in Taiwan sehr beliebten Fernsehdramen, in denen es, wie im 'echten Leben', vor allem um Verbrechen, Liebe und Leidenschaft geht. Mit diesem immer wiederkehrenden Motiv verweist Chen zum Einen auf eine gewisse visuelle Schlichtheit in der Komposition seines Films. Die Kamera spielt dabei eine ebenso einfache Rolle, wie die Schauspieler. Eben dieser Sinn für die Reduktion des Komplexen ist es aber, die dem Film letztlich so gut zu Gesicht steht. Er ist clownesk und trotzdem nicht fahrig, romantisch aber nicht verkitscht, komisch aber nicht kalauerhaft. Zum Anderen kommt eine angenehme Selbstironie in die Geschichte, die sich sehr schön auf die gesamte Grundstimmung von „Au Revoir Taipeh“ ausweitet.

Unterstützung für sein Projekt fand Arvin Chen bei einem Altmeister des Neuen Deutschen Films. Wim Wenders, der für „Au Revoir Taipeh“ der ausführende Produzent war, hat auf die Entwicklung des Konzepts behutsamen Einfluss ausgeübt. Zu keiner Zeit drängt sich aber so etwas wie die Wenders‘sche Handschrift auf. Im Gegenteil schafft es Arvin Chen mit „Au Revoir Taipeh“ eine lockere Komödie zu inszenieren, in deren Subtext stets der Versuch einer eigenen, außergewöhnlichen Perspektive auf die Stadt Taipeh mitschwingt.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Astronaut Farmer

(USA 2006, Regie: Michael Polish)

Reise zum Mittelpunkt der Familie
von Sven Jachmann

Charles Farmer vereinigt in sich gleich zwei moderne Repräsentanten der Eroberung: Westerner und Astronaut. Denn der träumerische wie idealistische Farmer und ausgebildete Astronaut wünscht sich nichts sehnlicher als die Erfüllung …

Charles Farmer vereinigt in sich gleich zwei moderne Repräsentanten der Eroberung: Westerner und Astronaut. Denn der träumerische wie idealistische Farmer und ausgebildete Astronaut wünscht sich nichts sehnlicher als die Erfüllung seines Lebenstraums: Mit einer selbstgebauten Rakete die Erde zu umkreisen. Nicht jeder Traum ist indes einfach zu realisieren. Der Schuldenberg nimmt existenzbedrohende Ausmaße an, und nachdem der Kauf von 10.000 Litern Treibstoff zudem das FBI aufmerksam werden lässt, droht das Projekt zu kippen, zumal sich Farmer nun auch noch unter dauernder Beobachtung der Presse befindet, die ihn zum amerikanischen Helden zu stilisieren versucht, aber auch gleichermaßen geschickt für seine Zwecke vereinnahmt wird. Das kann ihn aber nicht beirren, denn den Mann treiben gleich zwei Aufgaben an: zum einen den traumatisch nachwirkenden Suizid seines Vaters zu verarbeiten und darüberhinaus als aufrechtes Vorbild für seine Kinder zu fungieren. Dass die gesamte Familie notwendigerweise für dieses Ein-Mann-Unternehmen vereinnahmt wird, ist nämlich der Motor, der die ganze Geschichte vorantreibt und die gesamte Produktion zum uramerikanischen Bilderbogen glättet. Nachdem er sich durch einen missglückten, trotzig wie unbedacht beschlossenen Startversuch direkt ins Krankenhaus beförderte, liegt es nun an der Familie – den ohnehin längst Leidtragenden seines therapeutischen Wahns – seine überbliebenen Identitätstrümmer zusammenzufügen. Die Kinder sollen begreifen, dass es stets lohnenswert ist, Träume zu entwickeln und sie zu leben, drum wird schleunigst eine zweite Rakete gemeinsam gebaut und auf den Namen „Dreamer' getauft. Und die Erdumrundung wird diesmal auch gelingen. So pathetisch das nun auch klingen mag, mit solch ernstem Gestus wird es uns denn tatsächlich dargeboten.

Die Exposition zeigt einen Astronauten zu Pferd, der im Breitwandformat vor malerischer Kulisse ein entflohenes Kalb einfängt. Aber entgegen allen ersten Vermutungen spielt der Film nicht mit der ikonographischen Zurichtung popkultureller Stereotypien, im Gegenteil, er setzt allen Ernstes ihren Mythos gleich doppelt fort. Der familiär besetzte Boden, die Farm, wird ins All fortgetragen, auch wenn der einzige Nutznießer des Vorhabens bloß Charles ist, dessen fixe Illusion die Familie an den Rande der Obdachlosigkeit treibt, sei es finanziell, sei es reputativ, denn es versteht sich von selbst, dass die Regierung den Griff nach den Sternen schon aus Integritätsgründen nicht zulassen will.

Was wir geboten bekommen, ist die Abkehr von paternalistischer staatlicher Bevormundung, ein Plädoyer des radikalen Individualismus, die Kultivierung des eigenen Traums, die schon als didaktischer Fingerzeig ein Fanal für den Nachwuchs erzeugen soll, darüberhinaus auch noch institutionenskeptisch daherkommen will und doch nicht mehr bedeutet als narzisstische Inanspruchnahme aller verfügbaren Ressourcen des Familienoberhaupts, auch der des Humankapitals, der Familienmitglieder. Denn tatsächlich besteht deren einzige Funktion darin, ihre Pflicht zu erfüllen, um daraus zukünftig zu lernen, sich dem Vater anzudienen, um daraus traumfähig zu werden. Dass Manie und pathologischer Zwang zufällig doch zum Erfolg führen können, dass sich manchmal hinterm romantischen Blick knallharter Rational Choice verbirgt, dass die Abkehr vom großen Kollektiv scheinbar auch nur seine Ankunft im Kleinen bedeutet, dass das vorgeblich ironische Spiel mit der Arbitrarität der Zeichen unglaublich eindeutig ausfallen kann und dass die Restauration des Familienidylls selbst nach „Der Eissturm', „Happiness' und Co. immer noch derart offenkundig aufgefahren wird, sind wohl die Eindrücke, die man aus diesem Lehrstück, es drängt sich einfach auf, bildgeronnener Hermann-Philosophie mitnimmt. Und die kann man lesen oder im Fernsehapparat anschauen. Genug ist genug.

The Signal

(USA 2007, Regie: David Bruckner, Dan Bush, Jacob Gentry)

Welt am Draht
von Sven Jachmann

Der Untergang der Menschheit im zeitgenössischen Kino verwischt zunehmend die Demarkationslinien zwischen den Bedrohungen: An Ursachenerklärungen besteht ohnehin immer weniger Bedarf, und von wem eigentlich die größere Gefahr ausgeht – …

Der Untergang der Menschheit im zeitgenössischen Kino verwischt zunehmend die Demarkationslinien zwischen den Bedrohungen: An Ursachenerklärungen besteht ohnehin immer weniger Bedarf, und von wem eigentlich die größere Gefahr ausgeht – dem Machtapparat, den sich meist wahllos formierenden Gruppen Überlebender oder den Infizierten selbst – wird beim Ausbruch des Chaos immer unübersichtlicher. Jüngere Beispiele hierzu sind „28 Weeks Later', „[REC]' oder „Diary of the Dead'. „The Signal' nun fügt der erodierenden Ordnung eine pikante, höchst effektive Note hinzu.

Stellten sich die Gefahrenherde der oben genannten Beispiele für die Protagonisten zunehmend als menschengemacht heraus, so blieb doch stets die Quelle der Bedrohung identifizierbar: Dank der Physiognomie und des Gebarens stiftete der rasende Zombie wenigstens die, wenn auch ziemlich aussichtslose, Sicherheit des Weglaufens. In „The Signal' wird selbst diese Gewissheit fragil, denn auch wenn die Menschen aufgrund eines psychedelischen, via Massen- und Telekommunikationsmedien verbreiteten Signals reihenweise dem Wahnsinn verfallen, äußert er sich doch bei allen unterschiedlich, zumal die Befallenen dem Irrglauben unterliegen, rational zu handeln und dementsprechend zielgerichtet vorgehen. Die Zuweisung Freund/Feind ist unmöglich, ein Ausbruch kann jederzeit erfolgen. Kontingenter und folglich desillusionierter kann das Setting eigentlich nicht mehr ausfallen.

Gesplittet in drei Teile, die in dieser Gemeinschaftsproduktion dreier Debütanten jeweils von einem anderen Regisseur inszeniert wurden, ist die Geschichte um das Dreiecksverhältnis von Mya (Anessa Ramsey), ihrem Ehemann Lewis (AJ Bowen) und dem Liebhaber Ben (Justin Welborn – der Name allein legitimiert jede Teilnahme!) situiert (wobei übrigens ein jeder der bisher unbekannten DarstellerInnen ein beeindruckendes Schauspiel unter Beweis stellt). Dabei ist jeder Episode bei teilweise zeitlicher Überschneidung die Perspektive einer Figur vorbehalten. Obgleich der Stil bei diesem Vorgehen eine erstaunliche Geschlossenheit beweist, wechselt doch sichtlich, manchmal zum Nachteil, der Tonfall der Episoden. Mit Mya erfolgt die notwendig knappe Heranführung an die Figurenkonstellationen, um sodann ganz vom einbrechenden Wahn in die Umwelt abgelöst zu werden. Einer der raren Momente im Kino, in dem Paranoia gar nicht ausgeprägt genug sein kann. Mit dem Wechsel auf den gehörnten Ehemann Lewis und seiner Suche nach Mya verlagert sich der Terror der äußeren Welt in die Intimität des trauten Heims, und der omnipräsenten Gefahr wird durch Einlagen der Groteske eine Verschnaufpause gewährt. Während einer obskuren Geburtstagsparty beargwöhnen sich die skeptischen Teilnehmer solange, bis die Gewalt umso unverminderter wieder einsetzt. An dieser Stelle ist auch der Bildebene nicht mehr zu trauen. Die irritierte Frage nach den Konstanten der Realität kann auch der Zuschauer nicht selten nur noch posthum beantworten. Mit Blick aufs Interieur, den Prämissen des schwarzen Humors, der Rollenfunktionen der Figuren und ihrer gemeinsamen medialen Fixierung sowieso, etabliert sich jedoch ein Bruch im Plot, der, so scheint es, das Geschehen beiläufig dazu nutzen will, satirisch die Konstitution der bürgerlichen Familie zu attackieren. Der krasse Wechsel von slapstickhafter Situationskomik zu brachialer Gewalt offenbart zudem vornehmlich den allen Vorannahmen entgegenwirkenden Taschenspieler und wirkt ob seiner Dissonanz reichlich deplaziert. Warum den Zusammenbruch der Institutionen durchexerzieren, wenn draußen bereits das Inferno tobt? Der dritte Teil vereint die Suchenden, greift auf die Härte der ersten Hälfte zurück, mit dem Unterschied, dass Erklärungsansätze für das Phänomen geboten werden, die aber gleichermaßen dem Wahn geschuldet sein könnten. Das korrespondiert mit den Empfindungen der Protagonisten und ihrer Aussicht auf ein Leben in dieser zukünftigen Welt: in der der Retter mit altruistischem Antlitz sich urplötzlich als lachender Mörder entpuppt. Keine Möglichkeit, hierin noch irgendeinen Funken Hoffnung aufkeimen zu lassen.

Tideland

(CAN / GB 2005, Regie: Terry Gilliam)

Die Welt von Jeliza
von Sven Jachmann

Terry Gilliams Figuren sind Meister der Verdrängung. Ob gepeinigt von Schuld, diffusen Selbstsinnsuchen oder unwirtlichen Realitäten sind sie doch meist gezwungen, ihr Heil in der Fantasie zu finden. Wenn der …

Terry Gilliams Figuren sind Meister der Verdrängung. Ob gepeinigt von Schuld, diffusen Selbstsinnsuchen oder unwirtlichen Realitäten sind sie doch meist gezwungen, ihr Heil in der Fantasie zu finden. Wenn der duckmäuserische Angestellte Sam Lowry in „Brazil' sein Glück erträumen muss, um den Repressalien eines totalitären Staates zu entfliehen und seine vermeintliche Bestimmung zu finden, die letztlich gar keine ist oder Baron Münchhausen im „Zeitalter der Aufklärung“ unter Bombenhagel, seiner zutiefst realen Kehrseite, vor einem verängstigtem Publikum all seine Lügengeschichten zum Besten gibt, dann reiht sich das junge Mädchen Jeliza-Rose, die Hauptfigur aus „Tideland', mit ihrem unbestürzbarem Willen zur Weltflucht in diese Phalanx der Gilliam`schen Träumer nahtlos ein.

Die Gründe sind mehr als einleuchtend: Hat man erstmal verdaut, wie pragmatisch sie den Drogentod ihrer Mutter übersteht, nur um wenige Filmminuten später, nachdem sie mit ihrem Vater in das verfallene Farmhaus ihrer Großmutter geflohen ist, die scheinbar ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden weilt, nach einer weiteren Überdosis auch seinem Ableben beiwohnen zu müssen, allein und mitten in den Weiten der frühherbstlichen Felder, bleibt nichts mehr als irritiertes Verständnnis für ihre pathologischen Akte: Der Anthropomorphisierung ihrer drei Freunde, abgetrennte Puppenköpfe, die allesamt im Laufe des Films verlustig gehen werden; der Vereinnahmung der Leiche des Vaters, die beständig vor sich hinfault, später gar konserviert, aber eben auch dennoch als Ansprechpartner fungieren wird; ihrer stetigen Lektüre und teilweise wörtlichen Zitation aus Carrolls „Alice in Wonderland“ und der kruden Liasion mit dem erwachsenen und geistig behinderten Bruder der verrückten Hutmacherin.

Natürlich gibt es keine verrückte Hutmacherin, sondern lediglich zwei entrückte Charaktere, die als einzige Nachbarschaft hier ihr mehr als klägliches, weil vereinsamtes Dasein fristen. Nämlich ein Geschwisterpaar, er, Dickens, misshandelt, sie, Dell, misanthropisch, cholerisch und nekrophil veranlagt. Eine gebrochene Existenz im Tideland, die alles, was sie verlieren könnte, zwanghaft ausstopfen muss. Und das betrifft nicht nur Tiere, sondern auch Jelizas Vater, Dells früheren Geliebten, wie sich herausstellen wird, genauso wie Jelizas Großmutter.

Der Film folgt nun permanent ihrer Perspektive. Ständig wird die schäbige Realität mit Jelizas Fantasie kontrastiert. Und das provoziert immer wieder das Gefühl der radikalen Beklemmung: Wie schlimm ist der Verlust einer eben bloß imaginären Freundin, wie gesagt ein abgeschnittener Puppenkopf, zu werten, wenn er in ein Erdloch stürzt? Was soll man von einer irgendwie romantisierten Beziehung zwischen einem unbedarften Kindmann und einem mental völlig ihrer Fantasie überantworteten Mädchen halten, wenn ihre Zweisamkeit langsam an die Grenzen der Pädophilie stößt? Wenn Dickens seinen streng gehüteten Sprengstoff präsentiert, mit dessen Hilfe endlich der gefräßige Schienen-Hai, in Wirklichkeit nichts mehr als jene Bahnschienen, die Jeliza überhaupt erst in diese Einöde führten, seiner Schranken verwiesen werden soll? Oder anders gefragt: Wieviel kindliche Imagination kann der Rezipient ertragen, wenn abzusehen ist, dass all das Präsentierte keinen guten Ausgang nehmen wird?

Gilliam wäre nun nicht Gilliam, würde er nur schlicht ein Panoptikum des Wahns entwerfen. Der Bruch mit der geschulten Wahrnehmung der Realität scheint hier inszenatorisches, narrativisches, in letzter Instanz auch poetologisches Prinzip: Die Kamera meist schräg und dabei leicht tänzelnd, als würde sie fortwährend einen Kampf zwischen Schönheit und Groteske ausfechten; der Plot manchmal zu zerfranst, geradezu hilflos, jedenfalls keine gute Orientierungshilfe, für die Suggestion eines funktional sortierten Handlungsverlaufs, der immer wieder an den Kern der Geschichte erinnern lässt; die Freiheit und Schönheit der Natur, die sich dichotomisch zur Enge und dem Verfall des Landhauses verhält, Jelizas Fantasie zu erweitern hilft, gleichzeitig aber auch ihre Einsamkeit ausdehnt, all diese Elemente stehen im Dienste der Figurenentwicklung, ihren Perspektivierungen und verabreichen ihnen Facetten, mit deren Hilfe erst die ganze Tragik hinter diesen Biographien fassbar wird.

Wir sehen also die Welt durch Jelizas Augen und weil diese Welt nicht schön ist, wird sie eben schön gemacht. Im Gegensatz zu ihr wissen wir das vorgeführte Elend recht bald zu dechiffrieren und gelegentlich auf seine Ursprünge zurückzuführen. Ihr hingegen sind lediglich wenige Momente vergönnt, in denen die Illusion die Realität nicht mehr beherrschen kann. Etwa wenn sich Dell doch nicht als trauernder Geist und Dickens nicht als todesmutiger U-Boot-Kapitän, sondern beide sich als ganz normale Verrückte erweisen, die ihre Verletztheit sublimieren. Von einem Kind ist in dieser Lage jedenfalls keine kathartische Entwicklung zu erwarten. Deswegen scheint alles in diesem Film ihrer Wahrnehmung untergeordnet zu sein und vielleicht führt auch das zu dem bitteren Beigeschmack des mutmaßlich befreienden Endes. Dass Jelizas Rettung erst durch ein apokalyptisches Inferno, „dem Ende der Welt“, möglich wird, der Sprengung der Bahnschienen, der Erlegung des Schienenhais, dem Tod zahlreicher Menschen und dass dieser Moment erneut ihrerseits von der Illusion vereinnahmt wird, Dickens habe endlich sein Ziel erreicht. Als sie sich mit einer verletzten Passagierin anfreundet, können wir nur ahnen, ob sie dadurch eine Freikarte ins häusliche Glück oder in die diagnostizierte Psychose erhalten hat. Die Kindheit jedenfalls scheint vorbei.

Bug

(USA 2006, Regie: William Friedkin)

Die Reise ins Wir
von Sven Jachmann

„Bug“ ist nichts weniger als das formidable Alterswerk eines gestandenen New Hollywood-Protagonisten, der sich nach einer langen Durststrecke zur alten Größe aufschwingt. Streng durchkomponiert und von solch bedrückender Kälte, wie …

„Bug“ ist nichts weniger als das formidable Alterswerk eines gestandenen New Hollywood-Protagonisten, der sich nach einer langen Durststrecke zur alten Größe aufschwingt. Streng durchkomponiert und von solch bedrückender Kälte, wie es Friedkin zuletzt wohl mit „Rampage“ (1988) gelang. Unbequem, tragisch, sarkastisch. Und irgendwie disparat.

Kein Horrorfilm, vielleicht ein Psychodrama, dessen Intensität indes der Intensität der Angsterzeugung in einem gelungenen Horrorfilm in nichts nachsteht. Der Dämon aus dem Exorzisten ist hier weltlichen Ursprungs, aber er weiß ebenbürtig Kopf und Körper zu attackieren. „Bug“ bleibt für lupenreines Identifikationskino, in dem runde Charaktere jederzeit ihre Motivationen einsehen lassen, unzugänglich. Nicht ungewöhnlich für Friedkin. Seine Figuren sind im Regelfall im Jetzt positioniert, verfügen meist über keine nennenswerte Vorgeschichte. Sie zerbrechen an den Situationen, denen sie ausgeliefert sind. Im vorliegenden Fall ist das fast wörtlich zu nehmen, denn der menschliche Körper wird hier, bis zum düsteren Finale, ganz freiwillig radikal malträtiert. So freiwillig, wie die Paranoia es eben zulässt, die die Fäden dieses Kammerspiels zusammen hält und zwar so stark, dass sie, irritierend für den Zuschauer, Einzug in die Sprache des Films findet. Das beginnt bereits mit der ersten Einstellung, in der die Kamera im freien Flug aus der Vogelperspektive das Motel fokussiert, in welches sich der Wahnsinn einnisten wird. Wir wissen gleich: In dieser Einöde inmitten Oklahomas gibt es kein Entkommen, wir haben aber auch auf der personalen Erzählerebene eine Instanz, die mit den Ängsten der zwei Protagonisten korrespondiert. Da draußen könnten „sie“ sein, vielleicht nicht nur in der Einbildung. Agnes (Ashley Judd) und Peter (Michael Shannon) sind zwei gestrandete Existenzen, in denen die Furcht vor dem Kontrollverlust pulsiert. Sie wird von ihrem Ex-Mann terrorisiert, der immer wieder in ihr Heim hereinbricht, sie (mutmaßlich?) mit Telefonanrufen belästigt, aber deshalb vielleicht kalkulierbar bleibt; er wiederum leidet an einem Kriegstrauma, an dem Glauben, Proband in einem Regierungsexperiment zu sein, in dem man ihn zur Kontrolle mit Käfern bestückte, die den gesamten Körper, später auch das Motel infiltrieren. Eine tragische Liebe, soviel ist klar, aber vor dem Mitgefühl befinden wir uns längst im Bannkreis der Irritation.

Zur einleitenden Vogelperspektive der Kamera gibt es das Läuten des Telefons zu hören (überhaupt wird Friedkin, was fast schon wie eine ironische Kommentierung des eigenen Werkes erscheint, die Tonspur nur einmal für einen kurzen Moment offscreen ausnutzen), Agnes hebt ab, aber niemand meldet sich. Bereits in diesem Moment haben wir die zwei zentralen Ängste der beiden Liebenden vereint, diffus und allmächtig die eine, scheinbar greifbar die andere. Und wir sollen in die Erzählung kein Vertrauen schöpfen. Wenn Agnes nach der ersten gemeinsamen Nacht mit Peter aufwacht, mit einem sanften Lächeln zum Badezimmer schaut und urplötzlich Jerry (Harry Connick jr.), ihr Ex-Mann, aus selbigem tritt, ist es bereits egal, dass Peter lediglich die Frühstücksbrötchen besorgte und Jerry sich eigenmächtig Eintritt verschaffte, wir hätten auch Zeugen einer gestörten Wahrnehmung sein können. Dieser entrückte Eindruck setzt sich fort: Wieso ist Agnes so schnell Peter hörig, obwohl sie zuvor mit aller Härte verdeutlichte, dass sie kein Interesse an Männern hat? Was wurde aus ihrem Sohn, der scheinbar entführt wurde und nie mehr auftauchte? Wieso legt der cholerische und eifersüchtige Jerry nicht ein Mal Hand an Peter? Wer ist der dubiose Arzt, der später ins Geschehen tritt und offensichtlich Jerry kennt und als Aufklärer und Heilsbringer zugleich fungiert (und den Schauplatz nicht lebend verlassen wird)? Und was haben dann die mysteriösen Anrufe zu bedeuten, wenn Jerry ohnehin das Motel betreten kann, wie es ihm passt? Welcher Pizzaservice liefert seine Ware unaufgefordert? Wieso lässt sich Agnes’ höchstbesorgte und beste Freundin nicht mehr blicken, obwohl sie Zeugin des dramatischen Zustands der beiden wurde?

Beim niederschmetternden Finale offenbart sich langsam die Ahnung, dass diese Chronik einer fatalen Paranoia scheinbar immer wieder die Narration ins Assoziieren lenkte, in eine trübe Logik, die nur durch willkürliche Sinnerschließung zum roten Faden gerinnen kann. In diesem Fall bleibt uns nichts anderes übrig, als Agnes zuzustimmen, wenn es triumphierend aus ihr herausschreit, dass sie die Mutterschabe sei. Das ist dann wohl der Horror des mentalen Verfalls, über den wir uns erhaben wähnten und dennoch von Anfang an durch ihn geblendet wurden.

Paranoid Park

(F / USA 2007, Regie: Gus Van Sant)

Jugendkultur des Todes
von Andreas Thomas

Nicht erst in seiner Todes-Trilogie („Gerry“ (2002), „Elephant“ (2003), „Last Days“ (2005)), die sich stilistisch merklich von seinen konventionelleren Filmen („To Die For“ (1995), „Good Will Hunting“ (1997), „Even Cowgirls …

Nicht erst in seiner Todes-Trilogie („Gerry“ (2002), „Elephant“ (2003), „Last Days“ (2005)), die sich stilistisch merklich von seinen konventionelleren Filmen („To Die For“ (1995), „Good Will Hunting“ (1997), „Even Cowgirls get the Blues“ (1993), „Forrester- Gefunden“ (2000)) unterschied, interessierte sich der amerikanische Regisseur Gus Van Sant vor allem für die Generation der Heranwachsenden der gegenwärtigen USA. Schon seine Frühwerke wie „Mala Noche“ (1985) oder „Drugstore Cowboy“ (1989) waren mit ihren provisorisch unbürgerlichen Lebensstilen und eskapistischen Gegenmodellen stumme Antworten einer auf sich selbst zurückgeworfenen Jugend an die nicht funktionierende, „heile“, materialistische Welt ihrer Eltern.

Jugend in ihrer Orientierungslosigkeit („Gerry“), mit ihrem Leben in einer parallelen Realität des Drogenkonsums („Drugstore Cowboy“) oder in ihrer Flucht in den erweiterten Selbstmord („Elephant“) ist zugleich Symptom einer kranken Gesellschaft, aber ihr Zustand dient Van Sant implizit auch als Beweis für die ausgeprägte Sensibilität adoleszierender Jugendlicher und für ihre noch unverkümmerte Fähigkeit, einerseits das „falsche“ Leben zu identifizieren und andererseits darauf Reaktionen zu zeigen, seien es selbstzerstörische oder auch, manchmal, kreative und alternative. Fast immer sind es bei Van Sant die Heranwachsenden, denen es auffällt, dass die Welt, in die sie hineinwachsen sollen, nicht akzeptabel ist; und ihnen bleibt meist nichts, außer – so oder so – verhaltensauffällig zu werden.

Die Jugend in der Trilogie empfahl sich, indem sie (leise oder laut) starb und so fortan der Welt nicht mehr zur Verfügung stand. Selbst Punk, oder, wenn man so will, die letzte genuin große jugendliche Gegenkultur oder -revolte, die durch Nirvana-Sänger Kurt Cobain verkörpert wurde, entleibte sich (im Film „Last Days“) freiwillig, als die Musikindustrie es geschafft hatte, schneller zu sein als sie, und den cobainschen Urschrei direkt als Mainstream-Produkt auf den Markt warf, ihn a priori bejahte, so schluckte und zum Verschwinden brachte.

Mit seiner „Todes-Trilogie“ malte Van Sant ein reichlich finsteres und finales Gemälde dessen, was vielleicht noch ansatzweise wie Jugendkultur aussah und erklärte damit implizit das Ende der Hoffnung auf Veränderung. Nur am Rande, etwa in der Figur eines offenen und empathischen Schülers, von welchem in „Elephant“ sich ein Punkerpärchen fotografieren lässt, existierte auch in Van Sants Todes-Trilogie immer noch eine Art utopischer Gegenentwurf, die Ahnung von jugendlicher Authentizität, Autonomie und Selbstbewusstsein. Es scheint sogar, so radikal und vollständig Jugend unter den ihr gegebenen Bedingungen leiden und sterben muss, weil die Welt der Erwachsenen in allen ihren Eigenschaften der Jugend komplett konträr ist, so unkorrumpierbar und anders und geradezu immun aber ist sie, falls sie überleben sollte.

In „Elephant“ jedoch wird der junge Fotograf eines der vielen Opfer zweier unglücklicher, bis an die Zähne bewaffneter Jungen; in der Trilogie entledigt sich Adoleszenz noch ihrer selbst, inklusive ihrer Chancen zur autonomen Alternative. Alex aber, der jugendliche Protagonist von „Paranoid Park“ überlebt, obwohl er mit der Gefahr spielt. Alex (Gabe Nevins) ist ein „Sk8er Boy“, wie ihn Avril Lavigne besingt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass seine Freundin Jennifer auch wie Lavigne aussieht, was aber nicht bedeutet, dass Van Sant das Popsternchen-Double gut abschneiden lässt, denn in Form und Inhalt steuert der Film eher gegen Konsum und Konsumierbarkeit. Jennifer ist ein magersüchtiger Cheerleader und zu ihrem MTV-Lebensstil gehören Sachen wie ein cooler Skater als Freund und eine frühzeitige Entjungferung durch selbigen. Deshalb zerrt sie ihn bei einer Party auch direkt ins Schlafzimmer. Was dort folgt, ist Oberfläche ohne inneren Bezug, ohne seine Beteiligung und wirkt wie eine „sachliche“ Vergewaltigung. Nach Vollzug macht sie Meldung übers Handy an die Freundin.

Alex selbst (und Van Sant) ist weniger an einer fristgerechten Defloration als an der so genannten „Skater Community“ interessiert, ihren philosophischen, ästhetischen, sozialen Äußerungen. Weil Alex spürt, dass das echte Existieren outside normal life passiert, beschließt er, mit einem Freund den Paranoid Park zu besuchen, ein großes Arreal mit illegal gebauter Skaterbahn, ein Treffpunkt für junge Punks, Skater und andere, „denen es noch beschissener geht als uns“. Alex’ anfängliches Zögern kommentiert sein Freund mit: „Nobody is ever ready for ‚Paranoid Park’ “ und diese Ansage könnte als Anleitung für die Wahrnehmung des gleichnamigen Films dienen, dessen nonlineare, hyperreale und assoziative Erzählform immer noch an die Trilogie erinnert, aber nicht mehr so plakativ gegen den Strich möglicher Kausalketten gebürstet ist. Man hat den Eindruck, als habe Van Sant sich genügend gelöst von der cineastischen Konvention, so als wäre das betonte „Anders erzählen“ nicht mehr so sehr nötig, um einen selbstverständlichen und eigenen Stil zu behaupten.

„Paranoid Park“ ist ein handwerklich unbefangenerer, heitererer und freierer Film als seine Vorgänger, was vielleicht auch an seinem Sujet liegt: Die fatale Schwere von Lähmung, mangelnder Perspektive und Tod weicht einem neuen unmittelbaren Blick in die eigene Existenz, „like different levels“, verglichen mit dem Normalen, Vorgeschriebenen, andere Levels mit anderen Spielregeln, als den einseitigen und einengenden der neoliberalen Gesellschaft und ihren sichtbarsten Exponaten, den an ihren Schülern uninteressierten Lehrern und den kaputten Typen, die sich Eltern nennen, aber vor lauter Kaputtsein nichtmal mehr ihre Rollen als Eltern spielen können. Die Jugendlichen bei Gus Van Sant sind immer und von vornherein auf sich allein gestellt, alles, was sie von den Erwachsenen lernen können, ist, wie man möglichst vermeiden muss zu werden. Auch Alex’ Eltern leben getrennt und als Alex wirklich einmal dringend seinen Vater braucht, teilt der ihm mit, dass er in Zukunft überhaupt nicht mehr für ihn da sein wird. Die Alternative ist entweder, die Werte der Älteren zu übernehmen und daran zu Grunde gehen oder sich radikal von ihnen abzuwenden und eigene Regeln aufzustellen, die Welt mit anderen Augen sehen lernen.

„Paranoid Park“ gebraucht die Perspektiven der Skater, hat private Super8-Filmaufnahmen eingebaut, eine Welt im Fluss, im Zeitraffer und in Zeitlupe, ist zu 50 Prozent eine Meditation aus Bewegung und Klang. Darüber und darunter ein manchmal ironisch, manchmal hochsensibel eingesetzter Score von der für Van Sant bekannten Ambient Music bis zu Filmmusikzitaten aus Fellinis „Amarcord“ und „Julia und die Geister“, und der Film verlässt sich mit Recht vertrauensvoll auf die vorsprachlichen, nichtszenischen, jenseits der Handlung liegenden Aussagen von Bild und Ton, sodass der Plot, der auf dem gleichnamigen Roman von Blake Nelson basiert, etwa gleichberechtigt mit ihnen koexistiert. In seinem Zentrum und tatsächlich auch im Zentrum des Films steht der Tod eines Parkwächters, für den Alex eventuell Mitverantwortung trägt. An der Frage dieser Verantwortung laboriert Alex und reift er auch, und er lernt anhand des Paradoxons „Paranoid Park“ und „Parkwächter“ etwas über die Inkompatibilität zweier paralleler Welten.

Van Sants Film ist ein nach-postmodernes künstlerisches Manifest eines Seins jenseits materieller und normativer Zwänge, das sich inhaltlich und formell möglichen Tautologien oder Klischees zu entziehen versteht, – „als wäre das Bild auf einmal wieder berechtigt, die Pracht der Welt in sich zu tragen“, schrieben die Cahiers du Cinéma über den Film im Oktober 2007. Mit „Paranoid Park“ beschreibt der Regisseur nicht nur die Möglichkeit eines bewussten, autonomen, „richtigen“ Lebens im „falschen“, er erkennt auch, trotz seiner 56 Jahre, mit den Augen eines Jugendlichen, wie und dass solches entgegen aller Aussichtslosigkeit, an der seine vorigen Helden starben, möglich sein könnte. Nach den letzten drei Van Sants war derartiges kaum zu erwarten. Man kann „Paranoid Park“ als einen nicht leichtfertigen, dennoch positiven und beinahe schon utopischen Film verstehen.

Water

(CAN 2005, Regie: Deepa Mehta)

Ghandi-Regenschirme
von Andreas Thomas

Wer hat wen geschlagen? Natürlich mal wieder der Mann die Frau. Diesmal in Indien und zwar als bis in die Gegenwart reichender Dauerzustand. – Schlimm genug, wenn kleine Mädchen mit …

Wer hat wen geschlagen? Natürlich mal wieder der Mann die Frau. Diesmal in Indien und zwar als bis in die Gegenwart reichender Dauerzustand. – Schlimm genug, wenn kleine Mädchen mit alten Männern verheiratet werden. Aber falls der Gatte stirbt, was im Fall der Chuyia im Film „Wasser“ bereits in ihrem neunten Lebensjahr geschieht, fühlt sich seine Familie nicht mehr für die Witwe verantwortlich und sie wird einem speziellen Ashram überstellt, einem Haus, in dem hinduistische Witwen den Rest ihres Lebens in Armut und Entsagung verbringen müssen.

Auch dass sich manche von ihnen, um die Ashram-Kasse aufzustocken, inoffiziell prostituieren dürfen, wirft kein besseres Licht aufs honorige indische Partriarchat, und wenn sich selbiges auch kleine Kinder wie Chuyia zum Zeitvertreib ins Bett holt, dann scheints ja zu klappen mit der idealen Verquickung von männlicher Rücksichtslosigkeit, Macht und der Instrumentalisierung religiöser Dogmen für männliche Interessen,- der Mann und die Religion: eine unheilige Allianz, die allerorten funktioniert hat und funktioniert. Wo, wenn nicht in den großen Weltreligionen, war – und ist noch – Frauenfeindlichkeit am tiefsten und effektivsten verankert?

Deepa Mehta, die von hinduistischen Fundamentalisten mit Morddrohungen versehene Regisseurin von „Water“, schlägt einen Weg ein, den auch andere Regisseurinnen beschreiten: Den eines geringeren Widerstandes, der sich in diesem Fall manifestiert durch Anleihen beim Schicksalsroman: Eine niedliche und freche Kindwitwe, eine alte Witwe, die sich niedlicherweise nach Süßigkeiten sehnt, eine bildschöne Witwe im besten Heiratsalter, zur Prostitution verdammt, des weiteren: einen gut aussehenden, bebrillten Ghandi-Anhänger, der nicht nur, wie Ghandi, Jurist ist, sondern auch mit dem berühmten Ghandi-Regenschirm spazieren geht und sich in die bildschöne Witwe verliebt; (sein Vater hat sich von ihren Fähigkeiten aber auch schon regelmäßig überzeugen können, was ihm dann doch den Spaß verdirbt), schließlich dann Klischee-Ghandi selbst, der einen eigens für ihn auf einem Bahnhof errichteten Thron erklimmt, nur um einen einzigen Satz zu wiederholen („Früher habe ich daran geglaubt, dass Gott die Wahrheit ist, heute glaube ich, dass die Wahrheit Gott ist“), den das komplette Hinterhof-Indien sowieso schon von ihm kennt und jede Menge (feminines) Ganges-Wasser und Wassermetaphorik, alles dies Überzeugungsmittel, mit denen Mehta offenbar den steinernen Patriarchen des neuzeitlichen Indiens erweichen will, aber jeden veritablen Menschenrechtler beschämen muss, da die blanken Fakten ja wirklich schon genug aussagen.

„Water“ ist, nicht nur, weil er einen aktuellen Missstand ins Jahr 1938 verlegt, auch, weil er meint, zu Herze gehen zu müssen, indem er eine Soße aus Musik und pittoresker Nostalgie-Folklore mit reizenden unglücklichen Kindern und hübschen unglücklichen Frauen vermengt (und implizit das Schicksal langweiliger unglücklicher Kinder und hässlicher unglücklicher Frauen hintanstellt), ein eher schwacher, zu wenig aggressiver Film geworden, der mit abgemildert bollywoodesken Methoden Aufklärungsarbeit leisten will. In Indien konnte er so tatsächlich ein großes Geschrei auslösen, aber in Deutschland wird er vorwiegend international interessierten Beamten ergreifende und bestürzende Schicksale aus einem geheimnisvollen Land bieten – also ihnen ihre gepflegte, kulturell wertvolle Abendunterhaltung sichern, nicht wahr?

Die März Akte

(D 1985, Regie: Peter Gehrig)

Nachrichten aus dem Kulturbetrieb
von Sven Jachmann

Wo er recht hat, hat er recht. Verlagsarbeit ist langweilig, folglich kann ein Verlagsporträt nur so spannend wie sein Verleger ausfallen, dachte sich März-Inhaber Jörg Schröder und also weiter: Was …

Wo er recht hat, hat er recht. Verlagsarbeit ist langweilig, folglich kann ein Verlagsporträt nur so spannend wie sein Verleger ausfallen, dachte sich März-Inhaber Jörg Schröder und also weiter: Was tun? Eine Rahmenhandlung schaffen, die dem chronischen Skandalon, das dem Post 68er-Familienbetrieb anhaftet, den gebührenden Platz verschafft. Drum spielt Horst Tomayer, darstellend bekannt aus dem ersten Otto-Film und Tagebücher verbreitend aus Konkret, den Betriebsprüfer, der, unwissend und unbedarft wie wohl die meisten Zuschauer dieser aus öffentlichen Geldern finanzierten Produktion des Bayerischen Rundfunks, in der hessischen Provinz über Rechnungsbeträge und Steuererklärungen in die Parallelwelt des und eines linken Kulturbetriebs eintauchen muss und davon auch nicht völlig unbeeindruckt bleibt.

Jörg Schröder spielt Jörg Schröder und darf spontan auf den komplett improvisierenden Tomayer und das vorgeführte Interviewmaterial einstiger Wegbegleiter reagieren. Und das sind derer nicht wenig: Henryk M. Broder, Karl Dietrich Wolff, Klaus G. Saur, Mathias Bröckers, Uve Schmidt und einige mehr prüfen ihren Erinnerungshaushalt. Zwischendurch ist auch mal ein Daniel Cohn-Bendit zu sehen, der als Interviewpartner zwar nicht vorgesehen, durch penetrantes Wortabschneiden dann aber doch noch einer geworden war. Die Montage zeigt, wie gegensätzlich diese Erinnerungen beschaffen sein können. Den Rest erledigt redselig, aufbrausend, sarkastisch, aber durchaus nicht unhöflich Schröder in Eigenregie, und auch hier sorgt die Montage dafür, dass er das letzte Wort behalten soll.

März, das ist wohl der symptomatischste Versuch, die Uneinheitlichkeit als Mehrebenen-Analyse, als Einheitlichkeit widerständischer Kultur zu propagieren. Da war eben nichts ohne das andere zu denken. Brinkmanns »Acid Anthologie«, Robert Crumbs »Headcomix«, Gunter Schmidts »Das große DerDieDas« bis hin zum obskuren Astrologieführer oder, noch weiter weg, aber ziemlich nah dran, der Zweitverlag Olympia Press, dessen pornographischen Lizenztitel wiederum dem Überleben des März-Verlags zugute kamen. Die Corporate Identity bot dann eben das stets gelb-schwarze oder gelb-rote Titelbild oder eben das Ziel, jedes Milieu innerhalb des Milieus im Verlagsprogramm berücksichtigt zu wissen, gegen jedes Dogma, oftmals auch gegen jede verlegerische Vernunft, zumindest aber mit Esprit.

Die März Akte, das ist dann weniger die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs eines einstmals unumgänglichen linken Kleinverlags, es ist vielmehr die Fortsetzung des von Schröder so beständig initiierten Mythos Schröder: idealistisch gegen Feuilletonmuff verlegend, fast immer an der Schwelle zur Selbstausbeutung, dabei aber immer lauter schreiend und schreibend als die anderen, nachträglich dann doch vorausreitend, auch wenn sich dabei die Parameter des Kulturbetriebs verschoben haben mögen. Wer heute Popliteratur denkt, denkt Adoleszenz-Hochnäsigkeit im (meist nicht mal) Secondhand-Nadelstreifen, aber ganz sicher nicht Rolf Dieter Brinkmann und Bernhard Vesper.

Der Film indes stellt sich gern in die Dienste seiner Figur und macht aus seinem Duktus keinen Hehl. Lektorengespräche mit aufstrebenden Jungautoren sind offensichtlich gefaket, kurz vor Schluss liegt Schröder, ganz armer Poet, mit echten 39,5 Grad Fieber im Bett, gezwungen, der Rezitation eines Betriebsprüfergedichts vom sanft geläuterten Horst Tomayer zu lauschen, beide können sich das Lachen nicht verkneifen. Das mag auf der einen Seite unverhohlene Kolportage sein, es ist aber auch ein herrlich klatschdurchtränkter Einblick in die Mechanismen und Strukturen bundesrepublikanischer Kulturschickeria, dessen Essenz ist – im Zeitalter der digitalen Bohème mehr denn je -, dass Idealismus kaum ohne Selbstausbeutung, Selbstausbeutung sehr wohl aber ohne Glamour, wunderbar und immer noch gültig für heutige Verhältnisse anwendbar ist.

Zur DVD von absolut Medien:

Eine Fernsehproduktion aus dem Jahre 1985 wird selbstredend nicht dafür genutzt werden, das digitale Medium neu zu erfinden, zumal diese Edition leider ohnehin bloß eine kleine Käuferschar finden wird. Wirkt das Bild an manchen Stellen schon recht abgenutzt und poltert der Ton überaus blechern daher, so reicht doch allein die Freude am Wissen daran, daß auch dieses Kleinod das analoge Zeitalter hinter sich gelassen hat. Zumal die Extras den Film hervorragend ergänzen: Im Gespräch mit Mathias Bröcker läßt das Verlegerpaar die Zeit nach dem Film Revue passieren, und im 20seitigen Booklet, ein langer Auszug aus der 38. Ausgabe von »Schröder erzählt«, blickt selbiger nochmals ausführlich und originär auf die Produktionsgeschichte zurück.

Beruf: Neonazi

(D 1993, Regie: Winfried Bonengel)

Verdeckte Ermittlung
von Sven Jachmann

Nach seinen ersten Aufführungen 1993 provozierte Bonengels Dokumentarfilm um den jungen Münchener Neonazi Eward Althans einen veritablen Skandal: Es hagelte Verisse von Spiegel bis Konkret, Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des …

Nach seinen ersten Aufführungen 1993 provozierte Bonengels Dokumentarfilm um den jungen Münchener Neonazi Eward Althans einen veritablen Skandal: Es hagelte Verisse von Spiegel bis Konkret, Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, forderte ein Verbot, die hessische Innenministerin Evelies Mayer gar die Rückzahlung des Förderungsgeldes und im Dezember selbigen Jahres erfolgte eine kurzzeitige Beschlagnahmung. Die Anklagepunkte waren relativ identisch: Zu wenig Distanz zur portraitierten Figur führe unter Umständen zur Identifikation und böte so Althans ein gern in Beschlag genommenes Forum zur Verbreitung seiner Ansichten und Glorifizierung seiner Person.

Bonengel verzichtet gänzlich auf einen belehrenden oder kontextualisierenden Kommentar, lässt von den Eltern bis Ernst Zündel alle wegweisenden Personen im Leben Althans’ zu Wort kommen und verschafft durch dieses Mittel überhaupt erst das, was ein Dokumentarfilm, der ein bisschen mehr möchte, als dem Rechtsextremismus gutwillig und voll überschäumender Entrüstung auf die Finger zu klopfen oder vielmehr: durch Dämonisierung seines Gegenstands in erster Linie die moralischen Prämissen der Macher in den Mittelpunkt zu rücken, dem Thema eine angemessene, wie abstoßende Sperrigkeit. Eine unmittelbare, regelrecht forcierte Reaktion auf das Gezeigte wäre wohl Reflexion. So viel sollte klar sein: Wer in Althans’ Reden, bspw. seine vor sichtlich beschämtem Publikum vorgetragene Leugnung der Shoah inmitten der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, einen verführerischen Kern ausgemacht zu haben glaubt, sollte vornehmlich seine Birne einer selbstkritischen Neubewertung unterziehen und anständig genug sein, dem nächsten Aufstand der Anständigen durch ein paar zackig deklamierte Reden aus dem Arsenal des Nazijargons einen anständigen Prüfstein feilzubieten.

Der ausbleibende Kommentar suggeriert keine insgeheime, wenn auch unfreiwillige Komplizenschaft, sondern er ermöglicht einen unzensierten und schon deshalb wesentlich wahrhaftigeren Einblick in das Schaffen eines auf höchstem Niveau organisierten Neonazikaders, als es das strukturell eingeschränkte Fernsehfeature, mit seinen politisch kritischen Nachfragen und didaktischem Wankelmut, je erreichen könnte. Mal ungeachtet dessen, dass kritische Stimmen in dem Film durchaus zu hören sind. Der besagten Rede inmitten Birkenaus folgt etwa die Auseinandersetzung mit einem ansässigen Besucher, dessen ausländische Herkunft ihn jedoch als den Archetyp des couragierten, aus der Geschichte geläutert hervorgegangenen Musterdeutschen, wie er so gerne imaginiert wird, schlicht disqualifiziert. Es ist es lohnenswert, diese Szene näher zu beleuchten, denn sie bietet einen aufschlussreichen Einblick in die Methode eines Althans. ‚You are rude‘ entgegnet er dem bemitleidenswerten Kontrahenten, als dieser sich anschickt, in Althans’ gewaltigen Wortschwall zu intervenieren und ihn des Ortes verwiesen sehen möchte. ‚Sie verbrennen andere Menschen, wenn sie nicht ihrer Meinung sind.‘ Ein plumpes, stets anzutreffendes Verfahren der Umkehrung, mit dessen Hilfe, durch den Rekurs auf universell geltende Prinzipien wie dem der Meinungsfreiheit, ein Schlupfloch gesucht wird, um der Analye zu entgehen und die krude Ideologie hoffähig zu machen. Durch Aufklärung antiaufklärerisch zu wirken, hat sich als eminent erfolgreiches Mittel in rechten Kreisen etabliert, und wie gezielt es zum Einsatz kommt, zeigt der Film in zahlreichen Sequenzen mit gnadenloser Schärfe.

Im Anschluss an das Gespräch sehen wir Althans einige Minuten vor dem Eingang wartend. ‚So viele Tiere hier.‘ Lautes Fliegensummen. ‚Ekelig … sollte man alle vergasen.‘ Sarkastisches Grinsen. ‚Diese Läuse … Flugläuse … müssten ausgerottet werden.‘ Und Abtritt (an wen das gerichtet war, ist angesichts des vorausgegangenen Streitgesprächs nicht schwer zu erschließen). Diese Szene fasst mustergültig das gesamte Prinzip der Auschwitzleugnung zusammen: Das Wissen von der Vergasung wird nicht trotzig negiert, sondern bloß zeitweise suspendiert. Es ist positiv konnotiert und seine Leugnung fungiert lediglich als Chiffre, mit deren Hilfe sich unverblümt sagen lässt, dass man diesen Vorgang wiederholt wissen will. Solcherart Kampfansagen finden sich zuhauf in dem Film und sie sind deshalb so unverfälscht zu sehen, weil Bonengel es gewagt hat, seinen Gegenstand ernst zu nehmen. Auf diesem Wege ist ihm ein Einblick in die faschistische Szene gelungen, den ansonsten bloß noch verdeckte Ermittler haben dürften. Schon deshalb, und weil die wenigsten von uns in Bereichen dieser Berufssparte tätig sein dürften, ist „Beruf: Neonazi‘ ein nicht genug zu lobendes Zeitdokument. Was die zensorischen Anfechtungen betrifft, so offenbaren sich hier die ganze Ohnmacht und Verdrängungsarbeit, die die Fragen nach dem Umgang und der Erklärung des einstigen Nationalsozialismus und heutigen Rechtsextremismus seit je her begleiten.

So beschämend, wie die Besucher im KZ auf einen wie Althans reagieren, nämlich beschämt, schweigend und ausweichend, so hilflos, wie dessen Eltern mit simplen, in der Kindheit ansetzenden Psychologisierungsversuchen (‚Er hat ja schon immer nach Aufmerksamkeit gesucht‘) ihren zutiefst liberalen Habitus unterstreichen, so unscheinbar, wie er sich in seiner modischen, ganz und gar nicht als Nazioutfit zu identifizierenden Popperkluft durch die Mitte der Gesellschaft bewegt, so beschämend, hilflos und unscheinbar konstruiert diese zur höchsten Verdrängungsleistung fähige Gesellschaft den Diskurs um mögliche Prävention und Vergangenheitsbearbeitung, nämlich Leugnen bis der Arzt kommt. Und wenn man heute hören muss, dass auch blonde und blauäugige Deutsche in gewissen Milieus mit Fressepolieren zu rechnen haben und rassistische Gewalttaten gar keine sein können, weil den Tätern eine etwaige Mitgliedschaft zu irgendeiner noch so unbedeutenden Aktivistenorganisation nur schwer nachzuweisen ist, dann bekommt auch der letzte Zweifler auf dem Tablett geliefert, dass vom großen Tisch der Entschuldigungsstrategien immer noch die größten Brocken weitergereicht werden.

Still Walking

(J 2008, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Dingsymbol Schmetterling
von Ekkehard Knörer

Wenn in einer der ersten Einstellungen von Hirokazu Kore-edas keineswegs neuestem Film “Still Walking” ein Zug durch das Bild fährt, versteht man gleich: Hier ist Ozu nicht fern, denn in …

Wenn in einer der ersten Einstellungen von Hirokazu Kore-edas keineswegs neuestem Film “Still Walking” ein Zug durch das Bild fährt, versteht man gleich: Hier ist Ozu nicht fern, denn in niemandes Filmen, Tony Scott nicht ausgenommen, fahren so viele Züge durchs Bild wie durch die Ozus. Rot ist der Zug und darin sitzt ein Mann, Ryo, der mit seiner Frau Yukari und seinem Sohn zu seinen Eltern unterwegs ist. Die Frau hat ihn nach dem Tod ihres ersten Mannes geheiratet, der Sohn ist nicht seiner und mit dieser Art von Patchwork-Verhältnissen sind die Eltern, das erfährt man wenig später, alles andere als einverstanden. Sie haben sehr konservative Ansichten, äußern sie gerne rücksichtslos und leben in einem Städtchen am Meer nicht fern von Yokohama. Das Haus liegt auf einem Hügel, man muss viele Stufen die Treppen hinaufgehen aus der Stadt, was alle im Film recht häufig und mühevoll tun. Nichts fällt ganz leicht in “Still Walking”.

Die Reise hat einen traurigen Anlass. Alljährlich begeht man den Todestag des ältesten Sohns bzw. Bruders. Ryo hat eine Schwester, die mit ihrem Ehemann und der Tochter ebenfalls anwesend ist. Der älteste Sohn starb als Held: Er hat einen Jugendlichen vor dem Tod beim Ertrinken gerettet. Zu den ausgesucht finsteren Gemeinheiten, auf die sich die Eltern, nun um die Siebzig, bestens verstehen, gehört es, den nun jungen Mann, der dem Sohn sein Leben verdankt wie dieser jenem den Tod, am Todestag zu sich zu laden. Er ist ein Loser und die Familie macht fast keinen Hehl daraus, dass sie ihn verachten, dass er nach ihrer Ansicht den Tod des Edleren mitnichten wert war. Auch Ryo, aus dessen Perspektive der Film mehr oder minder erzählt ist, bleibt unter den Erwartungen seiner Eltern, ist Kunstrestaurator und derzeit arbeitslos, lügt aber seinen Eltern aus Furcht vor ihrer Verachtung etwas von Chagall oder van Gogh vor.

Nur zum Schein ist “Still Walking” ein sanfter Film, das verbindet ihn zunächst mit dem oft schneidend scharfen Ozu. Die Stiche und Verletzungen, die man sich in der Familie mal mit offenem Visier, mal hinter des anderen Rücken, zuzufügen versteht, zeigt er schonungslos. Woran es allerdings fehlt, ist Ozus – oder überhaupt: – inszenatorische Stringenz. Abgesehen vom ausgesucht präzise, fast über-kadrierten “Maboroshi”, bevorzugt Kore-eda lässige Formen, ordnet das Geschehen mit nach Möglichkeit nicht spürbarer Hand. Es ist bei ihm Luft zwischen den Worten, zwischen den Bildern, manchmal etwas zu viel.

Und in “Still Walking” eher zum Schein. Es handelt sich nämlich um einen sehr genau beobachtenden und vor allem um einen Geste für Geste und Wort für Wort und Szene für Szene sehr präzise gemachten und in seinen Untermarkierungen schon wieder überdeutlichen Film. Auf das Geheimnis um den älteren Sohn steuert die Geschichte mit dramaturgischer Ausgetüfteltheit ebenso zu wie bestimmte Motive sehr gezielt angespielt und wieder aufgegriffen und dann zu einem runden Abschluss gebracht werden; die Frage des Einzugs der Tochter ins Haus nur zum Beispiel. Auch von den Figuren macht sich das Drehbuch stets einen Begriff, dessen Nähe zum Klischee durch die scheinbare Luftigkeit der Inszenierung verschleiert wird, ohne dass wirklich eine Vertiefung gelingt.

Das arg aufdringliche Flattern eines Schmetterlings als Dingsymbol durch die Kapitel ist darum weniger eine lässliche Übertreibung als der Kern des Problems, das dieser Film, so schön er ist, hat. So präzise und aufmerksam er im Detail gelingt, so zurückgenommen er immer wieder auch ist, so wenig wagt sich Kore-eda zuletzt doch ins Offene. Das Bittersüße seiner Ambivalenzen wird eher ausgestellt, als dass er wirklich darauf vertraute, eine seiner Figuren etwas anderes sein oder werden zu lassen, als das, was er sich, als er sie erfand, zu ihr so gedacht hat. Aus Mangel an ästhetischem Mut läuft “Still Walking” zuletzt auf kaum mehr als die konservative Botschaft hinaus, dass das Leben nunmal so ist, wie es ist. Die Schärfe, den Schmerz, ja, die Verzweiflung, die eine solche Erkenntnis fürs einzelne Leben in Ozus Filmen stets bedeutet, ersetzt Kore-eda am enttäuschenden Ende durch einen allzu glatten Schluss aus dem Off und eine Versöhnlichkeit, die das zuvor Gezeigte kaum nahelegt.

Still Walking

(J 2008, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Die Ruhe vor und nach dem Sturm, der nicht kam
von Louis Vazquez

Wenn im Film oder auf der Theaterbühne verschiedene Generationen einer Familie zusammenkommen, anlässlich einer Feier oder eines Jahrestags, dann ist in der Regel mit dem Schlimmsten zu rechnen: Alte Versäumnisse, …

Wenn im Film oder auf der Theaterbühne verschiedene Generationen einer Familie zusammenkommen, anlässlich einer Feier oder eines Jahrestags, dann ist in der Regel mit dem Schlimmsten zu rechnen: Alte Versäumnisse, ungelöste Spannungen, dunkle Geheimnisse gelangen an die Oberfläche. Die Situation eskaliert, und hinterher ist nichts mehr wie es war. In „Still Walking“ ist es so ähnlich und doch ganz anders, denn erstens gibt es nicht den einen großen Eklat, der die vermeintliche Idylle zerstört, sondern viele kleine Brüche, die sich langsam zum dichten Netz entwickeln, und zweitens bleibt letztlich alles beim Alten. Nichts ändert sich. Und das macht es umso schwerer erträglich.

Einmal im Jahr im Sommer treffen sich die Yokoyamas, um eines Toten zu gedenken: Der älteste Sohn Junpei ist vor 15 Jahren im Meer ertrunken, als er einen fremden Jungen rettete und mit seinem eigenen Leben zahlte. Mit ihm starb die Hoffnung des Vaters Shohei auf einen Nachfolger, der seine Arztpraxis übernehmen und ihn mit Stolz erfüllen würde. Aus Shohei wurde durch den Schicksalsschlag ein verbitterter alter Mann, der für seinen anderen Sohn, den inzwischen 40jährigen Kunstrestaurator Ryota, nur Verachtung übrig zu haben scheint. Ryota verheimlicht vor seinen Eltern, dass er zurzeit gar keine Stelle hat. Schlimm genug für die, dass er eine verwitwete Frau geheiratet hat, welche einen zehnjährigen Jungen mit in die Ehe bringt. Da Ryota die Distanz zum Elternhaus sucht und so schnell wie möglich mit seiner Familie wieder abreisen will, scheint es seiner Schwester Chinami zu obliegen, in absehbarer Zeit mit ihrer eigenen Familie zurück zu den Eltern ziehen, um sie im Alter zu unterstützen.

Der starrköpfige Shohei scheint zunächst im Zentrum der Konflikte zu stehen und für die Spannungen verantwortlich zu sein. Doch bald zeigt sich, dass es noch mehr enttäuschte Erwartungen gibt, dass längst schon niemand mehr kompromissbereit ist und nicht nur Vater und Sohn sich gegenseitig etwas vormachen. Regisseur Hirokazu Kore-eda, auch für Drehbuch und Schnitt verantwortlich, erweist sich als äußerst genauer Beobachter des Alltags und des Zwischenmenschlichen. Nicht zu Unrecht wird sein Name bisweilen in einem Atemzug mit den großen japanischen Filmemachern Kurosawa und Ozu genannt. „Still Walking“ ist ein trügerisch ruhiger Film mit kontemplativen Momenten, der in keinem Moment langweilt. Kore-edas große Stärke ist dabei die Mise-en-Scène, in seinen langen, statischen Einstellungen wirkt nichts dramatisiert oder überinszeniert. Ihre Spannung gewinnen sie aus den Figuren und den oft kleinen Gesten der großartigen Schauspieler, so dass man eine dramatische Inszenierung im besten Sinn erlebt – gut getroffen, unaufgeregt und trotzdem schonungslos, mit einer Art präziser Beiläufigkeit.

Kore-eda, der in der fiktiven Geschichte eigene autobiografische Erfahrungen und Versäumnisse im Verhältnis zu seinen mittlerweile verstorbenen Eltern aufarbeiten will, setzt konsequent auf Ambivalenzen, so dass sein Film unversöhnlicher gerät, als man zwischenzeitlich erwarten könnte. Immer wieder ergeben sich Möglichkeiten, neu anzufangen, neue Vertrauensverhältnisse einzugehen, doch jedes Mal wird die Chance vertan, denn jeder pflegt seinen verletzten Stolz. Dabei wünscht man den Figuren nur Gutes, weil sie letztlich liebenswert geraten und in ihrer Zerrissenheit nachvollziehbar sind. Dennoch machen sie sich das Leben zur Hölle oder zumindest schwerer als nötig. Später, als einige Familienmitglieder am Meer stehen, steckt dort ein Schiff im Sand fest. Manchmal sind die Dinge eben festgefahren, und man muss es, zumal im Rückblick, akzeptieren. Aus der Erinnerung, auch davon erzählt Kore-eda, verschwinden die schönen Momente bald genauso wie die schlechten. Tröstlich ist das nicht unbedingt.

„Still Walking“ wurde bereits 2008 fertig gestellt, und es ist erfreulich, dass der Film jetzt doch noch auf der großen Leinwand zu sehen sein wird. Zu wünschen wäre das auch Kore-edas neuestem Film, dem grotesken, bösen Märchen „Air Doll“. Es handelt von einer naturgetreuen Sex-Puppe, die lebendig wird, sich unter die Menschen begibt und bei einem Job in einer Videothek Freundschaft, Zuneigung und die Liebe entdeckt. Ob es ihr schlussendlich besser ergeht als den Mitgliedern der Familie Yokoyama? Rechnen Sie besser nicht damit.

Au Revoir Taipeh

(TW / D / USA 2009, Regie: Arvin Chen )

Uns bleibt immer Taipeh
von Harald Mühlbeyer

Kai sitzt mit gebrochenem Herzen in Taipeh. Seine Freundin ist in Paris, und so lernt er allabendlich in der Buchhandlung Französisch per Lautschrift und sehnt sich in die weite Welt, …

Kai sitzt mit gebrochenem Herzen in Taipeh. Seine Freundin ist in Paris, und so lernt er allabendlich in der Buchhandlung Französisch per Lautschrift und sehnt sich in die weite Welt, in die Arme seiner Geliebten. Paris als der große Sehnsuchtsort der Liebe bestimmt sein Denken und Handeln, von Taipeh erwartet er nichts, auch nicht von der netten Buchhändlerin Susie. Wie Kai die Realität nicht sieht und in seinen Illusionen schwelgt, macht einen Teil des Witzes von „Aur Revoir Taipeh“ aus: das Gute liegt so nah, doch er will in die Ferne schweifen, sieht gar nicht, dass seine Freundin in Frankreich nichts mehr von ihm wissen will, und wie freundlich Susie ist … Soweit die Ausgangslage für eine schöne romantische Komödie; doch Regisseur Arvin Chen hat in seinem Debüt noch viel mehr zu bieten.

Um Geld für ein Flugticket zu erhalten, lässt Kai sich auf einen Kurierdienst für einen alternden Gangster ein, und in dieser Nacht häufen sich die absonderlichen Ereignisse. Er trifft auf Susie, muss sich gegen grell orange gekleidete Möchtegerngangster wehren, wird von einem trotteligen Polizisten mit Liebeskummer verfolgt, sein bester Freund wird entführt; zwischendurch muss er auch noch bei der Nudelküche seiner Eltern vorbeischauen. Die romantic comedy wird zur Gangsterkomödie, zur Kriminalfarce: Skurrile Gestalten treffen in dieser Nacht aufeinander, und keiner ist das, was er sein möchte: die jungen Gangster freuen sich über die Pistolen in ihrer Hand, zeigen sich aber bei ihren Folterversuchen besorgt, ob’s denn weh getan hat. Kais Freund, ein langer Lulatsch, freundet sich mit seinen Entführern an; der Polizist will seine Beziehungsprobleme lösen und muss dabei noch seinen Dienst tun; der alte Gangster will eigentlich nur einen Altersruhesitz für sich. Und Kai, der so gerne nach Paris will, lernt seine Stadt Taipeh und seine Buchhändlerin Susie ganz neu kennen.

Arvin Chen ist in den USA aufgewachsen und erst als Erwachsener nach Taipeh zurückgekehrt, der Film wurde international coproduziert, Wim Wenders ist als Ausführender Produzent mit an Bord, Paris wird als großer Ort der Sehnsucht etabliert. Aber eigentlich ist dies einfach eine Liebeserklärung an Taipeh, an die romantischen Geheimnisse der Stadt, wie sie nur im Film vorkommen können. Erstaunlich ist die Souveränität, mit der Chen seinen Erstling inszeniert, wie er die Dramaturgie dieser Nacht beherrscht, wie er die Genres mischt, wie er das Filmdesign immer ein bisschen zuviel gestaltet, um einen leicht skurrilen Effekt zu erreichen, welch genaues Gespür er für komisches Timing hat: wenn einer der Gangster per Telefon die wüstesten Drohungen ausstößt, was er mit seiner Geisel anstellen wird, und sein Opfer zugleich mit freundlichen Gesten beschwichtigt …

Unterlegt ist der Film mit leichten, tänzerischen Jazzmelodien, die sich perfekt einfügen in den bunten, bizarren, überaus komischen und durch und durch romantischen Film: einmal, um sich vor den Verfolgern zu verstecken, schließen sich Kai und Susie einer nächtlichen Tanzgruppe im Park an, und nein: Das ist nicht nur Tarnung, wie sie sich da im Rhythmus bewegen, das ist die große Leichtigkeit des Daseins, des Beieinanderseins, des Filmseins, das Chen zelebriert.

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Vergissmichnicht

(F 2010, Regie: Yann Samuell )

Briefe aus der eigenen Kindheit
von Harald Mühlbeyer

Sophie Marceau spielt die toughe Karrierefrau Margaret, die ihren Beruf zum Lebensinhalt gemacht hat. Sie ist mit einem Kollegen zusammen, aber richtige Liebe ist das nicht: sie treffen sich weniger …

Sophie Marceau spielt die toughe Karrierefrau Margaret, die ihren Beruf zum Lebensinhalt gemacht hat. Sie ist mit einem Kollegen zusammen, aber richtige Liebe ist das nicht: sie treffen sich weniger in ihrer Wohnung als bei irgendwelchen Meetings, bei denen es um Prozentpunkte geht und um Wertschöpfung und um die Frage nach Profit auf Kosten der Sicherheit bei dem Atomkraftwerk, das sie für die Chinesen planen. Margaret ist in dieser Welt ganz bei sich, ganz mit sich im Reinen: hier kriegt sie, was sie will, Anerkennung, Erfolg, viel Geld.

Margaret erhält an ihrem 40. Geburtstag den Brief eines Kindes: „Eins kann ich dir sagen: Du bist im blödesten Alter deines Lebens. Ich bin heute 7 Jahre alt geworden und ab jetzt im Alter der Vernunft!“ Und deshalb gibt die Siebenjährige der 40jährigen Ratschläge, Tipps für das, was im Leben wichtig ist; über eine Zeitbrücke von 33 Jahren hinweg. Denn Marguerite, die die Briefe schreibt, ist das jüngere Ich von Margaret, die die Briefe empfängt. Marguerite hat als Kind Briefe an sich als Erwachsene geschrieben, ein Notar hat sie aufbewahrt und leitet sie weisungsgemäß nun, zum Geburtstag, weiter. Dicke Umschläge sind das, vollgestopft mit buntem Mädchenzeug, und vollgestopft mit Anweisungen für ein Leben, wie es sein soll. Das bringt Margaret gehörig durcheinander.

Denn natürlich ist die Lebenssicht ihres siebenjährigen Ichs konträr zu den Werten, die sie jetzt für wichtig erachtet, und schnell wird klar, dass dieser Film von Yann Samuel ein Plädoyer ist für das bessere Leben, das wir als Kinder führten, als Papierflieger, Pfützen und Löchergraben wichtiger waren als Profitmaximierung, Effizienz und Gewinnprognosen. Ein unverhohlen romantisches Märchen ist dieser Film, sichtlich an Jeunets „Fabelhafter Welt der Amélie“ angelehnt – etwa an der Nebengeschichte, in der der Gartenzwerg glücksstiftende Grüße aus aller Welt sendet.

Das ist herzerwärmend märchenhaft, lustig und emotional; das Problem ist, dass der Film spätestens dann zu süßlich wird, als Margaret gemäß den Marguerite-Briefen bei einem Geschäftsessen ein Abendessen ganz aus Schokolade bestellt. Denn mehr als die ohnehin schon recht deutliche Botschaft, dass Geruhsamkeit, kindliche Vorstellungskraft und Fantasie, Einklang mit sich selbst, ursprüngliche Unschuld den Menschen ausmachen und supergut sind, kommt nicht mehr. So wie die Siebenjährige wird auch der pensionierte Notar als Mentor für ein besseres Leben dargestellt; für ein solches findet der Film entsprechende gutmeinende Kitschbilder: Löcher graben in Afrika, damit die armen Negerkinder Brunnenwasser bekommen.

Eins bringt der Film aber treffend und plausibel auf den Punkt: aus den parallelen Geschichten um die 40jährige Margaret und die siebenjährige Marguerite arbeitet Samuel genau heraus, wie und warum es zur Wandlung des Kindes in eine Erwachsene, zur Veränderung der Lebenssicht und Werte kam: Armut und Einsamkeit lassen Marguerite aus Vernunftgründen – in diesem Zeitalter steckt sie ja drin – zum Schluss kommen, dass Reichtum und Erfolg im Leben zählen. Der Film plädiert für die Rückumkehrung dieses Beschlusses: ein an sich richtiges Ziel, das mit falschen, sentimentalen, kitschigen, letztlich verlogenen Bildern erzählt wird.

Ich sehe den Mann deiner Träume

(USA / ESP 2010, Regie: Woody Allen)

Das Universum expandiert immer noch
von Louis Vazquez

In vielen Filmen von Woody Allen machen die Protagonisten aus ihrer Abneigung gegen Rockmusik keinen Hehl, wohl durchaus stellvertretend für den Filmemacher selbst. Ein bisschen ironisch ist das schon, hat …

In vielen Filmen von Woody Allen machen die Protagonisten aus ihrer Abneigung gegen Rockmusik keinen Hehl, wohl durchaus stellvertretend für den Filmemacher selbst. Ein bisschen ironisch ist das schon, hat Allens Werk doch ziemlich viel gemein mit beispielsweise dem der New Yorker Punkrock-Band The Ramones. So wie die Punkrocker ihre drei oder vier Akkorde fleißig neu sortierten, um unzählige zweiminütige Songs in die Welt zu schicken, so reorganisiert auch Allen seit geraumer Zeit immer wieder ähnliche Motive und Figurenkonstellationen und behandelt altbekannte Themen, je nach Auslegung obsessiv, routiniert oder gelangweilt. Weil er seit inzwischen mehr als vier Jahrzehnten schreibt und Regie führt und im Jahrestakt Filme dreht, lassen die wiederkehrenden Elemente jeden neuen Film wie einen alten Freund erscheinen, der einmal im Jahr auf ein paar Büchsen Bier oder, hier passender, eine Flasche Wein vorbeischaut. Wenn man Allens repetitivem Schaffen wohlgesonnen ist, freut man sich über den Besuch, obwohl freilich nicht jeder einen perfekten Abend bedeutet. Manche Abende zehren etwas zu bemüht von der Vergangenheit, und man hätte sich vielleicht eine längere Pause gewünscht, um sich wieder mehr zu sagen zu haben. Andere dagegen lassen fast völlig vergessen, wie wenig Zeit vergangen ist und erinnern an das erste Kennenlernen.

„Ich sehe den Mann deiner Träume“ jedenfalls, der an Allens 75. Geburtstag in die deutschen Kinos kommt, ist mal wieder ziemlich gut geworden und weckt Erinnerungen an seinen großen Ensemblefilm „Hannah und ihre Schwestern“. Es geht natürlich um Beziehungen und die dazugehörigen Trennungen, um Torschlusspanik und das verzweifelte Streben nach dem Glück oder zumindest dem, was danach aussieht, weil das Gras auf der anderen Seite des Flusses immer so viel grüner zu sein scheint. Etwas aber muss passieren, weil der Zug irgendwann endgültig abgefahren ist und dann jener „tall, dark stranger“ kommt, von dem im Originaltitel die Rede ist und dem jeder Mensch eines Tages begegnen muss. Alfie, der sein Älterwerden nicht wahrhaben will, hat sich wegen eines jungen Callgirls nach 40 Jahren Ehe von Helena getrennt. Die ist mit den Nerven am Ende und nach einem gescheiterten Selbstmordversuch auf die Prophezeiungen einer Wahrsagerin angewiesen, um ihr Leben halbwegs in den Griff zu bekommen. Ihre Tochter Sally glaubt zwar nicht an Weissagungen, unterstützt die Mutter aber, denn sie weiß, wie gut ihr die esoterischen Sitzungen tun. Sally selbst hat Probleme mit ihrem Mann Roy, einem Schriftsteller, der seit einem ersten Achtungserfolg nichts mehr zustande bringt. Unzufrieden mit der Gesamtsituation verguckt sich Roy prompt in die schöne Nachbarin und spinnt einen kühnen Betrugsplan, während seine Frau Gefühle für ihren verheirateten Chef entwickelt.

Woody Allens neuer Film präsentiert das Ernste und das Komische mit jener Leichtigkeit, die seine besten Filme auszeichnete und die der Regisseur mit „Vicky Cristina Barcelona“ wieder gefunden zu haben scheint. Obwohl vor fünf Jahren ausgerechnet „Match Point“ nach einer längeren Durststrecke wieder ein Erfolg bei Kritik und Publikum war – eine Quasi-Neuauflage des ungleich vielschichtigeren „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ aus dem Jahr 1989 –, funktionierten Allens Krimi- und Thrillerplots mit Ausnahme von „Verbrechen …“ selten wirklich gut, weil sie im Vergleich zu anderen Genrestücken zu reißbrettartig waren – siehe etwa „Scoop“ oder „Cassandras Traum“. Allens neuer existenzialistischer Tragikomödie dagegen, in der es nicht um Mord und Totschlag, sondern um eher alltägliche Sinnkrisen geht, gelingt auf herausragende Weise die Balance zwischen Überzeichnung und Figurentiefe. Wie Allens Charaktere sich verrennen, um jemanden zu beeindrucken und / oder ihre Selbstachtung wiederzuerlangen, das ist einerseits äußerst amüsant, andererseits aber auch todtraurig. Dass beides funktioniert, ist einer selbst für Woody-Allen-Verhältnisse herausragenden Schauspielerriege zu verdanken, wobei eher unbekannte Entdeckungen wie Lucy Punch und Newcomer wie Freida Pinto sich keineswegs hinter etablierten Stars wie Naomi Watts, Anthony Hopkins oder Josh Brolin verstecken müssen.

Nur damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: Versöhnliches kann man von Woody Allen wohl nicht mehr erwarten, und „Ich sehe den Mann deiner Träume“ ist sicherlich kein Feel-Good-Movie geworden. Das Leben ist einfach ein zu böser Witz, und der Drehbuchautor Allen, das lässt er sich nicht nehmen, muss ihn besonders perfide erzählen. Ein wenig erinnert er dabei an die Coens, die in „A Serious Man“ mit biestiger Freude und ohne Gnade einen Protagonisten vorführten, dem sein Leben völlig entgleitet. Erfolg und Glück sind nicht unbedingt gerecht verteilt, wie schon Boris Gruschenko in „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“ (1975) erfahren musste. Und vielleicht, so legt Allen nah, werden in diesem rein zufälligen Chaos ja auch nur die Verblendeten wirklich glücklich, die eben nicht alles hinterfragen müssen.

An dieser Stelle könnte eine protestierende Stimme sich erheben: Das sei nun aber doch wirklich nichts Neues, alles schon mal da gewesen und ein Beweis für fehlende Inspiration. Und ob ein rahmendes Shakespeare-Zitat auf die Bedeutungslosigkeit der Existenz hinweist oder ein kleiner Junge Angst vor einem expandierenden Universum hat, das mache doch wohl keinen großen Unterschied. Macht es aber. Denn wenn man ein Ramones-Album hört, ist man selten enttäuscht darüber, dass es keine Streichinstrumente gibt, selbst wenn es ein spätes Album ist. Und noch immer ist es unglaublich schade, dass die Ramones keine neuen Songs mehr veröffentlichen, auch wenn sie angeblich nie wieder so gut waren wie am Anfang. Was man übrigens jederzeit bestreiten könnte.

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Monsters

(GB 2010, Regie: Gareth Edwards)

It’s All About Love
von Louis Vazquez

Unabhängiges Filmemachen erfordert nicht nur Hingabe, sondern ein gerüttelt Maß an Selbstausbeutung – und eine nicht geringe Zahl von Mitstreitern, die sich ebenfalls bereitwillig ausbeuten lassen. Wenn Spielfilm-Debütanten dann auch …

Unabhängiges Filmemachen erfordert nicht nur Hingabe, sondern ein gerüttelt Maß an Selbstausbeutung – und eine nicht geringe Zahl von Mitstreitern, die sich ebenfalls bereitwillig ausbeuten lassen. Wenn Spielfilm-Debütanten dann auch noch einen Science-Fiction- oder Horrorstoff umsetzen wollen, werden die Probleme umso größer, denn diese Genres erfordern aufwändige Set-Pieces und Spezialeffekte. So bleibt jungen Genre-Filmemachern eigentlich nichts anderes übrig, als ungewöhnliche Herangehensweisen zu finden und auf Effekte so weit wie möglich zu verzichten. Ein pseudodokumentarischer Ansatz wie in „The Blair Witch Project“ bietet sich dann besonders an, aber auch ein verschachtelter Zeitreiseplot, wie beispielsweise Shane Carruths angeblich für nur 7000 $ realisierter Film „Primer“ zeigt. Der britische Filmemacher Gareth Edwards hat nun eine sehr eigene Möglichkeit gefunden, sogar gleich einen richtigen Monsterfilm zu drehen. Ähnlich wie im (viel höher budgetierten) Hollywood-Spektakel „Cloverfield“ erzählt er eine Geschichte aus der Froschperspektive, beschränkt sich auf den Erfahrungshorizont seiner eher durchschnittlichen, hilflosen Protagonisten und erzählt letztlich zwar genregemäß von ihrer Flucht durch eine von Monstern bedrohte Welt, legt den Schwerpunkt aber auf eine stimmungsvolle Liebesgeschichte und exotische, vorgefundene Schauplätze. Die sporadisch eingestreuten Spezialeffekte hat Trickexperte Edwards selbst an seinem Rechner entworfen. Die Kameraarbeit hat er auch gleich übernommen.

Sechs Jahre bevor die Filmhandlung einsetzt, ist eine Sonde der NASA bei ihrer Rückkehr von einem Jupitermond über Mittelamerika zerbrochen. Dabei wurde außerirdisches Leben freigesetzt, und hundert Meter hohe, tintenfischartige Wesen bevölkern jetzt weite Teile Mexikos. In stundenlangen Gefechten werden sie vom US-Militär mit Raketen und Giftgas bekämpft. Der Fotograf Andrew Kaulder (Scoot McNairy) hofft, vor Ort rare und einträgliche Fotos von lebendigen Außerirdischen machen zu können, doch sein Verleger macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Dessen Tochter Samantha (Whitney Able) liegt nämlich verletzt in einem mexikanischen Krankenhaus. Kaulder soll sie nun im Auftrag seines Chefs in Sicherheit bringen, das heißt: auf schnellstem Weg in die USA geleiten. Sam und Kaulder, die Tochter aus gutem Hause und der zynische, sensationshungrige Fotograf, können sich zunächst nicht besonders gut leiden. Ihre Zwangsgemeinschaft soll eigentlich nur von kurzer Dauer sein, denn die USA wollen die Grenze zu Mexiko abriegeln, deshalb ist Eile geboten. Aus Sicherheitsgründen wurde bereits eine gewaltige Mauer errichtet. Die letzte Fähre fährt aber schließlich ohne Sam ab, und deshalb bleibt den beiden Flüchtlingen nur der mühsame, gefährliche Weg übers Festland, durch die „Infizierte Zone“.

„Monsters“ beginnt mit verwackelten Bildern einer Schlacht, die gleich in mehrfacher Hinsicht auf eine falsche Fährte führen, denn mit der hektischen Handkamera-Ästhetik vieler Low-Budget-Horrorfilme (die ja nicht erst seit „Cloverfield“ längst im Mainstream angekommen ist) hat „Monsters“ rein gar nichts zu tun. Stattdessen entwickelt sich der Film zum atmosphärischen, gemächlich dahin fließenden Roadmovie, das in manchen Momenten hinsichtlich seiner Motive an Werner Herzogs Bilder aus Südamerika denken lässt. Mit einem fünfköpfigen Team, seinen beiden Hauptdarstellern und nur dem Grundriss eines Drehbuchs, ohne ausgearbeitete Dialoge, drehte Edwards an Schauplätzen in Guatemala, Belize und Mexiko. Alle weiteren Darsteller des Films, und das ist in manchen Fällen kaum zu glauben, sind Einheimische, die mehr oder weniger spontan zur Mitarbeit überredet werden konnten und deren improvisierter Text sich frei an den Vorgaben des Filmemachers orientiert. Diese Integration von Menschen und Landschaften in den Plot ist ziemlich beeindruckend. Edwards gelingen fantastische Bilder einer Reise, die per Lastwagen, Eisenbahn, Boot und zu Fuß übers Land und durch den Dschungel führt. Die Horrorelemente werden nur punktuell und sehr zurückgenommen eingesetzt. Eine Monsterbegegnung etwa spielt sich in fast völliger Dunkelheit ab, beinahe ausschließlich vermittelt durch die Tonebene – ein klassischer Kniff. Meist sind Trümmer, Lichter und die allgegenwärtigen Helikopter die einzigen Indikatoren für die Bedrohung. Dieser Minimalismus funktioniert über weite Strecken so gut, dass Edwards später sogar ziemlich deutlich Spielbergs „Jurassic Park“ und „Krieg der Welten“ zitieren kann, ohne dass es besonders stören würde.

Man möchte nicht aufhören, den Minimalismus des Films, seine Atmosphäre, seine Unaufgeregtheit zu loben – Schwächen gibt es trotzdem. Die beiden Hauptfiguren sind nicht sonderlich originell oder vielschichtig geraten, und die aufkeimende Zuneigung zwischen ihnen wird nicht unbedingt nachvollziehbar. Vor allem ihr konfrontativer Beginn, der schließlich zum Verpassen der Fähre führt, wirkt arg konstruiert. Bei der sonst vorherrschenden Leichtigkeit der Inszenierung fällt das umso mehr auf. Es wird nicht viel motiviert oder durchpsychologisiert, sondern nur angedeutet, und das ist wohl Absicht. In vielen Fällen funktioniert das sehr gut, etwa wenn Sam und Kaulder heimliche Telefonate nach Hause führen, bei denen deutlich wird, dass dort nicht alles rund läuft. Doch insgesamt täuschen die pointierten Dialoge ein bisschen darüber hinweg, dass gar nicht so viel passiert zwischen den beiden – und es manchmal sogar ein bisschen banal zugeht. Auch andere inhaltliche Aspekte werden in „Monsters“ leider nur wenig ausgearbeitet, was offensichtlich den Drehbedingungen und der daraus resultierenden episodischen Dramaturgie geschuldet ist. Die Entwicklung Kaulders etwa vom sensationshungrigen zum ethischen Fotografen, der das Leid schließlich doch nicht abbildet, als er es endlich findet, vollzieht sich letztlich nur in einem Schritt. Und auch die viel versprechende, ironische Ausgangssituation, dass nun ausgerechnet zwei durchaus wohlhabende Amerikaner über die Grenze in die USA flüchten und sich dabei in die Abhängigkeit von Schleusern begeben müssen, wird nach dem Feilschen um den Preis für die letzte Fähre nur noch wenig vertieft und führt nicht mehr zu Konflikten.

Doch möglicherweise wollte Edwards das alles gar nicht, sondern einfach eine kleine, poetische Liebesgeschichte mit Tentakelmonstern erzählen, und dann soll es eben so sein. Und weil er ja doch vieles anders macht als üblich und unter widrigen Bedingungen stimmungsvolle Geschichten erzählen kann, sollte man vielleicht nicht zu sehr an seinem Debüt rumkritteln, sondern dessen Stärken loben und gespannt sein, wohin Gareth Edwards’ Reise noch führt.

Last Night

(USA / F 2010, Regie: Massy Tadjedin)

Geschlechterkrampf
von Harald Mühlbeyer

Keira Knightley ist aus schlechter Laune heraus total sauer, weil Gatte Sam Worthington mit einer Kollegin geredet hat: die immerhin ist Eva Mendes, und ja: vielleicht war es auch ein …

Keira Knightley ist aus schlechter Laune heraus total sauer, weil Gatte Sam Worthington mit einer Kollegin geredet hat: die immerhin ist Eva Mendes, und ja: vielleicht war es auch ein Flirt. Aber hey: immerhin ist sie Keira Knightley, da muss sie doch nicht zickig sein!

Regisseurin Massy Tadjedin zeigt sie, Joanna, am Rande des Nervenzusammenbruchs, die eifersüchtig einen Streit vom Zaun bricht: offenbar ist sie unzufrieden mit der allgemeinen Situation. Die Ursache dafür beleuchtet Tadjedin nicht so richtig, dafür zeigt sie die weiche Seite von Sam Worthington als Michael, der es diesmal nicht mit digitalen Monstern zu tun hat, sondern mit zwei Frauen. Brav entschuldigt er sich dafür, dass seine Frau ihn angeschrien und grundlos verdächtigt hat. Und auch im weiteren Verlauf wird er im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht weit weniger souverän agieren wie vor Green Screen. Denn Eva Mendes als Laura baggert mächtig, als sie zusammen auf Geschäftsreise sind, und setzt alles daran, ihn zu verführen. Joanna, allein zuhaus, trifft derweil einen alten Freund, eine verflossene Liebe wieder, Franzose noch dazu, und dieser Alex ist natürlich charmant und eine Versuchung …

Cutterin Susan E. Morse ist Woody-Allen-Veteranin, und sie setzt ihre ganze Kunst ein, um aus den beiden parallelen Handlungen in einer Nacht an verschiedenen Orten etwas Flottes, Interessantes herauszuholen. Nicht nur schneidet sie geschickt von New York nach Philadelphia, von der Nacht zwischen Joanna und Alex zu der zwischen Michael und Laura; auch innerhalb der beiden Stränge gibt es immer wieder ein paar Montageeffekte wie Jump Cuts oder Flash Forwards, die das Geradlinige, Dahinfließende aufbrechen. Was aber auch nicht viel daran ändert, dass der Inhalt im Seichten bleibt.

Es wird viel geredet; aber nicht mit intellektueller Schärfe und intelligentem Witz wie bei Woody Allen, sondern recht banal über Untreue, Liebe, vergangene Entscheidungen und künftige Möglichkeiten. Wobei vor allem die Frauen, wenn man es gutwillig umschreiben will, Stärke zeigen; anders betrachtet aber auch ziemlich aus dem Moment heraus agieren, irrational und launisch. Joanna liebt ihren alten Freund Alex eigentlich, macht ihm den ganzen Abend über Hoffnungen, stößt ihn aber auch immer wieder schroff zurück. Laura weiß zwar, wie schlimm es sich anfühlt, wenn der Partner untreu ist, versucht aber mit allen Mitteln, den verheirateten Michael ins Bett zu bekommen. Nein: das ist kein sehr sympathisches Verhalten, und wenn Tadjedin dem Handeln ihrer Filmfrauen mit unverhohlener Zuneigung zusieht, ist fraglich, ob sie wirklich merkt, von wem sie da erzählt: von zickigen Frauen, die antriebslose Männer zu ihren Opfern machen.

Die Hölle von Henri-Georges Clouzot

(F 2009, Regie: Serge Bromberg, Ruxandra Medrea )

Ein Film, der niemals war
von Harald Mühlbeyer

„Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“: Einen doppeldeutigen Titel trägt dieser Film über einen Film, der nicht sein sollte. Im Sommer 1964 drehte Henri-Georges Clouzot irgendwo in der Auvergne einen neuen …

„Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“: Einen doppeldeutigen Titel trägt dieser Film über einen Film, der nicht sein sollte. Im Sommer 1964 drehte Henri-Georges Clouzot irgendwo in der Auvergne einen neuen Film, genannt „L’Enfer“, „Die Hölle“. Clouzot war der gefeierte Starregisseur Frankreichs. Er konnte sich aussuchen, was er machen wollte, konnte sich Besetzung und Crew nach Gusto zusammenstellen, und er verfügte über unerschöpfliche Mittel: Das amerikanische Columbia-Studio hatte ihm ein unbegrenztes Budget zugesagt. Ein entsprechend großer, wegweisender, revolutionärer Film sollte „L’Enfer“ werden; er geriet zu einem teuflischen Desaster, das mit depressivem Hauptdarsteller und einem Herzinfarkt des Regisseurs endete.

Was vom Filme übrigblieb: 185 Dosen, 14 Stunden belichteter Film ohne Ton, im Besitz der Versicherungsgesellschaften, die für den Drehabbruch bezahlt hatten. Nun – weil er Clouzots Witwe Ines in einem steckengebliebenen Aufzug beschwatzt hatte – konnte der französische Filmhistoriker Serge Bromberg „L’Enfer“ wiederbeleben; weniger als Arzt denn als eine Art Frankenstein, der sein Wesen aus den fragmentarischen Filmszenen zusammenstückelt und zugleich von Entstehung und Untergang des Projektes erzählt.

„L’Enfer“ sollte ein Eifersuchtspsychodrama werden, besetzt mit Serge Reggiani und Romy Schneider, in dem sich ein Ehemann immer tiefer in neurotische, schizophrene Wahnideen verstrickt. Zusammen führen sie ein Hotel an einem See, im Hintergrund ein Viadukt – doch Ruhe findet der Geist von Reggiani nie. Gedanken von Untreue, Promiskuität und Liebesverlust bohren sich in seinen Verstand. Eine einfache Geschichte eigentlich; doch wie den Wahnsinn darstellen? Und hier beginnt schon der Wahnsinn der „Hölle“.

Schon im Vorfeld, noch ohne Schauspieler, führte Clouzot monatelang unendliche Kameratests durch, scheinbar wahllos wurden neue optische Effekte ausprobiert, Inspiration gesucht bei der modernen, avantgardistischen kinetischen Kunst mit irremachenden, die Perspektive auflösenden Gemälden und Skulpturen, bei Tonkünstlern mit verzerrten, verdrehten Geräuschen. Geld und Zeit waren ja reichlich vorhanden und natürlich auch die Handwerker an der Kamera, die halluzinierende Bildeffekte, Spiegelungen, Lichtverwirrungen, kaleidoskopische Drehungen und Dopplungen kreierten. Wochenlang wurden dann die Darsteller – Schneider, Reggiani, Dany Carrel und Jean-Claude Bercq – herangezogen für Szenen, die im Wahnsinn spielen, in merkwürdigen Farben beleuchtet, visuell gedoppelt, halbiert, auf den Kopf gestellt, bizarr geschminkt, auf nackte Körper sind Formen und Farben projiziert… Delierierende Traumbilder en masse, von denen stets unklar bleibt, wie Clouzot das in die Handlung eines Filmes der Klasse Erzählkino integrieren sollte.

Neben diesen optischen Trickaufnahmen wurden in der Auvergne, wo sich See, Hotel und Viadukt idealtypisch fanden, Außenaufnahmen gedreht, im Gegensatz zu den Wahnbildern in Schwarzweiß, und darunter sind grandiose Sequenzen, wie sie nur Clouzot, der sezierende Chirurg menschlicher Psyche, finden konnte. Selbst aus den recht unzusammenhängend gedrehten Szenen geht noch die klare Filmsprache, die psychologische Genauigkeit, die dramaturgische Zwangsläufigkeit hervor. Wie Romy Schneider auf dem See Wasserski fährt, während ihr Mann im Hintergrund am Ufer nebenher läuft – so wie sich sein Verstand verrannt hat…

Bromberg rekonstruiert die Handlung anhand der vorhandenen Szenen. Zugleich ist seine Dokumentation ein Making of, mit Interviews mit den damals Beteiligten, mit Fotos und Filmaufnahmen hinter den Kulissen; und ebenso ist „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ sozusagen mit Audiokommentar ausgestattet, mit der begleitenden, einordnenden Stimme Brombergs. Sein Film vereinigt also zugleich all die Tugenden, die man auf DVDs nicht mehr missen möchte, wodurch in 90 Minuten ein umfassender, multiperspektivischer Blick auf Clouzots Film möglich ist.

Dazu bietet die DVD von Kinowelt Extras, die den originalen „L’Enfer“ ebenso wie „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ ergänzen: ein Interview mit Bromberg, in dem er von seiner Begeisterung für das Projekt, von Materialsichtung und -auswahl spricht. Und ein einstündiges Feature mit erweiterten Interviews der Beteiligten und zusätzlichen Originalszenen, die den eigentlichen Film nicht doppeln, sondern tatsächlich weitere Einsichten bieten: ein nachträgliches Making of des nie fertiggestellten Filmes, das dessen fragmentarische Rekonstruktion vertieft.

Wirklich interessant ist die Beigabe von Clouzots letztem Film, „Seine Gefangene“ / „La Prisionnère“ von 1968, in dem er auf die für „L’Enfer“ entwickelten Stilismen zurückgreift, was optische Tricks angeht. Der Film selbst ist kein Clouzot-Meisterwerk, wiewohl in seiner Erforschung der Zwänge der menschlichen Psyche durchaus sehenswert: eine verkorkste, tragische Liebesgeschichte, in der eine Frau sich aus Liebe in ein ehebrecherisches, unterwürfiges Verhältnis zu einem Sadisten begibt – im Grunde eine Geschichte wie die von Steven Shainbergs „Secretary“ (2002), mit Maggie Gyllenhall und James Spader, nur ins Tragische gewendet. Der Film spielt im Milieu der Avantgardekunst, der betrogene Ehemann ist Künstler, der Film zeigt einige Kunstwerke zeitgenössischer Künstler. Und er spielt mit optischen Illusionen, zeigt den Parallax-Effekt beim Zukneifen eines Auges oder eine Zugfahrt, die zum Rausch vorbeirasender Bilder wird. Doch erst am Ende begreift man, was Clouzot mit „L’Enfer“ vorhatte, mit all den Wahn-Aufnahmen, mit denen er sich und seine Schauspieler malträtierte: In einer minutenlangen Traum-Deliriums-Halluzinations-Wahnsinnssequenz verliert sich die gequält Liebende in Imaginationsbildern, und es wird klar, dass aus „L’Enfer“, unter besseren Voraussetzungen, eben doch ein Meisterwerk hätte werden können. Auch wenn alles so disparat und willkürlich scheint.

Plug & Pray

(D 2010, Regie: Jens Schanze)

Über die Verschmelzung von Mensch und Maschine
von Wolfgang Nierlin

Angeblich hat schon Aristoteles über einen künstlichen Gehilfen des Menschen nachgedacht. Doch erst die Computertechnologie des 20. Jahrhunderts hat diesen utopischen Menschheitstraum in seiner Mischung aus Faszination und Schrecken in …

Angeblich hat schon Aristoteles über einen künstlichen Gehilfen des Menschen nachgedacht. Doch erst die Computertechnologie des 20. Jahrhunderts hat diesen utopischen Menschheitstraum in seiner Mischung aus Faszination und Schrecken in greifbare Nähe gerückt. Die virtuellen Welten der Sciencefiction und die realen Forschungen der mad scientists inspirieren sich dabei gegenseitig. Jens Schanze hat für seinen Dokumentarfilm „Plug & Pray“ jene futuristischen Laboratorien in Japan, den USA, in Italien und Deutschland aufgesucht, wo mit Nachdruck und Ehrgeiz an der Verschmelzung von Mensch und Maschine gebastelt wird. Was in den euphorisierten Visionen der einen jedoch als Grenzüberschreitung zu einem „neuen Menschen“ erscheint, ist für die anderen purer Ausdruck von Größenwahn und menschlicher Hybris.

Zu den prominentesten und schärfsten Kritikern solch technologischer Allmachtphantasien gehört der 1923 in Berlin geborene Joseph Weizenbaum. Selbst Computerspezialist und Pionier bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz hat sich der Forscher, der lange Zeit am Massachusetts Institute of Technology lehrte, Ende der 1960er Jahre unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung und des Vietnam-Krieges in kritischer Distanz zu seinem Fach positioniert. Einerseits ist er damit sich selbst zum Widerspruch geworden; andererseits hat er mit seinem Umdenken engagiert die ethische Dimension in den Diskurs um humanoide Roboter implementiert. Während seine Kollegen also dabei sind, den „neuen Menschen“ zu konstruieren, beharrt Weizenbaum auf einem Menschenbild, in dessen Zentrum die individuelle Entwicklung des Menschen sowie sein subjektiver und freier Wille stehen.

Im parallelen Aufbau von Schanzes Film ergeben sich so immer wieder wechselseitige Kommentierungen. Zum Beispiel wenn der italienische Forscher Giorgio Metta ein lernfähiges künstliches System vorstellt, der Japaner Hiroshi Ishiguro an der Konstruktion eines Roboters arbeitet, der eine möglichst hohe Menschenähnlichkeit aufweisen soll, oder wenn Nano-Technologen, die mit der Kreuzung von Informatik, Chemie und Biologie beschäftigt sind, davon schwärmen, „intelligente Zellen“ zu bauen. Der Traum von ewiger Jugend und Unsterblichkeit wird von diesen Wissenschaftlern ganz offen und voller Optimismus geträumt. Als Korrektiv dazu fungiert Joseph Weizenbaums Nachdenken über den Tod als „Service“ und sein wiederholt gezeigtes Eintauchen in die Musik von Händel, Schubert und Bach. Der Antagonismus von Geist und Materie, von Natur und zivilisatorischer Entfremdung, aber auch seine ganz andere Überwindung durch Kunst findet sich in diesen Passagen des Films angedeutet.

Der letzte schöne Herbsttag

(D 2010, Regie: Ralf Westhoff)

Unterdurchschnittlich glückliches Zweier-Team
von Wolfgang Nierlin

„Sind wir ein Paar oder eine Affäre?“ Leo und Claire bilden wohl am ehesten „ein Zweier-Team“, das sich über die Unterschiede seiner Partner definiert. Beide sind Mitte dreißig, leben in …

„Sind wir ein Paar oder eine Affäre?“ Leo und Claire bilden wohl am ehesten „ein Zweier-Team“, das sich über die Unterschiede seiner Partner definiert. Beide sind Mitte dreißig, leben in München und versuchen herauszufinden, wie das mit der Liebe im Leben so geht. Doch während die romantisch veranlagte Power-Frau Claire (Julia Koschitz), die ihre Hypochondrie mit Yoga bekämpft, sich in der Liebe nach Bestätigung und Verschmelzung sehnt, ist dem emotional reservierten Öko-Freak Leo (Felix Hellmann), der mit seinen Gedanken meist woanders ist, zu viel Nähe eher peinlich. Immer deutlicher fühlt sich Claire deshalb „unterdurchschnittlich glücklich“, gar wie „ein verlorener Stern im All“, was Leo zwar in der eigenen, verdrängten Unzufriedenheit widergespiegelt findet, aber kaum in sein Handeln integriert. Dass die gefühlte Verschiedenheit vor allem eine Frage der Perspektive ist, behauptet Ralf Westhoff in seiner Beziehungskomödie „Der letzte schöne Herbsttag“.

Er habe ganz bewusst einen Gegenentwurf zu seinem ersten, das konsumorientierte Liebesleben der Single-Generation beobachtenden Film „Shoppen“ drehen wollen, sagt Regisseur Ralf Westhoff im Presseheft zum Film. Nicht die prinzipielle Austauschbarkeit der Partner stehe dieses Mal im Mittelpunkt, sondern die stetige Beziehungsarbeit und das Bemühen, den jeweils anderen zu verstehen. Dabei habe er versucht, die üblichen Rollenklischees zu vermeiden. Auch bekennt sich Westhoff zur Künstlichkeit seines Films, der durch seine Figurenzeichnung und eine „offene Struktur“ keine plane Realitätsabbildung verfolge, sondern mehr der Beschreibung eines Lebensgefühls verpflichtet sei. Der Preis dafür ist allerdings, dass in seinem (eher nicht-narrativen) Film vom Leben selbst und seinen realen Bedingungen fast nichts vorkommt.

Die Höhen und Tiefen von Westhoffs Liebesgeschichte werden hingegen vor allem durch die in ausführlichen Monologen und Dialogen evozierte Gefühlslage der Protagonisten vermittelt. Verbal mitgeteilte Empfindungen, unterstützt durch ein die psychologische und schrullige Seite der Charakter-Typen betonendes overacting, dominieren deshalb das Bild. Wo dieses – wie in den vielen Dialogen – visuelle Dynamik entfalten soll, verliert es durch eine clip-artige Montage an ästhetischer Stringenz. So erzielt der Film seine komödiantische Wirkung zum einen durch einen forcierten Sprachwitz (der dann doch nicht ganz frei ist von der Reproduktion typischer Geschlechterrollen), zum anderen durch jene mit dokumentarischem Gestus und an einen imaginären Fragesteller gerichteten Selbstauskünfte der beiden gestressten Hauptfiguren, deren jeweilige subjektive Sicht auf sich selbst und den anderen, verschränkt durch eine alternierende Montage, die Differenzen und Fehleinschätzungen zwischen den Beziehungskriegern erst bemerkbar macht. Und so passen die beiden zwar nicht richtig zusammen, gehören aber doch irgendwie zueinander, weil am vorherbestimmten Ende dieser Geschichte vor allem der Glaube an die Liebe und ein guter Wille zählen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Somewhere

(USA 2010, Regie: Sofia Coppola)

Brennende Langeweile
von Ulrich Kriest

Ein schwarzer Ferrari. Dreht seine Runden. Irgendwo im Nirgendwo. Dreht seine Runden. Eine Kameraeinstellung. Das Fahrzeug fährt vorbei und hinten sieht man es dann noch einmal durch den Bildausschnitt rauschen. …

Ein schwarzer Ferrari. Dreht seine Runden. Irgendwo im Nirgendwo. Dreht seine Runden. Eine Kameraeinstellung. Das Fahrzeug fährt vorbei und hinten sieht man es dann noch einmal durch den Bildausschnitt rauschen. Toll! New Hollywood. Später steigt der Fahrer aus und geht zu Fuß weiter. Der Mann sieht hinreißend knuffig aus, heißt Johnny Marco und ist ein Hollywood-Star, kein ganz großer, aber immerhin. Johnny Marco logiert im legendären Hotel Chateau Marmont und hat zwischen den Dreharbeiten nicht allzu viele Verpflichtungen. Manchmal lässt er sich etwas gehen, fängt früher als sonst mit dem Trinken an, manchmal lässt er Puppen für sich tanzen, manchmal muss er kurz nach Italien, wo ihm im Rahmen einer knallbunten Fernsehshow ein Preis überreicht wird. Auch dann tanzen spärlich bekleidete Puppen um ihn herum. Dann noch schnell ein Foto-Shooting und ein schräges Interview. Könnte immer so weitergehen, weil Stephen Dorff den Johnny Marco spielt, was dem dramaturgischen Minimalismus des Films ein Augenzwinkern verleiht.

Dann taucht plötzlich Cleo auf, die elfjährige Tochter aus einer gescheiterten Beziehung, die jetzt ein paar Tage lang Johnny Marcos Alltag teilt. Jetzt hängt man eben zu zweit ab, isst Eiscreme, läuft Schlittschuh, macht Gitarren-Wettbewerbe – und manchmal, ganz selten, könnte man meinen, dass Johnny Marco sein Leben vor der Tochter etwas peinlich ist. Aber nur ganz selten. Denn „Somewhere“ ist der neue, vierte Film von Sofia Coppola, der vor Jahren mit „Lost in Translation“ ein Hit gelang, welcher von einem Mann erzählte, der in einem Hotel lebte und von einer viel jüngeren Frau ein wenig aus seiner melancholischen Lethargie gerissen, besser: sanft gedrängt wurde. Damals gab es noch Karaoke statt Gitarren-Wettbewerb. Danach drehte Sofia Coppola einen sehr schönen Film über ein junge Frau, die in ein sehr großes Hotel einzieht, in dem es nicht viel Privatsphäre, aber tolle Parties gibt. In „Somewhere“ kommt Johnny Marco einmal abends in sein Hotelzimmer und dort findet gerade eine Party statt. Johnny Marco feiert ein bisschen mit und legt sich dann nebenan ins Bett. So geht der Film. Cleo kommt, Cleo geht. Ins Ferienlager. Und man sitzt im Kino und sieht etwas gelangweilt nicht sonderlich aufregenden Menschen dabei zu, wie sie sich langweilen. Kann man machen, muss man aber nicht.

Aber weil der Filmkritiker ja nun nicht von Langeweile reden darf, muss etwas Sinn her. Sinn-Krise. Leider spielt Sofia Coppola da nicht mit. Denn sie ist allein an Oberflächen interessiert, nicht etwa an einer Haltung zu diesen Oberflächen. Weshalb sie auch nicht viel Interessantes zu erzählen hat, über ihren Film nicht und auch sonst nicht. Nein, autobiografisch sei ihr Film nicht, obwohl sie irgendwie schon … so von früher, als Vater Francis Ford Coppola noch im Chateau Marmont … und dann ja auch nach Italien … aber nein, autobiografisch ist das hier nicht, obwohl sie natürlich diese ganze Szene sehr gut kennt … Und Münchener Filmkritiker, die mit den Hollywood-Stars gewissermaßen auf Augenhöhe verkehren und Sofia Coppola für die bedeutendste Filmemacherin ihrer Generation mindestens halten, die bestätigen gerne aus erster Hand, dass es echt so ist, das Leben in Hollywood, wenn man drehfrei hat. Wissen sie genau, weil irgendwie ja selbst Teil davon. Und Filmkritiker, die nicht ganz so nah dran sind an Sofia oder Francis Ford, aber auch schon mal vor Ort waren, erzählen einfach davon, wie man vom Santa Monica Boulevard zum Chateau Marmont gelangt, erzählen ein paar Anekdoten aus der Geschichte der legendären Absteige, erzählen von Vater und Tochter Coppola, um nicht von Langeweile erzählen zu müssen.

So bleibt hier alles im Vagen, bis man sich selbst ein wenig wie Johnny Marco fühlt. Aber, keine Sorge, in „Somewhere“ schwingt tatsächlich so einiges mit. Irgendwo.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Live aus Peepli – Irgendwo in Indien

(IN 2009, Regie: Anusha Rivzi)

Sprödes Schlachtopfer
von Ekkehard Knörer

Peepli ist ein Dorf in der indischen Provinz. Ein etwas trunksüchtiger Mann namens Natha und sein keineswegs tüchtigerer Bruder Budhia kehren mit eingezogenem Schwanz vom Amt zur Familie zurück: Haus …

Peepli ist ein Dorf in der indischen Provinz. Ein etwas trunksüchtiger Mann namens Natha und sein keineswegs tüchtigerer Bruder Budhia kehren mit eingezogenem Schwanz vom Amt zur Familie zurück: Haus und Grundstück sind in einer Verzweiflungstat verpfändet. Ausweglos wäre die Lage, hätte nicht Budhia die rettende Idee: Für die Familien von Bauern, die Selbstmord begehen, gibt der Staat als Nothilfe Geld. Natha lässt sich davon überzeugen, sein Suizid wäre deshalb eine gute Idee. Nur hat er das Pech oder das Glück – jedenfalls ist es etwas, das über ihn dann hereinbricht -, dass das Fernsehen Wind von seinem Vorhaben bekommt. Peepli wird überrannt von Medienvertretern, die hier eine Story wittern, die dem Zuschauer sehr zu Herzen geht.

Dies die Prämisse. Was in ihr steckt, holt “Live aus Peepli”, das Spielfilmdebüt der Regisseurin Anusha Rizvi, aus ihr raus. Vorgeführt werden die Mechanismen des Quotenerfolgs, für den ein spektakulärer Fall wie der Nathas sorgt, nicht jedoch ein zu Tode geschufteter Mann in der Grube. Natha selbst hat von Anfang bis Ende keine Kontrolle über das, was und wie ihm geschieht. Ein Opferlamm, das sich allerdings etwas spröde zeigt auf dem Weg zur ihm zugedachten Opferung auf der Schlachtbank. Zuhause allerdings sitzen ihm die Frau und der Bruder und vor allem die bettlägerig-schreiwütige Mutter im Genick.

Mehr als das Erwartbare entwinden Buch und Film der Prämisse freilich auch nicht. Auf allen Bollywood-Glamour, auf Gesang und Tanz, wenn auch nicht auf viel Musik auf dem Soundtrack, wird verzichtet. Heraus kommt dennoch kein Film, der an das herausragende indische Sozialkino der Sechziger anschließt, sondern eher international kompatibler Arthouse-Mainstream. Erstaunlich erdig und fäkalienfroh dreckig immerhin ist die Sprache der Dialoge. Etwas wie der komische Höhepunkt dann passenderweise der Moment, in dem das Fernsehen nach Nathas Verschwinden ein zurückgelassenes Häuflein Scheiße sehr genau unter die Lupe nimmt. Die große Beachtung, die der Film findet, verdankt sich nicht zuletzt dem Mann, der ihn produziert hat: Superstar Aamir Khan. Mitspielen allerdings im teils vor Ort aus den Laien gecasteten Ensemble tut er nicht. Für die Auslands-Oscar-Nominierung hat es trotzdem gereicht.

Der letzte schöne Herbsttag

(D 2010, Regie: Ralf Westhoff)

Unterdurchschnittlich? Unterirdisch!
von Ulrich Kriest

„Und deine Inseln der Unruhe werden Festland. Du sitzt am Tisch für vier und starrst an die Tapete. Es ist Musik aus der Fabrik und will mit dir beten. Aber …

„Und deine Inseln der Unruhe werden Festland. Du sitzt am Tisch für vier und starrst an die Tapete. Es ist Musik aus der Fabrik und will mit dir beten. Aber jeder Satz bleibt hängen bei allein, allein, allein.“

– Tele, „Wunder in Briefen“ –

Kennen Sie den schon? Warum gehen Männer so gern in den Elektro-Markt? Weil sie dort alles anfassen dürfen, ohne eine gescheuert zu bekommen! Wuhahaha! Ist allerdings nicht von mir, ist von Mario Barth. Könnte aber auch von diesem Hirschhausen sein. Oder gefühlt Hunderten anderer sogenannter Comedians. Oder von Caveman, dem Sprachrohr narzisstischen Schwachsinns im erfolgreichen Einmann-Theaterstück gleichen Titels. Oder von Ralf Westhoff, der sich nach der gar nicht üblen Speed-Dating-Komödie „Shoppen“ erneut des offenbar in bestimmten Kreisen immergrünen Themas „Warum Männer und Frauen einfach nicht zusammen können“ angenommen hat.

Sie wissen schon: Er Jäger, sie, gähn, Sammlerin und so weiter und so fort. Ging es in „Shoppen“ noch um Paarbildung gemäß der herrschenden ökonomischen Ratio, so geht Westhoff jetzt entschieden einen Schritt weiter und illustriert die Grabenkämpfe innerhalb einer Beziehung, die schon bessere, vielleicht aber auch noch nie gute Tage sah. Und das geht so: Studentin Claire und Umweltaktivist Leo, beide um die 30, sind seit zwei Jahren ein Paar, obwohl Claire sich als „unterdurchschnittlich glücklich“ empfindet und sie von Leo wissen will, ob sie denn eine Affäre oder eine Beziehung haben.

Viel gemeinsam haben sie jedenfalls nicht: Sie mag Sex laut und häufig, er findet schon leisen Sex überschätzt. Sie will immer diskutieren, er eher nicht. Sie schickt lange romantische SMS, er weiß, dass Rilke besser dichten konnte. Sie ist patent, er introvertiert. Sie ist Hypochonderin, er isst Geflügel auch mal roh. Sie macht Yoga, er geht wandern. Die größte Gemeinsamkeit: beide verfügen über sehr viel freie Zeit, die sie komplett in Beziehungsarbeit investieren, mit der wir hier zugemüllt werden.

Dazu greift Westhoff auf einen gut eingeführten Trick aus „Shoppen“ zurück und lässt die Darsteller in halbnahen Einstellungen direkt in die Kamera sprechen. Wie bei einem Interview-Film besteht „Der letzte schöne Herbsttag“ aus einer Abfolge von Talking Heads. Die Montage ist zügig und sowohl die Dialoge der wenigen Szenen mit Spielhandlung (die den Interviews quasi als Beweisstücke beigestellt werden) als auch die Monologe sind brachial auf beifallheischende Pointe oder Kalenderspruch-Sentenz gearbeitet, was den Film ungeheuer selbstgefällig und geschwätzig macht.

Da sagt dann sie schon mal allen Ernstes: „Ich bin ein verlorener Stern im All, und ich brauche dich um mich rum. Aber ich hab Angst, dass meine Anziehungskraft nicht reicht. Und dann muss ich wieder alleine durchs All fliegen. Davor fürchte ich mich.“ Herr im Himmel! Hier kreist buchstäblich alles um die regressiv vor sich hin mäandernden Beziehungsprobleme zweier Nervensägen, die sich fast schon zwanghaft weigern, erwachsen zu werden.

Felix Hellmann, der Leo spielt, gefällt sich zudem augenrollend und nuschelnd in bei „Stromberg“ abgeguckten Manierismen. Ärgerlicher ist eigentlich nur noch das reaktionäre Frauenbild, das diese Ausgeburt der Kleinkunsthölle transportiert. Die emanzipierte Sammlerin mit der niedlichen Kurzhaarfrisur und den bunten Strumpfhosen hätte jetzt gerne den raubeinigen Jäger zum Anlehnen zurück. Sie will auf Händen getragen werden. Irre komisch, oder? Claire, die sich einmal beschwert, dass ihr Zeitungen nicht weiterhelfen, wenn sie wissen will, wie das Leben funktioniert, möchte man mit Tele zurufen: „Du gehst auf die Ämter und willst dich beschweren, aber da ist niemand mehr da, die sind zuhause und feiern Feierabend.“

5150 Elm’s Way

(CAN 2009, Regie: Éric Tessier)

Schach dem Killer
von Oliver Nöding

In Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist ein Buch mit berühmten Schachpartien die einzige Ablenkung für den monatelang von den Nazis festgehaltenen Arzt Dr. B., der erst akribisch jede einzelne der im …

In Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist ein Buch mit berühmten Schachpartien die einzige Ablenkung für den monatelang von den Nazis festgehaltenen Arzt Dr. B., der erst akribisch jede einzelne der im Buch dokumentierten Partien memoriert, bevor er schließlich beginnt, im Kopf gegen sich selbst zu spielen und dabei eine „Schachvergiftung“ erleidet, eine akute Spaltung seiner Persönlichkeit. – Ganz Ähnliches widerfährt dem Protagonisten von Éric Tessiers „5150 Elm’s Way“: Seine einzige Chance einem Soziopathen zu entkommen, besteht darin, ihn im Schachspiel zu besiegen.

Yannick Bérubé (Marc-André Grondin) möchte eigentlich nur seinen neuen Wohnort erkunden, als er mit dem Fahrrad stürzt und sich verletzt. Auf der Suche nach Hilfe trifft er den Taxifahrer Jacques Beaulieu (Normand D’Amour), der zunächst etwas abweisend reagiert. Wenig später weiß Yannick warum: Beaulieu ist ein Mörder, dem nach seiner Enttarnung nichts anderes übrig bleibt, als den jungen Mann einzusperren. Für den beginnt eine mehrmonatige Tortur: Familienvater Beaulieu ist ein religiöser Fundamentalist, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Sünder zu bestrafen, und dabei die volle Unterstützung nicht nur seiner braven Gattin Maude (Sonia Vachon), sondern auch seiner höchst aggressiven Tochter Michelle (Myléne St-Sauveur) genießt, die seine Mission irgendwann fortsetzen soll. Die Legitimität dieser Mission begründet Beaulieu wiederum mit seiner Unfehlbarkeit im Schachspiel und geht mit Yannick einen Handel ein: Wenn es diesem gelingt, ihn zu schlagen, wird er freigelassen. Yannicks Ehrgeiz ist geweckt, fieberhaft übt er, um seinen Peiniger zu besiegen. Doch der verfolgt mit dem Wettkampf einen ganz eigenen Plan …

Tessier begibt sich mit „5150 Elm’s Way“ zunächst auf das Terrain des in den letzten Jahren populären Terrorfilms, in dem das Grauen mit brutaler Vehemenz in den Alltag der Protagonisten einbricht und vor allem körperliche Pein für diese nach sich zieht: Seine Exposition ist kurz, der Umschwung zum Horrorfilm erfolgt abrupt, das Haus der Beaulieus steht mit seinen schummrig-schmutzigen Erdtönen in krassem Kontrast zum draußen herrschenden Sonnenschein, christliche Devotionalien unterstreichen die Atmosphäre verdrängter Schuld und körperliche Gewalt ist immer mit Schmerzen, Blut und Geschrei verbunden. Was Tessiers Film von Vorbildern wie „High Tension“, „The Hills Have Eyes“ (2007) oder „Frontier(s)“ unterscheidet, ist der Verzicht auf deren karikatureske Überzeichnung der Schurkenfiguren: Statt degenerierter Kinder, deformierter Kannibalen und Opas in Naziuniform findet man mit den Beaulieus eine Mörderfamilie vor, die nun tatsächlich ganz im Schoß der Bürgerlichkeit aufgehoben ist und deren Krankheit sich nicht äußerlich zeigt. Und so wie Tessier also den Blick von den Körpern ab- und den inneren Prozessen seiner Figuren zuwendet, so verwandelt sich sein Terrorfilm in einen Psychothriller, dem weniger an Gewaltdarstellung als an Gewaltauflösung, weniger an einer Breitseite gegen das Spießertum als vielmehr an der Suche nach den Ursprüngen von Beaulieus moralischem Fundamentalismus gelegen ist. Und dafür kommt ihm das Schachmotiv überaus gelegen.

Schach gilt nicht nur als das populärste Brettspiel der Welt, sondern auch als das komplexeste. Die Zahl möglicher Spielzüge und Spielvarianten geht gegen unendlich, sodass es für den Erfolg entscheidend ist, die Zugmöglichkeiten des Gegners zu erkennen, seine tatsächlichen Züge zu antizipieren und dieses Wissen wiederum in die eigene Taktik einfließen zu lassen. Diese Komplexität hat Schach nicht nur den Ruf des „Königs aller Spiele“ eingebracht, sie hat auch den Mythos begründet, dass ein guter Schachspieler auch den Anforderungen des Lebens besser gewachsen sei. Kurz gesagt: Schach ist auf 64 Felder und 32 Figuren eingedampftes Leben. Diesem Glauben hängt auch Beaulieu an: Weil er jeden Zug Yannicks präzise vorhersagen kann und daher förmlich unbesiegbar ist, folgert er daraus, auch in der Realität unfehlbar zu sein. Und wenn er unfehlbar ist, dann ist er auch im Recht, wenn er Menschen als Sünder stempelt und für ihre Taten bestraft. Die einzige Möglichkeit, ihn umzustimmen, ist es, ihm diese eine Niederlage zuzufügen. Doch je fieberhafter Yannick daran arbeitet, umso tiefer stürzt er selbst in die Psychose, die schon Stefan Zweigs Dr. B. in der „Schachnovelle“ ereilt und die – ein Standard des Serienmörderfilms – man für Tessiers Film mit Friedrich Nietzsche wie folgt beschreiben könnte: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

„5150 Elm’s Way“ ist zwar fest im Genrekino verwurzelt und sollte insofern als Genrefilm rezipiert werden, doch scheut er sich nicht davor, eigene, neue Wege zu gehen. Die eher ungewöhnliche Mischung aus Körperhorror und Psychothriller funktioniert ausgezeichnet, weil beide Aspekte in Tessiers Inszenierung miteinander in Beziehung treten wie die Spieler einer Schachpartie. Das Schachmotiv ist natürlich der Clou des sauber inszenierten und gut gespielten Films, der die oft anstrengende Hysterie des Terrorfilms ebenso zu vermeiden weiß wie allzu abgegriffene Klischees, weil er Körper und Geist auf engstem Raum zusammenbringt, den großen Konflikt im Kleinen spiegelt. Und dass Tessier diese Pointierung in seiner makabren Finalenthüllung noch einmal zu überbieten weiß, ohne dabei in die Plottwist-Falle zu laufen, lässt für zukünftige Filme von ihm noch einiges erhoffen.

My Son, My Son, What Have Ye Done

(USA / D 2009, Regie: Werner Herzog)

Brad und wie er die Welt sieht
von Louis Vazquez

Werner Herzogs Filme finden in Deutschland eigentlich nur noch auf Festivals statt, wenn der Regisseur nicht gerade Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ neu interpretiert und sich dabei in einem äußerst populären …

Werner Herzogs Filme finden in Deutschland eigentlich nur noch auf Festivals statt, wenn der Regisseur nicht gerade Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ neu interpretiert und sich dabei in einem äußerst populären Genre bewegt. Doch reguläre Kinostarts gibt es selten. „My Son, My Son, What Have Ye Done“ ist eine sehr kleine Produktion, die man sich in Deutschland entsprechend auf dem kleinen Bildschirm anschauen muss, obwohl sie Größeres verdient hätte. Selten wurde eine Tragödie mit so viel Lust und Humor erzählt. Als ausführender Produzent stand Herzog diesmal David Lynch zur Seite, und das ist eine Verbindung, die in mancher Hinsicht so folgerichtig scheint, dass es verwunderlich ist, dass sie nicht eher zu Stande kam, handelt es sich doch in beiden Fällen um bevorzugt unabhängig agierende Regisseure, deren Erzählweisen das Irrationale ganz und gar nicht fremd ist. Hinzu kommt eine gewisse Exzentrik, die den Filmemachern in manchen Momenten eine beängstigende Ähnlichkeit zu ihren obsessiven Protagonisten beschert – rein äußerlich freilich, um nichts Verrücktes zu unterstellen.

Brad McCullum reiht sich nahtlos ein in die entsprechende herzogsche Figurentradition. Er ist nicht mehr derselbe, seit er aus – ausgerechnet! – Peru zurückgekommen ist. Dort hatte er eine schicksalhafte Eingebung und überlebte als einziger eine Kanu-Tour, weil er das Unglück ahnte und gar nicht erst teilnahm. Jetzt hat Brad, der sich auserwählt fühlen muss, Gottes vermeintliches Abbild auf einer Haferflockenpackung entdeckt, seine dominante Mutter mit einem Schwert umgebracht und sich mit zwei zunächst unbekannten Geiseln in einem Haus verbarrikadiert. Ein Eliteteam rückt an und positioniert sich, um zu verhandeln und die Geiseln zu befreien. Während alle die nächsten Schritte abwarten, tritt eine Art Schwebezustand ein. Der Film zeigt nicht, was im Haus passiert, und weil ein Haus Sinnbild für den Geisteszustand eines Menschen sein kann, bleibt auch Brads Innenleben ein Geheimnis. Es wird kein psychologisches Erklärstück inszeniert. Stattdessen erzählen Rückblenden im Zuge der Ermittlungen Brads Geschichte. Seine Verlobte Ingrid spricht mit einem Detective von der Mordkommission, später kommt ein befreundeter Theaterregisseur hinzu und ergänzt weitere Details: Brad arbeitete mit ihm an einer Aufführung von Aischylos’ „Orestie“ und sollte die Hauptrolle spielen – bis er die Figur des Muttermörders plötzlich allzu fanatisch auszufüllen begann.

Dass „My Son, My Son, What Have Ye Done“ auf einer wahren Begebenheit basiert und Originalzitate und Anekdoten verwendet, muss man schon wissen, denn man sieht es dem Film nicht an. Er wirkt weder wie ein Bio-Picture noch funktioniert er als klassischer Psychothriller. Vielmehr arbeitet er, wie die Beteiligten es erwarten lassen, mit Verfremdungsmechanismen, die das Geschehen oft ins Bizarre und Komische abgleiten lassen, ohne allerdings die existenzielle Tragik des Stoffs zu verraten. Immer wieder friert das Bild ein, indem die Schauspieler in ihrer Position verharren, während die Kamera weiterläuft. Durch diese surrealen Verzögerungen, manchmal in langsamen Schwenks, wird alles mit vermeintlichem Sinngehalt aufgeladen – und vergleichbar ist ja auch die Wahrnehmung Brads, der plötzlich zwanghaft einer Bestimmung folgt: Alles bedeutet etwas. Eine weitere Szene gewinnt durch das Herzog-typische Guerilla-Filmemachen eine besondere Qualität. Die Kamera ist am Protagonisten befestigt und fokussiert sein Gesicht, während er sich durch eine Menschenmenge bewegt – eigentlich eine konventionelle Art, Wahnsinn filmisch zu inszenieren. Doch Herzog hat die Szene mal eben ohne Genehmigung mit einem kleinen Team in Westchina gedreht. Die irritierten Blicke der Menschen auf den Schauspieler und direkt in die Kamera sind echt und machen Brads Paranoia gut nachvollziehbar.

Herzogs Ensemble legt eine seltene Spielfreude an den Tag, befördert durch die szenische Arbeitsweise von Herzog und seinem Kameramann Peter Zeitlinger, in der es wenige Zwischenschnitte gibt. Herzog und Lynch, der Realitätsverlust des manischen Künstlers und der Horror der bonbonbunten Suburbia, passen gut zusammen. „Manchmal habe ich das Gefühl, David Lynchs und meine Filme reden nicht miteinander, sondern sie tanzen manchmal miteinander“, sagt Herzog im Audiokommentar über das Verhältnis der beiden Oeuvres. Manchmal ist es ein intimer Tango, möchte man ergänzen. Manchmal aber auch ein anarchischer Pogo. Der Tanztee jedenfalls darf gerne häufiger stattfinden.

Rachel

(F / B 2009, Regie: Simone Bitton)

Propaganda der guten Absicht
von Sven Jachmann

„Israelkritik“ weiß von sich selbst am besten, dass sie es nur gut meint. Dadurch immunisiert sie sich gegen Einwände. Werden die dennoch erhoben, fühlt sie sich gegeißelt und einem imaginierten …

„Israelkritik“ weiß von sich selbst am besten, dass sie es nur gut meint. Dadurch immunisiert sie sich gegen Einwände. Werden die dennoch erhoben, fühlt sie sich gegeißelt und einem imaginierten Diktat des Tabus unterworfen. Darüber jammert sie sodann in den auflagenstärksten Zeitungen und zu den besten Sendezeiten so lange, bis ihr endlich in Gestalt unzähliger Auszeichnungen, die der Kulturbetrieb eben bereit hält, der flächendeckend beklagte Maulkorb geadelt wird. An diesem Dilemma leidet nicht bloß die stets vor Kühnheit zitternde Prominenz vom Schlage eines, sagen wir, Martin Walsers, Norman Finkelsteins oder Noam Chomskys. Auch kleinere Fische sind der omnipotenten Knute des Philosemitismus ausgeliefert und deswegen genötigt, Sprachcodes zu entwickeln, die ihre freundlichen Absichten umso vehementer unterstreichen.

Die Regisseurin Simone Bitton beispielsweise verfolgt mit ihrem Dokumentarfilm „Rachel“ hehre Ziele. Eigentlich möchte sie vom Todesfall der 23-jährigen amerikanischen Friedensaktivistin Rachel Corrie erzählen, die im März 2003 im Gazastreifen unmittelbar an der Grenze zu Ägypten ums Leben kam. Bei dem Versuch, zusammen mit einer Handvoll Mitglieder der Organisation ISM durch gewaltlosen Widerstand den Abriss palästinensischer Wohnhäuser zu verhindern, erfasste sie der Bulldozer. Der Fall kursierte in den israelischen und internationalen Medien und wurde schnell ad acta gelegt. Bleibt die Frage bestehen, ob es sich um einen Unfall oder Absicht handelte. Dies klärt nun in investigativer Manier Bittons Film. Zumindest wird das behauptet. Dazu begibt sie sich an den Schauplatz, filmt in langen Einstellungen die Ruinen der Region, montiert Videoaufnahmen, Fotos und Dokumente zu all den Stimmen, die postum das Geschehen rekonstruieren und den Menschen Rachel konturieren sollen: Ärzte, Militärsprecher, Freunde, Mitaktivisten, Augenzeugen, Soldaten, Lehrer, die Eltern. Das Credo lautet distanzlose Distanz, und eine Agenda ist in den Bildern explizit formuliert: Liest der oberbefehlshabende Kommandant seinen Abschlussbericht, in dem er zu dem Schluss kommt, dass es sich um eine Unfall gehandelt habe, sehen wir minutenlang einen Bulldozer während einer Testfahrt; spricht ein palästinensischer Apotheker am Tatort über das, was er damals beobachtete, bewegt sich die Kamera langsam zur angrenzenden Mauer. Nach Erste-Hilfe-Maßnahmen alarmierte er übers Handy einen befreundeten Arzt: „The jews have killed our friend Rachel Corrie.“ Nicht nur in den Bildern ist die politische Agenda explizit formuliert.

Agitation ist Ehrensache, der Tod hingegen ein Martyrium, politisch wie biographisch. Im Presseheft erklärt Bitton ihre zentrale Motivation: „Am wichtigsten war mir, dass Rachel Corrie im Alter von 23 Jahren gestorben ist und ich 53 Jahre alt bin; ich trauere um meine Jugend. In Rachel Corrie sehe ich sowohl die junge Frau, die ich selbst einmal war, als auch die Tochter, die ich gern gehabt hätte.“ So starb Rachel Corrie also für den geschundenen Familienroman und die verlorene Jugend Bittons. Alles weitere erledigt ein aufklärerischer Impetus, der vor jeder Aufklärung auf der Suche nach einer Märtyrerin ist. Sein Subjekt, Rachel Corrie, ist ihm dabei so lang wichtig, wie es sich als repräsentatives Opfer der Macht des reuelosen Besatzers eignet. Darum lesen die Eltern E-Mails ihrer Tochter vor und dürfen ansonsten schweigen. Darum gibt es keinen eliminatorischen Antisemitismus, keine Hamas und keine Selbstmordattentate, in diesem verwüsteten Gazastreifen, weder in den Bildern noch in den Gesprächen. Darum antwortet ein junger linker palästinensischer Widerständler auf die Frage nach den Gründen seines Engagements, dass er die Kämpfe im Warschauer Ghettos verstehe, die Menschen hätten keine Hoffnung gehabt, aber er verstehe, warum sie es taten.

Im Abspann rappt ein früherer Mitaktivist über Rachel Corrie: „She had to come to stop the tanks, that were built, bought and brought by her brothers, the yanks – an american citizen with palestinen blood.” Eine endgültige Klärung der Faktenlage kann der Film nicht bieten. Aber das ist kein formales Manko, sondern kühl kalkulierte Folge programmatischer Agitation. „Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte sie ihre Reinheit und Unschuld verloren? Hätte sie sie einer pragmatischen Haltung oder der Realität geopfert?‘, fragt sich Bitton im Presseheft. So ist sie eben, die Propaganda der guten Absicht: unschuldig bis aufs Blut und noch reiner als ihre Opfer, die sie für den Beweis ihrer Unschuld pragmatisch zu Kronzeugen degradiert.

Das Deutsche Kettensägenmassaker

(D 1990, Regie: Christoph Schlingensief)

Es geht um die Wurst
von Harald Mühlbeyer

Schlingensief saß vor dem Fernseher und konnte es nicht so richtig fassen: Mauerfall und Einheitstaumel, Trabis und Bananen, „Wir sind das Volk“, der Bundespräsident und die Nationalhymne: das seien verlogene, …

Schlingensief saß vor dem Fernseher und konnte es nicht so richtig fassen: Mauerfall und Einheitstaumel, Trabis und Bananen, „Wir sind das Volk“, der Bundespräsident und die Nationalhymne: das seien verlogene, geheuchelte Bilder, großer Murks, so erklärt er es im Interview. Und sie waren die Inspiration für seinen wohl bekanntesten Film. Als zweite Inspiration dienten ihm „Texas Chainsaw Massacre“ und vor allem dessen Fortsetzung, der spiele auf einem Jahrmarkt und sei angefüllt mit doppeldeutigen Bildern, so Schlingensief.

Innerhalb von zwei Wochen stand das Drehbuch, dann drehte er auch schon mit seiner üblichen Clique auf einem gerade verlassenen Stahlgelände bei Duisburg. Drei Wochen nach dem 3. Oktober 1990 war der Film fertig, auf den Hofer Filmtagen Ende Oktober fand die Premiere statt, Ende November war Kinostart: „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ war der erste Schlingensief-Film, der richtig gut ankam.

Ja: Der Film ist publikumsaffin. Ein Horrorfilm mit Splatter, Blut und Gliedmaßen, also ein Underground-Genre-Produkt voller Tabubrüche. So fährt der Film als blinder Passagier auf dem Kultzug von Tobe Hoopers Texas-Massaker mit, er ist zugleich Parodie, Hommage und Remake. Zudem, und hier wird der Film fürs Feuilleton interessant, ist er aktuelle Satire auf den Einheitsrausch, auf überbordenden Jubel und Trubel im Wahn der Wiedervereinigung, auf die Verschlingung des Ostens durch den Westen. Und natürlich ist es ein echter Schlingensief, der Rausch und Wahn, Brüllen und Hysterie zusammenpackt als Film, ein undurchdringliches Chaos, das überhaupt nicht mehr in einer eindeutigen Weise interpretiert werden kann.

Das ist Schlingensiefs Methode: aktuelle Diskurse zusammenzupressen, mit Assoziationen, mit medialen oder geschichtlichen Bildern anzureichern, und das dann in einen Zustand permanenter Überdrehtheit zu überführen, schnell und dilettantisch hingerotzt einerseits, andererseits stilisiert und überhöht und mit großem Bewusstsein für gesellschaftliche vibrations und dafür, wie sie sich wirkungsvoll als Exzess präsentieren lassen.

Mit Mordlust und Sexperversionen zeigt Schlingensief das von allen Zwängen befreite Es – und zwar nicht nur einseitig, als Wahnsinn einer Hinterwäldlerfamilie, nein: alle sind von Irrsinn befallen, Ossis und Wessis, Männer und Frauen, Mörder und Opfer, auch die Politiker, die er in dokumentarischen Aufnahmen zu Anfang zeigt, die ganze Riege der Mächtigen mit Kohl, Weizsäcker, Brandt etc. Und diesen allseitigen Wahnsinn inszeniert Schlingensief möglichst schnell und möglichst laut. Der Film ist also auch ein Überfall auf den Zuschauer, ein Angriff aufs Publikum. Schlingensief packt die Wirklichkeit, durchmischt sie, wringt sie aus, dampft sie ein, presst sie zusammen, bis sie Kunst wird. Und haut sie dann dem Publikum um die Ohren. Brutal-Trash und Politmetapher, hysterischer Exzess und grotesk-überzogene Ambivalenz der Deutungsmöglichkeiten, dazu bissiger, böser Witz, der den ganzen Film durchzieht: Unter dem Schlagwort „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ verwurstet Schlingensief in der Tat alles, was ihm unter die Finger und in den Kopf kommt; und zeigt damit, wo in dieser Gesellschaft überall Gammelfleisch rumliegt.

Nun hat die Filmgalerie 451 – die ohnehin alle Schlingensief-Filme im Programm hat – das „Deutsche Kettensägenmassaker“ neu aufgelegt, in der Premium-Edition RedLine. Darin enthalten ist nicht nur der Film, sondern auch das gesamte Interview „Christoph Schlingensief und seine Filme“, das Filmgalerie-Chef Frieder Schlaich 2002 mit Schlingensief führte. Darin berichtet Schlingensief ausführlich von seinem filmischen Schaffen, von den Anfängen mit acht Jahren bis zu „Die 120 Tagen von Bottrop“. Da Schlingensief gern lang und klug monologisiert, vermischen sich dabei Anekdoten mit Analysen, Abrechnungen mit Kritikern und Auseinandersetzungen mit der eigenen Arbeitsweise.
Außerdem enthält die Doppel-DVD Schnittreste – die aber weitgehend lediglich alternative Takes dessen sind, was schon im Hauptfilm zu sehen gewesen war – und einen bisher unveröffentlichten Kurzfilm, „My Wife in 5“ von 1985, mit fünf szenischen Fantasien über eine kleine Liebesgeschichte, unterlegt mit woanders geklauten Tönen und Musiken: als Weihnachtsgeschichte, als Bohème-Drama, als Märchen, als Sissifilm.

Eigentlich sollte die DVD zum 50. Geburtstag Schlingensiefs herauskommen; jetzt wurde sie zu seinem Requiem: Wir begehen den 20. Jahrestag der deutschen Einheit, und Schlingensief ist tot. Eine Schweigeminute allerdings ist kaum angebracht, eher lautes, irres Lachen während des „Deutschen Kettensägenmassakers“.

I Am Love

(IT 2009, Regie: Luca Guadagnino)

Style and Substance
von Harald Steinwender

Über Jahrzehnte wurde das italienische Nachkriegskino weltweit für seine visuelle Opulenz bewundert. Luchino Viscontis erlesene Ausstattung, Federico Fellinis überbordende Bildimagination und Sergio Leones barocker Ikonoklasmus haben, um nur drei Beispiele …

Über Jahrzehnte wurde das italienische Nachkriegskino weltweit für seine visuelle Opulenz bewundert. Luchino Viscontis erlesene Ausstattung, Federico Fellinis überbordende Bildimagination und Sergio Leones barocker Ikonoklasmus haben, um nur drei Beispiele zu nennen, die Filmgeschichte geprägt, Kameramänner wie Vittorio Storaro, Tonino Delli Colli und Giuseppe Rotunno uns neu sehen gelehrt. Die Bildermacht des italienischen Kinos gründete zum Einen auf den exzellenten Kameramännern und Technikern der italienischen Filmindustrie, zum Anderen auf der Bevorzugung des Bildes gegenüber der Tonspur, die sich etwa in der lange Zeit bevorzugten Arbeitsweise italienischer Filmteams ohne direkten Ton niedergeschlagen hatte. Hier bedeuteten die Bilder – wie im Stummfilm – noch alles.

Seit einigen Jahren scheint das darbende italienische Kino das große Erbe seiner Kameramänner und Regisseure vergessen zu haben. Nur wenige Ausnahmen erinnern an die Meisterschaft vergangener Jahrzehnte, etwa die ironisch-unterkühlten Filme des Neapolitaners Paolo Sorrentino („Le conseguenze dell’amore“; 2004 und „Il Divo“; 2008) oder die des Sizilianers Giuseppe Tornatore („La Sconosciuta“ / „Die Unbekannte“; 2006). Nur sehr wenige dieser Filme haben es überhaupt in die deutschen Programmkinos geschafft. Da ist es umso erfreulicher, dass mit Luca Guadagninos meisterlichem „I Am Love“ („Io sono l’amore“) endlich wieder eine dieser selten gewordenen Ausnahmen auch bei uns zu sehen ist.

„I Am Love“ ist zunächst einmal ein Melodram: die Geschichte der Russin Emma (Tilda Swinton), die in die fiktive Mailänder Textildynastie der Recchis eingeheiratet hat. Die Recchis sind Kriegsgewinnler, die in der Zeit des italienischen Faschismus ihr Vermögen gemacht haben. Nun leben sie in einem goldenen Käfig, in den auch Emma, einem Statussymbol gleich, gesperrt ist. Auch für die Recchis gilt die Maxime des Fürsten aus Viscontis (bzw. Giuseppe Tomasi di Lampedusas) „Der Leopard“, dass die Dinge sich wandeln müssen, damit alles bleibt, wie es ist. Nur spielen diesmal die Frauen nicht mit, denn nachdem Emma erfahren hat, dass ihre Tochter (Alba Rohrwacher) sich in eine Frau verliebt hat und unbeirrt von den gesellschaftlichen Konventionen ihren Weg geht, lässt auch sie sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit dem unorthodoxen Koch Antonio (Edoardo Gabbriellini) ein. Dabei kommt es zur familiären Katastrophe, die für Emma auch die Chance auf einen Neuanfang bietet.

Luca Guadagnino positioniert seine Erzählung durch Thema, opernhaft-melodramatischen Erzählgestus und Verweise, wie die Besetzung des Visconti-Veteranen Gabriele Ferzettis in der Tradition von Viscontis großen Familienstudien. Aber mehr noch sind es die durchkomponierten Bilder, mit denen Guadagnino Viscontis Werk fortführt. Hier wie dort ist der vermeintliche Ästhetizismus der Bilder kein hohler Selbstzweck, sondern integral für das Verständnis der erstarrten Rituale und Herrschaftstechniken des Großbürgertums. Die zentrale Liebesgeschichte ist in diesem Rahmen das Signum des Untergangs einer längst überkommenen Welt.

Der Regisseur und sein Kameramann Yorick Le Saux, der zuletzt Olivier Assayas‘ ausuferndes Terroristen-Biopic ‚Carlos – Der Schakal‘ fotografierte, richten höchst artifizielle Bildtableaus von berückender Schönheit ein, deren Brillanz nur umso deutlicher die innere Leere der Protagonisten herausstreicht. Dabei inszeniert Guardagnino seinen Film wie einen Lehrfilm für angehende Kameramänner und lässt keine Stilisierung aus: sehr lange und sehr kurze Brennweiten ebenso wie extreme Auf- und Untersichten; Bildmetaphern und eine Lichtsetzung, die durch Scheinwerferspots einzelne Figuren akzentuiert und aus dem Ensemble herausgreift; Matchcuts, komplexe Plansequenzen und ausgreifende Kranfahrten, die den filmischen Raum in einen Fluss versetzen; pointierte Montagesequenzen und schnelle Zooms, die ihn fragmentieren und zersetzen. Die Innenräume werden durch erlesenes Dekor in warmen Farbtönen bestimmt und die Kontrastierung von Komplementärfarben: in einem in oranges Licht getauchten Raum funkeln die grünen Weingläser wie Smaragde, die rothaarige Tilda Swinton tritt im königsblauen Abendkleid auf. Die Außenaufnahmen dagegen sind geprägt durch stahlgraue Stadtimpressionen aus Mailand, San Remo, London, die durch die Betonung geometrischer Muster beinahe abstrakt wirken. Zeugnisse der Industrialisierung – endlose Raster von Beton und Stahl, verschraubte Wendeltreppen, Glasfronten und Gitter, Hochhäuser, von der Kamera eingefangen wie kristalline Gewächse aus Stein – stehen in Untersicht erfassten Kirchen und barocken Fassaden gegenüber. So entsteht eine Welt der scharf abgegrenzten Gegensätze: Alt und Neu, Innen und Außen, Schein und Sein. Und dazwischen: ein Garten Eden, ein sommerlicher Naturraum, in dem Swintons Emma auf die primären Wahrnehmungen zurückgeworfen wird – sehen, riechen, fühlen, schmecken – und darüber die Liebe wiederentdeckt.

Der melodramatische Gestus von Guardagninos Film mag vielleicht etwas zu forciert wirken. Doch darüber hinaus gibt es viel zu sehen in „I Am Love“, und vor allem, neu sehen zu lernen. Und das bedeutet hier – und für eine neue Generation von Kinozuschauern – zurück geführt zu werden zu den Meistern der 1960er und 70er Jahre: zu Vittorio Storaros Kameraarbeit für Bernardo Bertolucci und Luigi Bazzoni und zu Armando Nannuzzis und Giuseppe Rotunnos Arbeiten für Visconti. „I Am Love“ ist gleichermaßen Melodram und boshafter Kommentar zum italienischen Bürgertum wie ein sensuelles Erlebnis.

The Crazies – Fürchte deinen Nächsten

(USA 2010, Regie: Breck Eisner)

Dawn of the Crazies?
von Louis Vazquez

Vielleicht muss man es sich einfach noch mal vergegenwärtigen: „Remake“ heißt zunächst einmal nur „wieder machen“ und meint vor allem Geld. Das gilt selbst dann, wenn das Original ein finanziell …

Vielleicht muss man es sich einfach noch mal vergegenwärtigen: „Remake“ heißt zunächst einmal nur „wieder machen“ und meint vor allem Geld. Das gilt selbst dann, wenn das Original ein finanziell eher erfolgloser Film war. „Remake“ bedeutet eben nicht zwangsläufig, die Essenz eines einstmals spannenden Stoffs auf ihre aktuelle Relevanz hin zu überprüfen und für die Gegenwart zu adaptieren – oder auch nur an „moderne Sehgewohnheiten“ anzupassen. Die zahlreichen Remakes und „Reboots“ der letzten Zeit legen davon ein meist trauriges Zeugnis ab.

Dass George Andrew Romeros „The Crazies“ aus dem Jahr 1973 nun ein Remake erfahren hat, dürfte vor allem daran liegen, dass die originären Zombiestoffe des Regisseurs in den letzten Jahren bereits offiziell neu inszeniert worden sind und somit fürs erste als Erfolg versprechendes Quellmaterial ausfallen. Denn sie sind es vor allem, die das Horrorkino entscheidend geprägt und zu Nachahmungen, Hommagen und Parodien angeregt haben. „The Crazies“ aber erinnert mit seinen durch ein Virus verrückt und gewalttätig gewordenen Menschenmassen hier und da auch ein wenig an Zombiehorden und weckt vergleichbare Assoziationen von Endzeit und Apokalypse. Es war deshalb wohl das Ziel, mit dem Remake dieses Films dem Subgenre des Zombiefilms (der ja inzwischen ohnehin oft „Infizierte“ meint) so nahe wie möglich zu kommen, denn alles, was „The Crazies“ seinerzeit zum eigenständigen, höchst subversiven und noch heute interessanten B-Picture machte, wurde im Zuge der Adaption ziemlich konsequent zugunsten einer uninspirierten Horrorinszenierung über Bord geworfen.

„The Crazies“ erzählt vom Ausbruch eines biologischen Kampfstoffs in einer amerikanischen Kleinstadt. Das Virus gelangt bei einem Flugzeugabsturz ins Grundwasser, führt innerhalb weniger Tage zum Wahnsinn und lässt die Menschen Amok laufen. Ein Gegenmittel gibt es nicht, und das Militär greift so brutal wie dilettantisch ein, um eine Ausbreitung der Seuche zu verhindern. In Romeros Original versucht eine Gruppe von internierten Einwohnern, angeführt von zwei Feuerwehrmännern, die als Soldaten in Vietnam waren, die Militärblockade zu durchbrechen. Das Vorhaben scheitert. Selbst heute ist das zynische Ende von Romeros Film nur schwer erträglich: Die schwangere Freundin des Helden, inzwischen erkrankt, stirbt in seinen Armen, er selbst wird von den anonymen Soldaten mit ihren Gasmasken und den weißen Schutzanzügen wieder gefangen genommen und mit den Infizierten eingepfercht, obwohl er offensichtlich immun gegen das Virus ist. Die Zeit für einen Bluttest aber will sich niemand nehmen, denn Kranke werden längst offiziell als Feinde betrachtet. Derweil ist das Virus bereits in der nächsten, größeren Stadt angekommen.

Romeros Abgesang auf die Armee und das staatliche Krisenmanagement ist deutlich als Reaktion auf den Vietnamkrieg zu verstehen. Die große Leistung seines Films ist, dass er über die persönliche Ebene der Protagonisten hinausweist und analytisch die Zusammenhänge zeigt, die diese Tragödien verursachen: die Fehlentscheidungen der Militärführung, die Konflikte mit lokalen Politikern und Polizisten, marodierende Soldaten, die Machtlosigkeit der Wissenschaftler, die unter den gegebenen Umständen nicht helfen können. Einem seiner Ex-Soldaten legt Romero die Worte in den Mund: „The army ain’t nobody’s friend, man. We know – we’ve been in.” Die nicht gerade subtile Dekonstruktion eines inkompetenten Machtapparats und seiner brutalen Vollzugsorgane ist New Hollywood par excellence – provozierend und radikal bis hin zum Finale. In Breck Eisners Hochglanz-Remake ist davon leider wenig übrig, obwohl Romero selbst als ausführender Produzent beteiligt war.

„The Crazies“ will in der neuen Version ohne die Perspektive des Militärs und der Wissenschaftler auskommen und konzentriert sich stattdessen ganz auf seine neuen Hauptfiguren, Sheriff David Dutten (Timothy Olyphant), dessen schwangere Frau Judy (Radha Mitchell) und den Deputy Russel (Joe Anderson). Allein diese Verschiebung des Fokus und der Identifikation ausgerechnet auf die gesetzlichen Vertreter von Recht und Ordnung verkennt die Intention des Originals. Und während Romero das Setting innerhalb von fünf Minuten etablierte, um es für seine grausame Versuchsanordnung zu nutzen, lässt das Drehbuch des Remakes die Helden durch ihre eingeschränkte Perspektive lange darüber im Unklaren, was genau passiert – im Gegensatz zum genreaffinen Zuschauer.

Während Romeros Original den Kern des Konflikts klar zwischen den internierten Einwohnern und den anonymen Soldaten verortet – selbst die Infizierten gehen meist gegen das Militär vor und wirken dabei wie eine skurrile Bürgerwehr –, bemüht sich das Remake um Standardsituationen des Horrorfilms, in denen fast immer die Infizierten, nicht die Soldaten, zur Bedrohung für die Heldengruppe werden. Mit ihren blutunterlaufenen Augen und den hervortretenden Adern werden sie dabei kaum anders eingesetzt als Zombies. Die im Original so verstörende Beiläufigkeit, wenn etwa eine strickende alte Frau plötzlich lächelnd eine Nadel als tödliche Waffe benutzte und sich dann wieder hinsetzte, als sei nichts geschehen, weicht im Remake einer animalischen, klassisch-monströsen Zielstrebigkeit der Infizierten und übertriebenen Situationen: Es müssen eben gleich der infizierte Pathologe mit der Knochensäge und der Slasher mit der Mistgabel kommen. Die einzige Szene, in der die Flüchtenden tatsächlich mit Soldaten konfrontiert werden, beinhaltet sogleich eine Relativierung. Sie nehmen einen der Soldaten gefangen, demaskieren ihn (d.h. geben ihm ein Gesicht) und verschonen ihn schließlich gegen das Versprechen, sie nicht zu verraten. Denn der junge Mann hat mitten in der Kampfhandlung ein Einsehen und korrigiert seinen Einsatzplan: „Ich bin nicht gekommen, um unbewaffnete Zivilisten zu erschießen.“ Man kann Romeros Original seine Plakativität zum Vorwurf machen, aber im sich so subtil gebenden Remake wirken derlei Phrasen umso lächerlicher. Alles Subversive wird gnadenlos geglättet, goutierbar gemacht und der Stoff so seines Potenzials beraubt. Dass die Helden am Ende mit Zeugnissen eines Massakers konfrontiert werden, dessen visuelle Umsetzung gleich die krassesten Erinnerungen an Deportationen wecken muss, macht die nicht einmal halbherzige Angelegenheit kaum besser. Die oberflächliche Splatter-Gewalt freilich wird klischeehaft zugespitzt und tut ja inzwischen niemandem mehr wirklich weh.

Es ist also offensichtlich, dass die Neufassung von „The Crazies“ zuvörderst etwas ganz anderes im Sinn hat als eine Neuformulierung ätzender Kritik: die zahlreichen Fans von Zack Snyders Remake von „Dawn of the Dead“ (2004), einer interessanten und ziemlich populären Neuinterpretation von Romeros Zombieklassiker. Eisners Musikauswahl verweist direkt auf diesen Vorläufer, denn Snyder begann seinen Film mit dem Song „The Man Comes Around“ von Johnny Cash. Er begleitete die Bilder vom Untergang der Zivilisation, und das ergab Sinn, denn mit „the man“ ist der Tod gemeint. Eisner nun unterlegt die Bilder der Kleinstadtidylle mit Cashs Interpretation von „We’ll meet again“, dem Song, der das Finale von Kubricks „Dr. Strangelove“ begleitete. Wirklich viel Sinn ergibt das, selbst im Vorgriff auf die Auflösung des Films, aber nicht. Zwar lässt auch Eisner die Bombe hochgehen, aber nicht als zynische Schlusspointe, die allen Bemühungen ein Ende setzt, und seien sie noch so redlich (wie etwa in Dan O’Bannons konsequenter Hommage „The Return of the Living Dead“ aus dem Jahr 1985), sondern als bloßes Spektakel, dem die Helden zu guter Letzt auch noch entgehen, denn ihr Truck besteht offenbar aus dem selben Material wie der Kühlschrank, der Indiana Jones in seinem letzten Abenteuer aus einer ähnlichen Situation rettete.

Am Ende bleibt ein Film, der auf oberflächliche Weise zu unterhalten vermag, der aber mit „The Crazies“ letztlich ebenso viel oder wenig gemein hat wie mit Wolfgang Petersens „Outbreak“. Vielleicht muss man Milde walten lassen und darf von Remakes einfach nicht mehr so viel erwarten. Aber wo sollte das hinführen?

Carlos – Der Schakal

(F / D 2010, Regie: Olivier Assayas)

Popstar und Ich-AG in Sachen Terror
von Ulrich Kriest

Olivier Assayas‘ ausladende Geschichtslektion zerstört den Post-68er-Mythos vom revolutionären Subjekt. Wer in den 1970er Jahren mit Olympia-Attentat, Bombenanschlägen, Bewegung 2. Juni und Lorenz-Entführung, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“, RAF und …

Olivier Assayas‘ ausladende Geschichtslektion zerstört den Post-68er-Mythos vom revolutionären Subjekt.

Wer in den 1970er Jahren mit Olympia-Attentat, Bombenanschlägen, Bewegung 2. Juni und Lorenz-Entführung, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“, RAF und Schleyer-Ermordung, Mogadischu, Rasterfahndung, Hausdurchsuchungen, gesteigertem Fahndungsdruck und Toten in Stammheim aufwuchs, dem wird gewiss der „Spiegel“-Titel vom Juli 1976 in Erinnerung geblieben sein, als ein pausbäckiger Mann mit Sonnenbrille und dicken Koteletten zum „meistgesuchten Mann der Welt“ ausgerufen wurde. Die Rede ist von dem in Venezuela geborenen Ilich Ramirez Sanchez, genannt „Carlos“, der zwischen 1970 und seiner spektakulären Verhaftung 1994 im Sudan als internationaler Strippenzieher des Terrorismus galt: nicht zu fassen, aber fast ein Pop-Star.

Der bekannte französische Autorenfilmer Olivier Assayas („Irma Vep“, „Demonlover“) und sein Drehbuchautor Dan Franck haben sich jetzt in einer kompetent recherchierten und mustergültig umgesetzten Zeitreise auf eine Spurensuche begeben und dabei eine Geschichte des internationalen Terrorismus rekonstruiert, die desillusionierender nicht sein könnte. „Carlos – Der Schakal“, eigentlich als Mini-Serie fürs französische Fernsehen konzipiert, kommt in zwei unterschiedlichen Fassungen in die Kinos: Die kürzere Fassung dauert 190 Minuten und ist eigentlich nur denjenigen zu empfehlen, die die längere Fassung bereits gesehen haben, weil sich der Film fast schon hermetisch an einen Kreis von Insidern richtet. Figuren werden nicht vorgestellt; ganze Episoden wurden gnadenlos gekürzt. Die längere Fassung allerdings, die in einigen auswählten Kinos zu sehen sein wird, dauert 333 Minuten, wurde in Cannes mit lang andauernden Standing Ovations gefeiert und lohnt buchstäblich jede Sekunde. Gerade weil Assayas und Franck ihrer ausladenden, multilingualen Geschichtsrekonstruktion einige blinde Flecken des Fiktiven und Widersprüchlichen zugestehen, verfallen sie nicht auf den Fehler von Eichinger/Edel, die bei „Der Baader Meinhof Komplex“ nie über das oberflächliche, sinnentleerte Nachstellen von Action-Szenen und Medienbildern hinausgelangten.

„Carlos – Der Schakal“ beginnt 1973 mit dem erfolgreichen Bombenattentat auf Mohamed Boudia, den Leiter der Pariser Vertretung der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP). Carlos (sensationell körperbetont gespielt von Edgar Ramirez), der sich im Sommer 1970 der PFLP angeschlossen hat und auch bereits militärische Erfahrungen sammelte, will die Nachfolge Boudias antreten und reist nach Beirut, um bei Wadi Haddad, dem Mitbegründer der PFLP vorzusprechen. In der Folgezeit entwirft der Film ein buntes Szenario mit einigen mehr oder weniger gescheiterten Anschlägen, Polizistenmorden und lateinamerikanischer Revolutionsfolklore nebst entsprechendem Jargon, den Carlos souverän beherrscht. Er träumt von einem international operierenden Netzwerk des bewaffneten Kampfes und vereinigt Kaltblütigkeit beim Morden mit dem Charme eines Jet Set-Playboys und Womanizers. Die Filmemacher holen ein paar längst vergessene Kapriolen der Militanz aus dem Fundus der Geschichte, unterfüttert, vermittelt und kommentiert mit reichlich dokumentarischem Material.

Wer erinnert sich noch an die japanische Rote Armee Fraktion? Wer kann sich heute noch vorstellen, dass man noch 1975 Panzerfaustanschläge auf eine startende „El Al“-Maschine in Orly von der Besucher-Plattform aus ausführte? Als der Anschlag misslingt und eine geparkte jugoslawische Maschine zerstört, rennt Carlos zur Telefonzelle, um immerhin die Verantwortung für den missglückten Anschlag zu übernehmen, muss allerdings seitens der Presseagentur erfahren, dass bereits militante Kroaten die Verantwortung übernommen haben. Wenn, was recht häufig passiert, ein Anschlag misslingt, gibt es immer die recht unproblematische Option Geiselnahme, Verhandlung, Absetzen per Flugzeug in den Nahen Osten. Funktioniert fast immer. Carlos‘ große Stunde schlägt im Dezember 1975 beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien, bei dem Saddam Hussein die Fäden gezogen haben soll. Dieser Überfall, der eigentlich ein spektakulär getarnter Auftragsmord gewesen sein soll, ist ein gut einstündiger Film im Film, zeigt er doch exemplarisch, wie der Strippenzieher des Terrors schnell zum Spielball widerstreitender Interessen und auch sehr flexibler Koalitionen im Nahen Osten wird.

Einerseits geriert sich Carlos wie ein Popstar in Che-Camouflage, andererseits ist er doch nur exekutierendes Organ bei von Geheimdiensten unterschiedlichster Provenienz initiierten Händeln, die noch unübersichtlicher werden, weil auch der bewaffnete Widerstand in eine Vielzahl von Interessen aufgespalten ist. Später, bei Wadi Haddad in Ungnade gefallen, wird Carlos dann vom Macho-Soldaten zum Macho-Söldner, der immer wieder neue Deckung findet: mal in Syrien, mal in Bukarest, mal in Ost-Berlin, später in Amman und Khartum. Er mutiert zum Handlungsreisenden in Sachen Terror, arbeitet mit Mitgliedern der lustvoll grotesk gezeichneten Revolutionären Zellen aus Frankfurt zusammen, investiert viel Mühe auf den Mordanschlag auf den ägyptischen Staatspräsidenten Sadat, der dann doch von jemand anderem exekutiert wird. Mit dem Ende des Kalten Krieges wird die Situation des international Gesuchten prekär; schließlich ist der Sudan die letzte Station, wo zeitgleich Osama Bin Laden eine modernere Version des international operierenden Terrorismus auf den Weg bringt. Am Ende ist Carlos allen lästig geworden und wird als Relikt einer vergangenen Epoche fallengelassen.

Wer nach dem Sehen von „Carlos“ noch immer glaubt, es habe gewissermaßen autonome Terroranschläge ohne Instrumentalisierung und Infiltration seitens der Geheimdienste gegeben, ist naiv. Das sollte auch beim gegenwärtig stattfindenden Verfahren in der Mordsache Buback zu denken geben. Zwar nur eine Randnotiz wert, aber dennoch nicht uninteressant ist Assayas‘ Zeichnung der aus der Bundesrepublik stammenden Militanten, für die er (und offenbar auch Carlos selbst) nur sehr wenig Sympathie hegt. Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die entscheidend am Schisma der Neuen Linken, an der Selektion der Juden auf dem Flugplatz von Entebbe beteiligt waren, bleiben merkwürdig unscharf gezeichnete Befehlsempfänger und Lebeleute. Hans-Joachim Klein, der beim Überfall in Wien schwer verletzt wurde, gerät als Aussteiger recht unkritisch zur moralischen Instanz des Films. Besonders schlimm sind allerdings die darstellerischen Leistungen von Julia Hummer als psychotische Killerin Gabriele Kröcher-Tiedemann, Alexander Scheers extrem manierierte Zeichnung von Johannes Weinrich als Trottel und Spießer und Nora von Waldstetten, der zu Magdalena Kopp wenig mehr als ein lasziver Blick einfällt. Auf Seiten der deutschen Fraktion gerät Assayas‘ faszinierende Rekonstruktion einer von der Geschichte hinweggefegten geopolitisch-ideologischen Landschaft, fast zur boshaften Satire, deren Elend es durchaus mit Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ aufnehmen, tja, kann oder muss.

(Die folgende Punktwertung gilt für die lange Version des Films)

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Machete

(USA 2010, Regie: Robert Rodriguez, Ethan Maniquis )

Mexploitation
von Harald Steinwender

Machete Cortez ist tough as nails, bad to the bone, kurz: a motherfucker as bad as they come. Er ist alles andere als schön, zumindest im herkömmlichen Sinn. Sein Gesicht …

Machete Cortez ist tough as nails, bad to the bone, kurz: a motherfucker as bad as they come. Er ist alles andere als schön, zumindest im herkömmlichen Sinn. Sein Gesicht ist runzelig und pockennarbig wie eine Mondlandschaft, sein Köper bullig und massiv, seine langen ungebändigten Haare ölig, im Gesicht thront ein schwarzer Walrossbart. Danny Trejo spielt diesen Machete – ein archetypischer Bad-guy-Darsteller, dessen reales Leben ihn für solche Rollen zu prädestinieren scheint: schon in jungen Jahren drogenabhängig und kleinkriminell, insgesamt elf Jahre im Knast, u.a. in San Quentin für Drogendelikte und bewaffneten Raub, bevor er als Schauspieler zu sich und weg von der Straße fand.

Trejos Machete ist eine besondere Sorte Held. Kein Ritter in weißer Rüstung wie Antonio Banderas in Robert Rodriguez’ „Desperado“ (1995), der beim Showdown in einem weißen Blitz verschwindet und nach dem Shootout daraus als Sieger wiedergeboren hervortritt. Auch keine sympathische halbe Portion wie Carlos Gallardo in Rodriguez’ Debüt „El Mariachi“ (1992), seinem besten Film neben der TV-Produktion „Bad Boys Never Die“ („Roadracers“; 1994). Machete ist eher schon ein Held wie Marv (Mickey Rourke) in „Sin City“ und näher an den düsteren Comic-Universen Frank Millers, die zwischen Pop-Faschismus („300“) oder Post-hardboiled-Noir („Sin City“) oszillieren. Hier sind tumbe Fleischberge die Antihelden, die sich in Huren mit goldenem Herzen verlieben, ihre Gegner in Stücke schießen und Pädophile mit bloßen Fäusten kastrieren.

Wie diese Helden hat der Mexikaner Machete nicht nur den Körper einer Comicfigur, sondern agiert und reagiert auch wie eine. Ganz zu Beginn macht er mit Messer und Knarren eine halbe Armee nieder, schlägt Köpfe ab, trennt Torsi in der Mitte entzwei; hackt, sticht und metzelt. Dann findet er die Damsel in Distress, wuchtet die fast gänzlich nackte, kichernde Frau über die Schulter, nur um kurz darauf in einem ruhigen Moment von ihr beinahe entmannt zu werden. Die Wunde wird im Lauf des Films nicht mehr thematisiert, ähnlich wie der angeschossene Machete später einfach durch ein rohes Ei unter seinem Krankenlager wieder gesund wird – etwas, das Regie/Drehbuch einfach ohne weitere Erläuterung so im Film stehen lassen (Santería möglicherweise?). Auch sonst legt „Machete“ ein erfrischend realitätsfernes (und oft: rüdes) Verhältnis zum menschlichen Körper und seinen Fähigkeiten an den Tag. Da schlitzt unser Held etwa einen Gegner auf, greift sich die Gedärme und verwendet sie als Rettungsleine, als er aus dem Fenster springt, um sich ein Stockwerk tiefer durch eine weitere Scheibe in das nächste Zimmer zu schwingen.

Der Plot ist gegenüber solch absurden Kabinettstückchen nebenrangig und gewollt lustlos zusammengeleimt aus den Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos. Das wiederum ist ganz konsequent, liegt mit „Machete“ doch der filmhistorisch bislang einmalige Fall eines Films vor, der einen gefakten Trailer zur Vorlage hat. Diese ungewöhnliche Genese reicht vier Jahre zurück, zu Rodriguez‘ und Quentin Tarantinos Gemeinschaftsprojekt „Grind House“ (2007). Als sich die beiden Buddies aufmachten, ihr Double bill zu inszenieren, baten sie Filmemacher, dafür falsche, absichtlich trashige Trailer beizusteuern. Diese Trailer waren dann tatsächlich das Beste an dem Doppelprogramm (und bei uns natürlich nicht im Kino zu sehen): Eli Roth lieferte den schmierigen Trailer zu dem Slasher „Thanksgiving“ ab, Rob Zombie den irrwitzigen Sadiconazista „Werewolf Women of the S.S.“ und Edgar Wright eine Lucio-Fulci-Hommage namens „Don’t“. Von Rodriguez selbst kam „Machete“, dessen Langfassung nun also vorliegt.

An der Grundidee und dem Plot des Trailers hat sich hin zum abendfüllenden Spielfilm kaum etwas geändert: ein einsamer Wolf – Alleinstellungsmerkmal: Messerkämpfer mit Präferenz für Macheten – wird von politisch rechtsgerichteten Verschwörern als Sündenbock benutzt, verliert seine Familie und muss zusammen mit seinem Bruder (Cheech Marin, die eine Hälfte des dauerbekifften Duos „Cheech und Chong“ als schrotflintenbewaffneter Priester) und mexikanischen Immigranten gegen die fiesen Ausbeuter antreten, um Rache zu nehmen. Hinzu kommen Jessica Alba als gutwillige Immigrationsbeamtin und Michelle Rodriguez als Revolutionärin, ein von Don Johnson gespielter rechtsradikaler Sheriff, Steven Seagal als sadistischer Drogenzar und Robert De Niro als irrer Präsidentschaftskandidat – gewissermaßen die Kehrseite seiner „Taxi Driver“-Rolle als verhinderter Politikerattentäter. Das Ergebnis ist so kurzweilig wie der damalige Trailer, nur eben länger. Und dass Rodriguez mit den richtigen Leuten sympathisiert – Immigranten und Deklassierten – und zumindest filmisch mit den echten Bad Guys aufräumt – den korrupten Bullen, Ausbeutern und Pushern – und in seinem Trashfilm am Ende sogar noch eine soziale Revolte unterbringt, das versöhnt doch mit einigem. Ansonsten ist „Machete“ ein 1-A-Mexploitation-Flick, inklusive Santo-Kürzestauftritt, und allem, was dazu gehört: reichlich lustvoll zelebrierte Klischees sowie Sex, Gewalt und gute Laune. Nicht mehr, nicht weniger. Mit einem Sixpack und ein paar Freunden ist das Ganze ein Höllenspaß. Alleine oder für einen Pärchenabend womöglich untragbar.

Nichts ist besser als gar nichts

(D 2010, Regie: Jan Peters)

Stricken am löchrigen Pulli
von Louis Vazquez

Mehrere Reinigungskräfte putzen gemeinsam ein ziemlich großes Objekt, doch die Kamera ist zu nah dran, um zu erkennen, was es ist. Dann fährt sie zurück, das Bild öffnet sich, und …

Mehrere Reinigungskräfte putzen gemeinsam ein ziemlich großes Objekt, doch die Kamera ist zu nah dran, um zu erkennen, was es ist. Dann fährt sie zurück, das Bild öffnet sich, und während das Objekt zu leuchten beginnt, geht auch dem Zuschauer ein Licht auf. Die ziemlich witzige erste Einstellung von „Nichts ist besser als gar nichts“ ermöglicht einen überraschenden Blick auf eine vielleicht alltägliche, aber selten wirklich wahrgenommene Tätigkeit im Außendienst des Gebäudereinigungsbetriebs. Und irgendwie verdichtet dieser schöne Einstieg sogar das, was der folgende Dokumentarfilm für den Zuschauer leistet, eine Schärfung des Blicks fürs Alltägliche.

Der Aufhänger des Films ist fiktional: Als Jan seine Freundin am Flughafen verabschiedet hat, weil sie für sechs Wochen an den Amazonas reist, stellt er fest, dass seine Geldbörse noch in ihrem Handgepäck sein muss – Bargeld, Karte, alles weg. Was ihm bleibt, sind der Schlüssel zur Wohnung der Freundin, in der zumindest etwas Essbares wartet, und die noch gültige Gruppenkarte für den öffentlichen Nahverkehr. Inspiriert von einem Punk und weil er dringend Geld braucht, bietet Jan schließlich wildfremden Menschen an, sie günstig auf seiner Fahrkarte mitreisen zu lassen. Und hier beginnt das dokumentarische Experiment über die Arbeit eines „freien Reisebegleiters“, dem sich Filmemacher Jan Peters bereits zum zweiten Mal widmet. Schon 2007 sorgte er für Aufsehen mit seinem Kurzfilm „Wie ich ein freier Reisebegleiter wurde“, in dem er das Konzept erstmals vorstellte – freilich mit anderen Zufalls-Protagonisten und noch mit einer etwas experimentelleren Bildgestaltung. Peters hatte danach allerdings den Eindruck, das Potential seiner Idee sei damit noch nicht erschöpft. Deshalb macht er sich in „Nichts ist besser als gar nichts“ erneut zum Stellvertreter der abstiegsbedrohten Mittelschicht, interviewt Zufallsbekanntschaften und begibt sich mit seinem Kameramann Marcus Winterbauer in die Welt der Kleinstunternehmer, Obdachlosenzeitungsverkäufer und Flaschensammler, auf der Suche nach dem „4. Arbeitsmarkt“, und er stößt auf ganz unterschiedliche Konzepte, mit dem Mangel und dem Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben umzugehen.

Ein Ein-Euro-Jobber etwa arbeitet an einem Projekt mit, das den Teilnehmern die Imkerei vermittelt. Begründet wurde es von einer Gruppe freier Künstler, die herausfanden, dass der grotesk geringe Betrag, der sich jährlich durch die Honigernte erwirtschaften lässt, immerhin in etwa ihren jährlichen Einnahmen durch die Kunst entspricht. Allerdings sei die Arbeit mit den Bienen ziemlich befriedigend, beziehungsweise, im Fachterminus, erzeuge eine unglaubliche „job satisfaction“. Einer von Jans ersten Kunden als freier Reisebegleiter ist prompt ein Unternehmensberater, der sich für seine Form der Existenzgründung begeistert und Verbesserungsvorschläge macht, um mehr Mitfahrer zu akquirieren und die Einträglichkeit des neuen Jobs zu maximieren. Das Angebot unter dem Motto „Sei fit, fahr mit“ wird also immer weiter optimiert: Jan verbessert die Kundenansprache, feilt an der Corporate Identity, nimmt bei ausbleibendem Erfolg verzweifelt eine Diversifizierung der Produktpalette vor – und verzettelt sich, wie die nackten Zahlen belegen. Am Ende seines Projekts steht eine äußerst unbefriedigende Rentabilitätsrechnung.

Begleitet von der neugierigen, ironisch reflektierenden Voiceover des Filmemachers führt eine Situation federleicht zur nächsten. Jan erarbeitet sich Stammgäste und dringt tiefer in deren Geschichten vor. Ohne belehrende Kommentare oder forcierte Gefühligkeit werden verschiedene Lebensentwürfe vorgestellt und Menschen, die sich ebenfalls mit der Zukunft der Arbeit beschäftigen. So etwa Susanne Wiest, die Initiatorin der Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sie fragt, ein schönes Bild nutzend, ob es nicht besser sei, einen ganz neuen Pullover zu stricken, wenn doch alle ohnehin nur mit dem Stopfen von Löchern beschäftigt seien. Der hilfsbereite Unternehmensberater Maik Wagner wiederum arbeitet im Zweitjob als Lehrer für schwer integrierbare Jugendliche. Jan besucht seine Klasse und beobachtet Maik bei der Arbeit. Es besteht kein Zweifel: Die Jugendlichen besitzen außergewöhnliche Talente. Bloß entsprechen die nicht den normierten Anforderungen der Gesellschaft.

„Nichts ist besser als gar nichts“ ist kein Film, der sein Thema, wie es immer heißt, „erschöpfend“ behandeln wollte oder könnte, aber genau das ist gut so. Und wie so oft, wenn ein Film etwas wirklich Wichtiges zu erzählen hat, ist er nur in ausgewählten Kinos zu sehen.

Kinshasa Symphony

(D 2010, Regie: Claus Wischmann, Martin Baer)

„Singen ist zweimal Beten“
von Wolfgang Nierlin

Ein Orchester, besetzt mit ausschließlich schwarzen Musikern, probt unter freiem Himmel den Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“. Während einer der Bratschisten damit beschäftigt ist, einen kaputten Scheinwerfer zu reparieren, schweift die …

Ein Orchester, besetzt mit ausschließlich schwarzen Musikern, probt unter freiem Himmel den Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“. Während einer der Bratschisten damit beschäftigt ist, einen kaputten Scheinwerfer zu reparieren, schweift die Kamera immer wieder ab, um die chaotische Geschäftigkeit der kongolesischen Metropole Kinshasa abzubilden. Der Kontrast zwischen dem ästhetischen Tun der Musiker und den mit Müll übersäten Straßen könnte kaum größer sein. Doch geht es in dem Dokumentarfilm „Kinshasa Symphony“ von Claus Wischmann und Martin Baer keinesfalls um die Darstellung einander ausschließender Welten. Vielmehr betonen die beiden Filmemacher mit ihrer Montage die Gleichzeitigkeit kultureller Phänomene und dabei vor allem das Dennoch einer musikalischen Aktivität, die in Zentralafrika vielfach Befremden auslöst und einem widrigen Alltag buchstäblich abgerungen ist.

Denn die Mitglieder des ziemlich einzigartigen, seit fünfzehn Jahren bestehenden Orchestre Symphonique Kimbanguiste sind überwiegend Amateure und Autodidakten, die tagsüber in ihren Berufen arbeiten. Müde und hungrig fehlt ihnen am Abend oftmals einfach die Konzentration, um sich auf die strapaziöse Einstudierung von Beethovens 9. Sinfonie einzulassen, auch wenn der Musik des deutschen Komponisten ein „afrikanischer Rhythmus“ bescheinigt wird. Neben der schweißtreibenden Probearbeit unter der Leitung des Dirigenten Armand Diangienda, einem Enkel des kongolesischen Religionsstifters Simon Kimbangu, dokumentieren Wischmann und Baer anhand von Einzelporträts vor allem den schwierigen Alltag der Musiker. Wie bei den Proben ist hier viel Improvisation und Durchhaltevermögen gefragt. Dabei dient die Musik auch als Vehikel, den allgegenwärtigen Nöten zu trotzen und persönliche Probleme zu vergessen.

„Singen ist zweimal Beten“, sagt einer der Musiker über diese Freude an der Musik. „Kinshasa Symphony“ erzählt gewissermaßen die entbehrungsreiche Erfolgsgeschichte dazu, kommt jedoch über die teils arrangierte, teils schwelgerische Bebilderung der Gegensätze kaum hinaus. In ausgesuchten Bildern beschwören die Regisseure immer wieder die Schönheit inmitten von Chaos und Dreck, bleiben dabei aber zu oft an der exotisch reizvollen Oberfläche haften. Das wirkt in den Wiederholungen mitunter ausgestellt, plakativ und redundant. So fehlt dem Film „Kinshasa Symphony“ über weite Strecken eine soziale, politische und auch historische Vertiefung. Was hingegen beeindruckt, sind viele Ansichten eines ungewöhnlichen musikalischen Projekts, seiner hoffungsvollen Mitwirkenden sowie die Faszination über eine fremde Mentalität; und nicht zu vergessen: ein wunderbar gejazzter Ravelscher „Bolero“.

Goethe!

(D 2010, Regie: Philipp Stölzl)

Mit „wahrer Kunst“ gegen den Schwulst der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Dichtung und Wahrheit liegen ziemlich weit auseinander in Philipp Stölzls mit Ausrufezeichen versehenem Film „Goethe!“ über den genialischen Dichter als junger Mann. Als Idee und dramaturgisches Movens einigermaßen strapaziert, produziert …

Dichtung und Wahrheit liegen ziemlich weit auseinander in Philipp Stölzls mit Ausrufezeichen versehenem Film „Goethe!“ über den genialischen Dichter als junger Mann. Als Idee und dramaturgisches Movens einigermaßen strapaziert, produziert die daraus abgeleitete künstlerische Freiheit reinsten Kintopp. Das zeigt schon der Anfang des vergnüglichen Unterhaltungsfilms, wenn der 23-jährige Studiosus und Heißsporn mit wehenden Fahnen und wenig Sachkenntnis durch das Jura-Examen rasselt. Unter seinen Straßburger Kommilitonen heißt es deshalb von ihm, er trinke viel und rede wenig. Tolldreistes, jugendliches Ungestüm und eine mit großer, provozierender Geste vorgetragene Lebendigkeit kennzeichnen die von Alexander Fehling gespielte Figur. Die virtuose, tempogeladene Inszenierung vermittelt darüber ihre Version des Sturm und Drang. Mit Leidenschaft geht es gegen die Vernunft, mit überschwänglichem Wollen gegen die verstaubten Konventionen und mit „wahrer Kunst“ gegen den Schwulst der Zeit.

Vom strengen Herrn Vater, der das „lächerliche Geschreibsel“ des hitzköpfigen Poeten für sein Scheitern verantwortlich macht, wird der aufmüpfige Sohn daraufhin ans Reichskammergericht nach Wetzlar „strafversetzt“. Stölzl benutzt den Topos vom verkannten Genie, das seine innere Berufung gegen widrige Umstände behaupten muss, um Goethes künstlerische Erweckung als paradigmatische Erzählung ins Kinobild zu setzen. Und dazu gehört in diesem Fall die unglückliche, verzehrende Liebe zu einer Frau, die einem anderen versprochen ist. Charlotte Buff (Miriam Stein) heißt die Angebetete und Seelenverwandte aus kinderreicher Familie, die mit modernem Selbstbewusstsein auftritt und letztlich die familiäre Pflicht über die Neigung des Herzens stellt. Ihr Lieblingsdrama ist Lessings „Emilia Galotti“, während Goethe ihr mit Versen aus seinem Gedicht „Willkommen und Abschied“ seine Liebe gesteht: „Ganz war mein Herz an deiner Seite/Und jeder Atemzug für dich.“

Philipp Stölzl inszeniert das Aufkeimen und kurze Blühen dieser Liebesleidenschaft vor romantischer Kulisse und versieht ihr Scheitern wiederum mit Zügen tragischer Ironie, die bis ins Komische reichen. Das schlägt sich vor allem in der Zeichnung von Goethes Gegenspieler und Vorgesetztem, dem Gerichtsrat Kestner (Moritz Bleibtreu), nieder. Man dürfe nicht zu lange Warten beim Jagen, sagt dieser und entlarvt dabei auf ebenso unfreiwillige wie ironische Weise sein eigenes, kaum selbstverdientes Liebesglück. Goethes schicksalhaftes Liebesunglück hingegen, gespiegelt am Freitod seines Kollegen Wilhelm Jerusalem (Volker Bruch), dient dem angehenden Dichter als Modell für die Kunst und insbesondere als Vorlage und Inspirationsquelle für seinen Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“.

Philipp Stölzl beansprucht für sein turbulent-schwungvolles, völlig unverkrampftes Biopic gewissermaßen jene größtmögliche künstlerische Freiheit, die er seinem Protagonisten an prominenter Stelle in den Mund legt, um das besondere Verhältnis von Leben und Kunst auf den Punkt zu bringen: „Es ist mehr als Wahrheit, es ist Dichtung.“ So wird Charlottes Liebesverzicht schließlich zum Motor für Goethes Dichterwerdung stilisiert, während der frisch gebackene Poet, eben noch inhaftiert, bei seiner Ankunft in Frankfurt zum stürmisch gefeierten Popstar mutiert.

Kleinstatthelden

(D 2009, Regie: Marc Schaumburg)

Die Liebe ein Yes-Törtchen
von Sven Jachmann

Eine der schwerwiegendsten Erfahrungen, die man im Lebensabschnitt Adoleszenz machen kann, ist sicher, dass das Leben Fallstricke und Momente bereithält, die unkontrollierbar sind. Darin steckt das Potential für ausgemachte Krisen, …

Eine der schwerwiegendsten Erfahrungen, die man im Lebensabschnitt Adoleszenz machen kann, ist sicher, dass das Leben Fallstricke und Momente bereithält, die unkontrollierbar sind. Darin steckt das Potential für ausgemachte Krisen, weil Träume und Ziele sich letztlich nur im Kompromiss oder überhaupt nicht mehr realisieren lassen. Darauf kann man reagieren: mit Ignoranz, Weltflucht, Eskapismus und Exzess, mit Süchten, Zynismus, Selbstekel oder Leugnen. Diese Modelle sind allesamt in „Kleinstatthelden“ vertreten. Aber nicht eines davon ist ausgereift genug, als dass es dem Film zu seiner penetranten Absicht, melancholisches und zugleich komödiantisches Generationenportrait der entscheidungsgeplagten Mittzwanziger zu sein, Beistand leisten könnte. Er beginnt und endet im Vollsuff. Dazwischen gibt es eine Katharsis, und deswegen wandelt sich der anfängliche Alkoholrausch schließlich in glückliche Liebestrunkenheit. Dazwischen wiederum gibt es die domestizierte Illusion des nicht gelebten Lebens zu sehen, die sich jedoch, so wird sich zeigen, ziemlich leicht unter Kontrolle bringen lässt.

Den roten Faden bildet Janosch (Jonas Baeck), ein erfolgloser Musiker Anfang 20, den es zurück in seine Heimatstadt Lüdenscheid verschlägt. Die Exposition markiert seine Sinneskrise. Als er, von der schwer und allein durchzechten Nacht nach einem, so scheint es, erfolglosen Auftritt sichtbar gezeichnet, am nächsten Morgen in seinem Bulli von der lebensfrohen Lina (Nadine Salomon), seiner vergessenen Mitfahrgelegenheit nach Lüdenscheid, geweckt wird, braucht es nur wenige Minuten, bis eine Faszination zwischen den beiden behauptet wird. Die bricht allerdings nach einem Streit während einer Autopanne jäh ab. Der Duktus ist betont heiter: Setzen sich beide von den Strapazen entnervt vor das Auto, fallen Sekunden später Stoßstange und Radkappe ab. Tritt Lina wutentbrannt die Fahrertür zu, um sich zum Trampen abzusetzen, wird sie vom Gewicht ihres Rucksacks armerudernd zu Boden gerissen. Aber die Komödie soll eine tragische sein. Nach Linas Verschwinden singt Janosch mit der Akustikgitarre „You’re in the Army now“, bis das befreundete Paar Dirk (Felix Meyer) und Tanja (Tabea Tarbiat) als Abschleppdienst eintrifft. Ein frohes Wiedersehen, Anstoßen mit Bier, Fragen, was so in den Jahren passiert ist. Janosch lügt, dass ihn der Oasis-Produzent entdeckt habe. Es folgt ungläubiges Schweigen, aber umgekehrt ist der Befund auch nicht besser. Dirk echauffiert sich über einen einstigen Kifferfreund, der nun nur noch mit der Freundin spazieren geht. Prompt folgt die unwirsch abgewiegelte Reaktion Tanjas, selbiges auch des Öfteren zu vermissen. Wir lernen, hier hadern die Charaktere mit ihren uneingestandenen Lebenslügen. Klischees werden nicht umschifft, sondern zum Programm erkoren: Das Ensemble wird u.a. ergänzt von Markus (Philipp Milbrandt), einen lethargischen Kiffer im Trainingsanzug, der pfundweise Schokolade futtert und deswegen in irrsinnigen Gesprächen seine rege Verdauung erklären muss; ebenso von Janoschs Eltern, deren Ehe bedrohlich wankt, weil sie sich füreinander, gefangen in ihrem spätbürgerlich Habitus, nicht interessieren. Beides, Eheprobleme und Bürgertum, erkennt man beispielsweise daran, dass sie sogar nach einem Familienstreit die Stühle ordentlich an den Esszimmertisch rücken. Nach dem Krach im Elternhaus trifft sich Janosch mit allen alten Freunden am Badesee. Auch Lina wird wieder darunter sein.

Dass sich der Film für die Nöte seiner Figuren nur insoweit interessiert, als er sie zu Platzhaltern des irgendwie nötigen Dramas eindampft, evoziert bereits der abstruse (im Spiel meist durch heilloses overacting gelöste) Wechsel zwischen Zote und Ängsten. Erst werden auf der Strandparty traumatische Entjungferungserfahrungen offenbart und im direkten Anschluss durch die wüste Zugabe eines Cunnilingus-Erlebnisses, bei dem eine versehentlich herausgepresste Kackwurst die zentrale Rolle spielt, desavouiert. Tragik und drastischer Humor liegen schließlich dicht beieinander, lautet wohl die brachial runtergebrochene Lehre aus der Schule Kevin Smiths. Dafür opfert Regisseur Schaumburg jede Empathie, gleichfalls auch jeden Widerspruch. Die Figuren bleiben Typen oder sidekicks, sollen aber trotzdem als Flickwerk im Panoptikum der schwierigen Identitätssuche fungieren. Einzig Janosch und Lina erhalten so etwas wie rudimentäre Konturen – nämlich dass Janosch unverschuldet bei einem Autounfall einen siebenjährigen Jungen tötete und Lina in ihr stets bei sich geführtes Notizbuch romantische Geschichten schreibt. Eine trägt sie Janosch im Kino vor, in welches die zwei nachts einbrechen. Darin ersehnt sie ein Yes-Törtchen als ultimativen Liebesbeweis.

Danach folgt der Eklat, aus dem eine Moral destilliert wird, so zuckersüß wie ein ‚Liebe ist …-Kalender‘. Alle Paare, auch die Eltern, verkrachen sich in der Nacht der Entscheidungen, werden aber, bis auf die Eltern, wieder zusammenfinden; den jungen Leuten bleibt die Chance, so zeigt es eine Parallelmontage, die Fehler der alten Generation zu umgehen. Alle eingestandenen und nicht eingestandenen existenziellen Krisen gerinnen zum Surrogat falscher, geleugneter oder vernachlässigter Liebe. Am deutlichsten bei Janosch, dem ein alter Mann mit der mahnenden Geschichte seiner seit 40 Jahren verlorenen Liebe auf einer Bahnhofsbank endlich die Augen öffnet. Beseelt rennt er mit einem Yes-Törtchen über die Lüdenscheider Straßen, während Lina verträumt in ihrem Notizbuch vermerkt: Die Liebe ist wie ein Netz, in dem sich Herzen verfangen wie Fische. Ironisch ist daran leider nichts. Jenes hohe Lied der Liebe, in der jedes Unrecht, jede Bitterkeit und alle Tragik eingeschmolzen sind, wenn sich denn bloß redlich um sie bemüht wird, verbreitet hier seine falschen Strophen und strickt noch aus dem Scheitern an der eigenen Existenz ein Gewebe des Begehrens, weil es das Scheitern lediglich als selbstverschuldet verstanden wissen will. Alles andere würde sich bei einem Film, der nach den Mechanismen der entleerten Liebe sucht, nur in viel zu komplizierte, ziemlich harmoniefreie Widersprüche verzetteln. Besser, es bleibt eine Frage der richtigen Einstellung.

Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte

(F / USA 2009, Regie: Joann Sfar)

Treibgut der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Gerahmt wird der Film „Gainsbourg“ von zwei bekenntnishaften Leitsätzen seines Regisseurs Joann Sfar, der in Frankreich ein bekannter Comic-Autor ist. „Gainsbourg übertrifft die Realität. Seine Lügen sind mir wichtiger als …

Gerahmt wird der Film „Gainsbourg“ von zwei bekenntnishaften Leitsätzen seines Regisseurs Joann Sfar, der in Frankreich ein bekannter Comic-Autor ist. „Gainsbourg übertrifft die Realität. Seine Lügen sind mir wichtiger als seine Wahrheiten“, heißt es zu Beginn des Abspanns, was wie eine nachgeschobene Rechtfertigung des ästhetischen Verfahrens anmutet. Doch schon am Anfang des Films erklärt Sfar, im Folgenden „eine Geschichte“ (un conte) zu erzählen, also vielleicht sogar ein Märchen. Und wie zur Bekräftigung seines filmischen Konzepts lässt er gleich im gezeichneten Vorspann seinen Titelhelden mit rauchenden Fischen durchs Meer tauchen, nur um ihn später im Pariser Nachtleben wieder auftauchen zu lassen. Bald darauf gesellt sich ein animiertes Über-Ich an seine Seite, das als „Große Fresse“ apostrophiert wird und ihn in schwierigen Entscheidungen antreibt. Joann Sfars sehr subjektives Biopic über den berühmten Chansonnier und Bohemien entfaltet sich zwischen Phantasie und Wirklichkeit, in überladenen Dekors und im künstlichen Spiel mit Zitaten.

Das bewirkt eine gewisse Distanz und Abstraktion, die in Spannung gesetzt ist zu Serge Gainsbourgs amouröser Biographie. Diese spannt einen Bilderbogen der Liebe, auf dessen Seiten so prominente Künstlerinnen wie Juliette Gréco, Brigitte Bardot und Jane Birkin auftreten, die den sensiblen Charmeur, der die Malerei zugunsten der Musik aufgibt, zur Kunst verführen. Als Musen inspirieren sie seine Lieder, als Liebhaberinnen stillen sie seine übergroße Liebesbedürftigkeit. Diese zieht sich leitmotivisch durch den Film und grundiert bereits Lucien Ginsburgs jüdische Kindheit in Paris während der deutschen Okkupation. Verstärkt wird seine Verletzlichkeit durch sein Aussehen und durch häuslichen Ärger, den er jedoch mit offenem Widerstand gegenüber dem Vater pariert. Selbstbewusst und mit einem Anflug von Genialität reift der kettenrauchende, zudem trinkende Gainsbourg zum kalkulierten Provokateur, zum großen Frauenverführer und schließlich zur tragischen Figur.

Deren wiederholte Fluchten vor sich selbst und vor der ersehnten Liebe führen immer wieder zu selbstzerstörerischen Abstürzen, die letztlich ungreifbar bleiben. So erscheint Gainsbourg als eine Art Treibgut der Liebe, das ohne Richtung und Ziel an unmarkierten Stellen strandet. „Das Leben ist ein Zufall, der den Bestimmungen zuwider läuft“, sagt der Sänger-Poet einmal im Film. Joann Sfar hat diese Maxime seiner ersten Regie-Arbeit anverwandelt.

Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt

(USA 2010, Regie: Edgar Wright)

Wow, wow und wow!
von Ulrich Kriest

Übrigens, Jason Schwartzman, dessen sanfte Melancholie in „Darjeeling Unlimited“ in Erinnerung blieb, dessen lässige Stimme „Der fantastische Mr. Fox“ bereicherte, hat eine Band mit dem originellen Namen Coconut Records. Wobei, …

Übrigens, Jason Schwartzman, dessen sanfte Melancholie in „Darjeeling Unlimited“ in Erinnerung blieb, dessen lässige Stimme „Der fantastische Mr. Fox“ bereicherte, hat eine Band mit dem originellen Namen Coconut Records. Wobei, Band ist vielleicht übertrieben, denn Coconut Records ist ein echtes Soloprojekt. Zwei Alben und eine Handvoll weitere Songs haben Coconut Records bislang eingespielt, darunter ein paar echte Perlen wie „West Coast“. Warum ich das erzähle? Weil Jason Schwartzman in „Scott Pilgrim gegen die Welt“ gewissermaßen den Gipfel der Opulenz darstellt: als Gideon Graves aka G-Man fungiert er als Zielgrade, als Level 7 eines Karneval der Liebe. Und dass die Produzenten von „Scott Pilgrim“ hierfür Jason Schwartzman besetzen, zeugt von einer Kennerschaft in Sachen Pop, die den gesamten Film auszeichnet und weit über die Masse des üblichen Entertainment erhebt.

Tatsächlich ist dieser Film, basierend auf der originellen Comic-Vorlage von Bryan Lee O’Malley, der Pop-Film des Jahres! Es ist der Film, der Christopher Nolans Angeber-Film „Inception“ tatsächlich schon jetzt ziemlich alt aussehen lässt. „Scott Pilgrim“ weiß einen Kult-Comic über Pop-Musik, Computerspiele, Nerd-Kultur und große Liebe derart in Laufbilder zu übersetzen, dass man für fast zwei Stunden hingerissen glaubt, das Kino habe wenn schon keine Zukunft so doch zumindest eine Gegenwart im emphatischen Sinne, nämlich als Kunstform, die unterschiedlichste Medien-Realitäten souverän zu synthetisieren versteht. Suchte man verzweifelt ein Haar in der Suppe, wäre dies allein die Tatsache, dass Ramona Flowers vielleicht ein, zwei teuflische Ex-Lover zu viel hat. Doch dazu später! Filmemacher Edgar Wright, dem wir dies Feuerwerk an Ideen zu verdanken haben, fiel bislang durch Genre-Parodien wie „Shaun of the Dead“ und „Hot Fuzz“ auf. Hier allerdings wird nicht länger parodiert, sondern auf Augenhöhe schwungvoll und ideenreich mit der Comic-Vorlage gearbeitet – und zwar durchaus auch im bewussten Rückgriff auf die Pop-Heroen Frank Tashlin und Richard Lester.

Worum geht es? Scott Pilgrim, gespielt von Michael Cera („Superbad“, „Juno“) ist ein Slacker mit Anorak und hübscher Slacker-Frisur. Er hat keinen Job, ist Bassist der wenig erfolgreichen Indie-Band mit dem schön daher gestotterten Namen Sex Bob-omb, hat mit Knives Chau recht uncool eine viel zu junge Freundin, die aber sowohl Sex Bob-omb als auch deren Bassisten für das Coolste der Welt hält. Scott hat aktuell nicht einmal eine eigene Wohnung, geschweige denn ein eigenes Bett, weshalb er im Wortsinne unter die Decke seines besten schwulen Freundes Wallace Wells schlüpfen muss. Der ist nicht nur ein Ironiker vor dem Herrn, sondern zudem ein Genie darin, Scotts Schwester Stacy über dessen Leben in Echtzeit zu informieren. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Sex Bob-omb nehmen an einem Band-Wettbewerb teil, dessen Sieger eine Begegnung mit dem Superproduzenten G-Man winkt. Gleichzeitig träumt Scott von einem Mädchen mit eigenwilliger Frisur und lernt auf einer Party Ramona Flowers (zum Verlieben: Mary Elisabeth Wiinstead) kennen, die das Mädchen seiner Träume ist. Wenn Scott Ramona »haben« will, muss es der Schlaks mit ihren sieben teuflischen Ex-Lovern aufnehmen. In der Herzensnot verwandelt sich der Nerd in einen Martial Arts-Actionhelden. Jeder Ex-Lover ist ein neues Spiel, ein neues Level auf dem Weg zu Ramonas Herz. Tatsächlich handelt es sich bei „Scott Pilgrim“ um eine romantische Komödie, allerdings konsequent erzählt aus der Perspektive eines Helden, der mit Comics, Pop-Musik, Fernsehen und Computerspielen sozialisiert wurde und erzählt für Zuschauer, die dies mit dem Helden teilen. Am Set, so steht zu lesen, kursierte das Wort von „Hughes Fu“, um den Stilwillen des Films auf den Punkt zu bringen: Man kombiniere die Coming of Age-Klassiker eines John Hughes („Ferris macht blau“) mit den Kampfszenen aus „Kung-Fu“. Das trifft es aber nur partiell, weil die Figuren, abgesehen von Knives Chau, älter sind als das übliche Hughes-Personal. Vielleicht sollte man hier an Joachim Triers „Auf Anfang: Reprise“ erinnern? Symbolisches wird hier wortwörtlich visualisiert. Gleitet Ramona durch die Straßen, schmilzt der Schnee unter ihrem Board. Herzen fliegen durch die Luft. Computerspiel-Historie von Pacman bis Super Mario gibt es gratis dazu – aufpassen! Das fängt schon extrem früh im Film an!

Die Idee, dass man sich als Frischverliebter mit ihren Erinnerungen an ihre Ex-Lover messen lassen muss, ist gar nicht so verquer. Und die Erzählhaltung, so Edgar Wright, soll dem Auftrumpfen und Übertreiben der Altersgruppe entsprechen. Leuchtet ein. So verwandeln sich Action-Sequenzen unvermittelt in Musical-Szenen mit eingeblendeten Lachern wie bei einer Sitcom. Geräusche schwirren als Worte durch das Filmbild, das gerne in mehrere Split-Screens aufgeteilt wird. Das Tempo stimmt, die Dialoge sind vorzüglich gearbeitet – und die Filmmusik trumpft sehr geschmackvoll und insiderhaft mit einem Mix von Dan the Automator über Broken Social Scene und The Flying Burrito Brothers bis hin zu T. Rex („Whatever happened to the Teenage Dream“) und Holy Fuck auf. So haben wir es hier mit dem schönsten und frischesten Pop-Liebesfilm seit „Vergiss mein nicht“ von Michel Gondry zu tun. Und der ist immerhin auch schon wieder sechs Jahre alt.

Ondine – Das Mädchen aus dem Meer

(IRL 2009, Regie: Neil Jordan)

Once Upon a Time in Contemporary Ireland …
von Harald Steinwender

Es war einmal ein Fischersmann, der fuhr jeden Tag aufs Meer hinaus. Er war ein stiller, einsamer Mann, der sich allein und auf See am wohlsten fühlte. Als er eines …

Es war einmal ein Fischersmann, der fuhr jeden Tag aufs Meer hinaus. Er war ein stiller, einsamer Mann, der sich allein und auf See am wohlsten fühlte. Als er eines Tages sein Netz einholte, da fand er dort statt einem Fisch eine junge, bildschöne Frau. Sein Fang hatte keinen Namen und keine Erinnerung an sein früheres Leben und so wählten sie gemeinsam den Namen Ondine. Und da die Frau, die aus dem Meer kam, scheu war, scheuer noch als der Fischersmann, und andere Menschen fürchtete, blieb sie bei dem Fischer, der schnell Gefallen an ihr fand. Bald nahm er die Frau aus dem Meer mit auf See und wenn sie für ihn in ihrer fremden Sprache sang, dann blieben seine Netze nicht mehr leer, sondern waren mit Hummer und Lachsen gefüllt. Bald wollte der Fischersmann seine neue Begleiterin nicht mehr missen und auch seine Tochter, die an einer schrecklichen Krankheit litt, gewann die Frau aus dem Meer lieb. Doch die Frau aus dem Meer war keine Meerjungfrau, sondern eine ganz normale Frau mit einer nicht ganz normalen Vergangenheit. Und so kam es, dass eines Tages ein Mann ganz in Schwarz aus einem fernen Land tief im Osten Europas in das kleine Fischerdorf kam, um die Frau aus dem Meer zu suchen. Und nun musste unser Fischer all seinen Mut zusammennehmen, um die Dämonen der Vergangenheit zu besiegen, seine Tochter zu heilen und seine neue Familie zu beschützen. Und als der Fischer und seine neue Frau handelten, da besudelten sie ihre Hände mit Blut. Denn mit jeder guten Fügung kam auch ein Schicksalsschlag über sie.

Neil Jordan ist kein Regisseur der eindeutigen Genrezuordungen. Schon „Angel“ („Straße der Angst“), sein Regiedebüt von 1982, war eine wüste Mischung aus Thriller, Melodram und Selbstjustizfilm. „The Company of Wolves“ („Die Zeit der Wölfe“), Jordans zwei Jahre darauf entstandenes Meisterwerk, bündelte eine Auswahl der feministischen Märchenerzählungen der britischen Schriftstellerin Angela Carter, kreuzte sie mit dem Horrorfilm und rahmte alles durch den erotisierten Fiebertraum eines pubertierenden Mädchens. Auch „The Crying Game“ (1992), Jordans größter kommerzieller Erfolg neben „Interview with the Vampire“ (1994) changierte zwischen Politthriller, Liebesfilm und Melodram, nicht ohne einen Gendertwist in der Mitte des Films unterzubringen, der vielen Zuschauern den Boden unter den Füßen wegzog.

Auch mit seinem neuesten Werk, dem 16. Spielfilm in 28 höchst produktiven Jahren, verweigert sich Jordan jeder Eingrenzung durch Genreregeln. Der komplett in Irland, u.a. auf Bere Island an der Westküste des County Cork gedrehte Film beginnt als märchenhafter Liebesfilm mit mythologischen Bezügen – von Meerjungfrauen, Nixen, Nymphen und Selkies bis zu Monstren aus Rumänien reicht die Motivkette. Auch die Namen der Protagonisten sind „sprechende Namen“: Ondine (Alicja Bachleda-Curuś) erweist sich als eine (heilige?) Johanna, unser Fischer Syracuse (Colin Farrell) firmiert im Dorf als „Circus, the Clown“. Und nach der halben Laufzeit wechselt Jordan schleichend die Tonlage, hin zum Thriller, um dann unerwartet mit einer märchenhaften Volte zu schließen.

Christopher Doyle, der höchst begabte Kameramann von Wong Kar-wei, taucht den Film in kalte Grün- und Blautöne, benetzt mit fahlblauem Licht Nebel und Dunst, ganz so, als ob die Geschichte der falschen Ondine und ihres Fischersmann sich unter Wasser abspielt. Auch Colin Farrell gibt sich redlich Mühe, den traurigen Syracuse glaubhaft zu verkörpern – mit Schlabberklamotten, Dreitagebart, langen, fettigen Haaren und reichlich Mut zur Verwahrlosung. Aber es sind die nur wenig bekannten weiblichen Darstellerinnen, die diesen Film tragen: Die 11-jährige Debütantin Alison Barry als Syracuses an den Rollstuhl gefesselte Tochter, und insbesondere die mit Farrell seit 2009 verheiratete polnische Schauspielerin Alicja Bachleda-Curuś, die mit Anmut und Natürlichkeit überzeugt. Stephen Rea, Jordans Stammschauspieler seit seinem ersten Film, ist ebenfalls bezaubernd als gequälter Dorfpriester, der mangels Alternativen als Publikum für Syracuses wöchentliche Anonyme-Alkoholiker-Treffen herhalten muss, dessen spiritueller Rat jedoch nie gefragt ist.

Woran liegt es dann, dass „Ondine“ letztlich doch ein wenig enttäuscht? Vielleicht daran, dass Jordan sich zu sehr bemüht, einen auch für eine breites Publikum kompatiblen Film zu inszenieren, indem er die durchaus vorhandenen Ecken und Kanten des Stoffs abschmirgelt. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ein schlechter Film ist „Ondine“ gewiss nicht, eigentlich sogar ein ziemlich guter. Aber gemessen an Jordans besten Filmen – „The Company of Wolves“, „The Crying Game“, „The End of the Affair“ („Das Ende einer Affäre“; 1999) – ist er doch nur gutes Mittelmaß. Was doppelt schade ist, da der Writer/Director/Producer Jordan nach dem unsäglich reaktionären „The Brave One“ („Die Fremde in Dir“; 2007) endlich wieder bei einer Produktion alle Fäden selbst in der Hand hielt. Aber zum Herbstanfang ist „Ondine“ gewiss ein Film, der sich bestens für einen verregneten Kinoabend eignet.

Guru – Bhagwan, his secretary & his bodyguard

(CH 2010, Regie: Sabine Gisiger, Beat Häner)

Schatten im Paradies des freien, wilden Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Faszination und einstige Bewunderung der beiden Schüler für ihren früheren Lehrer Bhagwan Shree Rajneesh ist noch immer spürbar. Der Schotte Hugh Milne und die Inderin Sheela Birnstiel folgen Anfang …

Die Faszination und einstige Bewunderung der beiden Schüler für ihren früheren Lehrer Bhagwan Shree Rajneesh ist noch immer spürbar. Der Schotte Hugh Milne und die Inderin Sheela Birnstiel folgen Anfang der 1970er Jahre dem Ruf und der Verführungskraft des „Göttlichen“ in seinen Ashram nach Poona, wo sich ab 1974 die berühmte Bhagwan-Kommune entwickelt. Während Milne in dem charismatischen Guru und Philosophieprofessor einen spirituellen Ersatzvater findet, ist die 21-jährige Sheela von einer tiefen Liebe zu dem legendären Meister erfüllt, dessen Ausstrahlung und Menschenkenntnis überwältigend gewesen sein müssen. Mit seiner Abwehr des Materialismus und seiner Betonung des inneren, spirituellen Lebens habe er der Welt ein Beispiel gegeben, sagt Sheela und beschreibt die Kommune als ein Paradies des freien, wilden Lebens. Sie sei zur richtigen Zeit und mit den richtigen Menschen am richtigen Ort gewesen. Und Hugh Milne spricht gar von einem „ekstatischen Gefühl des Heimkommens“.

In Sabine Gisigers und Beat Häners beeindruckendem Dokumentarfilm „Guru – Bhagwan, his secretary & his bodyguard“, der sein exklusives Material konzentriert und genau präsentiert, sind die beiden ehemaligen Bhagwan-Jünger Kronzeugen der religiösen Bewegung. Während Milne bald zum Leibwächter des Sektenführers wird, avanciert Birnstiel allmählich zu dessen persönlicher Sekretärin. Quasi im Zentrum der Macht werden sie Zeugen vom Aufblühen und Scheitern einer Utopie. Auf der Suche nach ihrer wahren Identität erleben sie zunächst die beglückende, bewusstseinserweiternde Erfahrung einer befreiten Sexualität und die Liebe zu einem geheiligten Leben. Doch nach der Übersiedlung und Neugründung der Kommune auf der „Big Muddy Ranch“ im US-Bundesstaat Oregon, wo Anfang der achtziger Jahre das Neo-Sannyasin-Zentrum Rajneeshpuram entsteht, erfahren sie zugleich die allmähliche Pervertierung ihrer Ideale in einem System, das zunehmend totalitäre Züge annimmt und schließlich auseinander bricht.

Geschickt verschränken die beiden Schweizer Dokumentaristen in ihrem Film die Aussagen und Perspektiven der titelgebenden Interviewpartner mit seltenen historischen Filmaufnahmen. Im Spiegel ihrer persönlichen Lebensberichte entsteht so zugleich das Porträt einer spirituellen Bewegung und ihres Meisters. Dabei wird zum einen der experimentierfreudige Erfahrungshunger einer Generation spürbar, die sich tantrischem Sex und kollektiven Ekstasen hingab; zum anderen untersuchen Gisiger und Häner aber auch die Gründe für das Scheitern einer utopischen Lebensgemeinschaft, die in einer Art gruppendynamischem Prozess fast zwangsläufig hierarchische Strukturen ausbildete und schließlich an inneren Machtkämpfen zugrunde ging.

Swastika

(GB 1973, Regie: Philippe Mora)

Kein Knopp zum Abschalten
von Andreas Thomas

Adolf Hitler hätte diesen Film gemocht, wenigstens zu 98 Prozent. Denn in 98 Prozent des Films spielt er die unbestrittene Hauptrolle. Die „Swastika“ (Sanskrit: „Das Heilbringende“), das titelgebende Hakenkreuz, aber …

Adolf Hitler hätte diesen Film gemocht, wenigstens zu 98 Prozent. Denn in 98 Prozent des Films spielt er die unbestrittene Hauptrolle. Die „Swastika“ (Sanskrit: „Das Heilbringende“), das titelgebende Hakenkreuz, aber ist noch häufiger zu sehen als er. Zuerst als Schlüssel zur wahren deutschen Heimat: Tanzend, kreiselnd, schwankend, grünlich schimmernd fliegt es heran, mit Wagnerklängen, durch einen Spielzeugsternenhimmel und wir fliegen durch es hindurch, hinab in die schöne Welt des 1000jährigen Reiches, was des Heiles voll ist und keine Not mehr kennt, seit ein Freund und Führer sich seiner angenommen hat.

Welch Paradies eines einigen deutschen Vaterlandes es doch gab, ein Miteinander ordentlicher, tüchtiger, gesunder Deutscher unter dem allgegenwärtigen Hakenkreuz, ganz gleich, ob es Arbeiter oder Landmänner, Schmiede oder Dichter oder Bildhauer oder Denker oder Soldaten oder Mädels oder Mütter waren, alle lebten in Eintracht, der Film mit Originalaufnahmen belegt es, in Eintracht miteinander in den schönen historischen und den quirligen großen Städten auf dem Weg in eine neue Zeit, so wie auch auf dem fruchtbaren und schönen Land, beseelt von nur einem Wunsch: Deutschland mit Fleiß und Disziplin zu dienen, was hieß, dem einzigen zu dienen, der Deutschland aus dem Sumpf heraus geholt hat.

Ein glückliches Deutschland zeigt der Film „Swastika“, ein Deutschland, dessen Welt heil ist, ein Land, in dem jeder seinen Platz und seine Bestimmung hat, ein Land, das, wenn es sich seiner Tugenden besinnt, es zu Größe und Wohlstand bringen kann. Das Glückszentrum des Landes ist – Beethovens Neunte, dirigiert von Furtwängler, bebildert mit Szenen erregter Menschenmassen belegt es – der Eine, der je näher er kommt, immer wogendere Stürme von Begeisterung entfacht. Die steif gereckten Arme fängt er auf, angewinkelten Arms, ein Orgasmusspender für Zehntausende, in seinem Gesicht das reine, gerührte Strahlen eines Kindes!

Der Skandal, den der Film „Swastika“ 1973 bei den Filmfestspielen in Cannes auslöste und der den Abbruch der Vorführung zur Folge hatte, rührte, so wurde später gemutmaßt, vor allem von den erst kurz davor entdeckten privat gedrehten, stummen Farbfilmaufnahmen auf dem Obersalzberg her, in denen man Hitler mit Eva Braun sowie hochrangigen Politikern und ihren Frauen und Kindern beim Kaffeetrinken und Plaudern auf der Terrasse mit Alpenpanorama nebst den Hunden Stasi und Blondie begutachten konnte und die nachträglich mit Hilfe von Lippenlesern synchronisiert worden waren. Szenen mit einem eher profanen, ungelenken Hitler, die vom Mythos eines bösen, dämonischen Führers nicht mehr viel übrig lassen.

Der Skandal von „Swastika“ aber liegt eher in der Tatsache, dass zwischen den, durch die Regisseure Philippe Mora und Lutz Becker kreativ verdichteten und überhöhten, Propagandafilmen mit ihrem inszeniert charismatischen Hitler (denn aus Wochenschauen und Nazipropaganda-Filmen ist der überwiegende Teil des Films zusammengesetzt) und dem kleinbürgerlichen Idyll des „Führers daheim“ kein wirklicher Bruch markiert ist, sondern dass der Film (ganz im Geiste seiner Vor-Bilder) die Geschichte des Dritten Reiches mit der Privatfigur Hitler „gleichschaltet“; und das auf eine denkbar naive Weise. Scheint am Obersalzberg die Sonne, paradiert die Große Deutsche Kunstausstellung mit ihrem Kitsch und Pomp durch die Straßen Münchens, ziehen Gewitterwolken über den Bergen auf, muss es leider Krieg geben … Das Dritte Reich als Schicksal des Führers, der Führer als Schicksal Deutschlands.

Eine Zumutung ist der Film vermutlich erst deshalb, weil er den Geist der Nazi-Propaganda affirmativ fortschreibt und in seinem Rausch und Fanatismus auf die Spitze führt, nicht nur ohne jeden kritischen und distanzierenden Kommentar, sondern, im Gegenteil, mit allen Mitteln der dramatischen Steigerung durch Bild- und Toncollagen. „Swastika“ lässt uns ganz allein mit Hitler und seiner Ideologie. Mehr noch, er benutzt die mediale Erfahrung und das filmtechnische Instrumentarium der Nachkriegsjahre, um das Ganze zu verstärken. Kein Guido Knopp erklärt uns, wie die Bilder lügen. 93 Minuten lang müssen wir uns dem „Faszinosum“ des deutschen Faschismus entgegen stemmen. (Allein der Gebrauch dieses Worts in Bezug auf das „3. Reich“ hat mal einem Bundestagspräsidenten den Job gekostet.) Das strengt an, wenn man nicht spüren will, dass auch man selbst hätte empfänglich dafür sein können.

Das Verfahren der Aneignung und der Aufblähung dieses reinen Nazidrecks, der aus dem kitschigen Klischee der Idylle von Heimat und Volk heraus (unentnazifiziert weiter geführt in den Heimatfilmen der 50er Jahre) die Mobilmachung (zunächst gegen die Juden im Land mit ihren „parasitären Absichten“, daraus folgend: Kristallnacht etc., dann gegen den Rest der Welt, von wo aus sie gegen „uns“ vorgehen) folgert, dieses Verfahren der naiven Verstärkung der Original-Ästhetik ist vielleicht das tauglichste, wenn es darum geht, die innere Logik ihrer Manipulation zu begreifen und zu untersuchen, nicht nur welchem Druck sondern auch welchem Sog die Deutschen der dreißiger und vierziger Jahre ausgesetzt waren.

Die Verführungskunst der Nazipropaganda erscheint uns als unheimlich, vielleicht ausgerechnet deshalb, weil wir sie zu wenig kennen, weil eine offene, unzensierte Auseinandersetzung mit ihr bis heute erschwert wird: Z.B. darf der Film „Jud Süss“ nur in Ausnahmefällen und unter bestimmten Auflagen aufgeführt werden, gerade so, als sei die darin transportierte Ideologie immer noch zu stark und verführerisch für den demokratisch sozialisierten Nachkriegsmenschen.

Ein Film wie „Swastika“, der (sicherlich aus ähnlichen Gründen wie „Jud Süss“) 37 Jahre lang geächtet und ignoriert wurde, kann als ähnlich wertvoll eingeschätzt werden wie Claude Lanzmanns „Shoah“, denn wo letzterer (der Film wird übrigens auch oft genug selbst von Juden gemieden, da er selbst geschaffene, idealisierende Mythen untergräbt) das Berichten über die Judenvernichtung der ungefilterten Zeugenschaft weniger überlebender Opfer überlässt, überlässt „Swastika“-Regisseur Philippe Mora uns ohne Anleitung das potenzierte Gedanken- und Gefühlsfutter der Verbrecher für das Volk der „willigen Vollstrecker“. Mit beiden Filmen müssen wir alleine umgehen, sie gehören zu wenigen zu dieser Thematik, die sich bewusst an mündige Menschen richten.

The Road

(USA 2009, Regie: John Hillcoat)

Die Moral des Ausnahmezustands
von Sven Jachmann

Im Kino kommen die Bilder der Postapokalypse (und es gab sie in den letzten Jahren in mannigfaltigen Formen zu sehen) fast nie ohne einen Restfunken humanistischer oder reaktionärer Hoffnung aus: …

Im Kino kommen die Bilder der Postapokalypse (und es gab sie in den letzten Jahren in mannigfaltigen Formen zu sehen) fast nie ohne einen Restfunken humanistischer oder reaktionärer Hoffnung aus: auf Zivilisationen, die sich irgendwo neu formieren, auf lebenswerte Orte, die sich hinter dem Schutt verbergen, auf die Heilkraft der Wissenschaften, die vom gegenwärtigen Elend Erlösung versprechen oder auf neu justierte Kultur, die wenigstens mit Anstand durch die Trümmer leitet (und in jüngeren Produktionen, nicht nur bei Roland Emmerich, so unverfroren religiös daherkommt, dass man meint, sie benötigten den ganzen Zerstörungsapparat nur deshalb, um dem Christentum einen zweiten, hoffentlich erfolgreicheren Run zu wünschen).

Kurz gesagt: Ohne die Aussicht auf irgendeinen Sinn, der das Überleben legitimiert, scheint jeder Schritt durch die zivilisatorische Wüste hinfällig. Das ist in John Hillcoats kongenialer Verfilmung des gleichnamigen, Pulitzerpreis-geadelten Romans von Cormac McCarthy (dessen Prosa zuletzt dank der Coen Brüder in „No Country for Old Men‘ eine bemerkenswerte Filmumsetzung erhielt) ein wenig anders. Hier ist das Überleben bereits das verlängerte Sterben, wenn der Vater (Viggo Mortensen) mit seinem Sohn Nordamerika Richtung Süden durchquert und ihm angesichts der weltweiten, farblosen Ödnis, die weder Pflanzen noch Tiere beherbergt, auch nicht so recht erklären kann, weswegen das Dasein noch lohnt. Vor zehn Jahren ereignete sich eine globale Katastrophe, der Sohn (Kodi Smit-McPhee) kam erst nach ihr zur Welt. Die Mutter (Charlize Theron) entschied sich nach der Geburt für den Suizid, zeigt eine Rückblende. Es gab keinen überraschenden Fund, regungslos wurde von ihr die Selbstmordabsicht kommuniziert, bevor sie sich in den Wald zum Sterben begab. Auch das Flehen des Mannes wenigstens noch einen Tag zu warten, hielt sie nicht ab.

Die Frage nach der Sozietät, dem moralisch integren Verhalten in einer Welt, in der die wenigen marodierenden Menschen aus Verzweiflung zu Kannibalen werden, wird schnell zum jede Sequenz implizit mitbestimmenden Leitmotiv. Bereits nach zehn Minuten muss der Vater seinem Sohn lakonisch erklären, dass die aufgeknüpften Toten in einer Scheune ganz sicher nicht ermordet wurden. Die anschließenden Gespräche über den Sinn und Unsinn des Überlebens gleichen einem paradoxen Generationenkonflikt: Der Vater verzweifelt ob seiner Erinnerungen an die präapokalyptische Zeit und gleicht sein Handeln den Bedingungen des Elends an; der Sohn besitzt keine Erinnerungen, kann aber das mordende Treiben der „bösen Menschen“ nicht verstehen, zumal die good guys nur wenige Schritte von den bad guys trennen. Survival of the fittest bedeutet hier nicht, heroisch und moralisch zugleich mit der edleren Grobschlächtigkeit den zivilisatorischen Kollaps zu überstehen, sondern beständig die Frage zu verhandeln, wie ein Leben ohne Humanität überhaupt funktionieren soll. Wenn der Vater vor- und fürsorglich seinem Sohn erklärt, wie ihre Pistole, die nur noch zwei Patronen fasst, benutzt wird, dann dient diese Instruktion nicht der Selbstverteidigung. Was die postapokalyptische Welt bereit hält, ist ein buchstäbliches Vegetieren unter dem Diktat der toten Erde. Der Boden spuckt Feuer, immer wieder entwurzeln sich abgestorbene Bäume, der graue Himmel lässt nur ein dumpfes Licht auf die von Ascheflocken und verrosteten Autowracks übersäten Straßen. Dazwischen vollzieht sich auf unspektakuläre und verstörend tumbe Weise die Reise durch ein ergrautes Land. Die Dramaturgie ist geknüpft an das Fortbewegen: Was die Zwei in den Süden zieht, wissen sie selber nicht, und die Konfrontationen mit feindlichen Menschen sind bedrückend, aber aus erzählerischer und quantitativer Sicht eher Randerscheinungen. Im Nichts geschieht nicht viel. Die Bilder erzählen nichts von der Kontemplation des Untergangs, jedoch alles von der Errettung der Moral in einer auch sozial ausgelöschten Welt. Selten zuvor kam Nihilismus in einem Film pietätvoller daher.

Diese Kritik erschien gekürzt zuerst in: Konkret 10/2010

Miral

(F / ISR / IT / IND 2010, Regie: Julian Schnabel)

… bis die Zionisten kamen
von Janis El-Bira

Am Anfang von Julian Schnabels „Miral“ steht das Idyll: In einem Palästina, von dem der Zuschauer glauben soll, dass es noch nicht identisch ist mit der Topographie des „Nahostkonflikts“, feiern …

Am Anfang von Julian Schnabels „Miral“ steht das Idyll: In einem Palästina, von dem der Zuschauer glauben soll, dass es noch nicht identisch ist mit der Topographie des „Nahostkonflikts“, feiern Christen, Juden und Muslime ein Weihnachtsfest, das alles kulturell-religiös Trennende verwischen möchte. Um den Weihnachtsbaum tanzt man ausgelassen zu arabischer Musik und die Hausherrin, dargestellt von Vanessa Redgrave als Repräsentantin eines kosmopolitisch-postideologischen Großbürgertums am Rande seines Verschwindens, begrüßt ihre Freunde aller Herkunft und Religion.

Doch dann lässt Schnabel die Zionisten über die vermeintlich paradiesischen Zustände herfallen: Archivbilder von der Gründungserklärung Israels werden gezeigt, Schiffe legen in Palästina an, Menschen strömen von Bord, die Stimme David Ben Gurions schallt im Hintergrund. Das Schwarzweiß des Einspielers will Authentizität suggerieren und stellt sich gleichzeitig in den schärfstmöglichen Kontrast zur rosig-sonnendurchfluteten Ästhetik der heiteren Einleitung. Es sagt: Hier kommen die Zionisten aus dem Grau-in-Grau der Realgeschichte und vor ihnen flieht alles Licht der Utopie. Oder: Der Spielfilm flieht die Archivbilder und schuld an allem sind die Zionisten.

Mag die gedankliche Schlichtheit dieser Einleitung auch noch so peinlich, ihre Form auch noch so billig sein, Schnabels anschließender Versuch, seinen Spielfilm quasi „zurückschlagen“ zu lassen, übertrifft sie regelrecht: Basierend auf einem Roman Rula Jebreals, der Lebensgefährtin des Regisseurs, nimmt „Miral“ die Perspektiven vierer palästinensischer Frauen ein, die sich auf unterschiedliche (und unterschiedlich aggressive) Art gegen die Unterdrückung stemmen, mit der wie eine Heilige porträtierten Kinderheimleiterin Hind Husseini und der Terroristin Fatima als vielleicht extremste Pole. Irgendwo dazwischen stehen Nadia, die als junges Mädchen vor der häuslichen Gewalt flieht, und schließlich die Titelheldin, Miral, Nadias Tochter: Nach dem Tod ihrer Mutter gibt ihr tiefreligiöser Vater sie in das Kinderheim Husseinis, wo sie eine umfassende Schulbildung erhält, welche sie anschließend als Lehrerin auf dem Höhepunkt der Ersten Intifada in die Krisengebiete bringen wird. Hier erlebt sie das brutale Durchgreifen der israelischen Streitkräfte und verliebt sich – natürlich – auf verhängnisvolle Weise in einen jungen militanten Freiheitskämpfer.

Über all dem weht für Julian Schnabel auf ostentativste Art das große Banner eines Friedensappells: Jenen will er den Film widmen, heißt es im Abspann, die unerschütterlich an eine friedliche Lösung des Konflikts glauben. Wer „Miral“ mit offenen Augen anschaut, wird sich die nämlichen ob des zuvor Gezeigten spätestens hier verwundert reiben. Denn die größte Rache, die der Spielfilm an den Archivbildern des Anfangs letztlich nimmt, ist, dass er Israel offenkundig in diesem tristen Geschichtsgrau vergessen möchte: Israel findet in „Miral“ schlichtweg nicht statt. Hier zeigt sich nur das Leiden des palästinensischen Volkes, dem irgendwo außerhalb der Ränder des Filmbildes ein übermächtiger Feind gegenübersteht, der zwar ab und an mit Panzern wirkmächtig durchs Bild rollt und von bornierten Holzköpfen in Uniform repräsentiert wird, dem darüber hinaus jedoch beinahe jedes Menschenantlitz verwehrt bleibt.

Auf unangenehme Weise zeigt sich Schnabels utopistischer Feldzug gegen die Wirklichkeit auch in dem puren Kitsch, der seinen Film durchzieht. Der palästinensische Widerstand ist hier ein Fest der leuchtendsten Farben, in dem bildschöne junge Menschen untereinander fast ausschließlich in makellosem Englisch kommunizieren und ein weiblicher Bollywood-Star der Intifada ein Gesicht mit gezupften Augenbrauen schenkt. So geschmacklos und von Herzen schlecht ist das, dass man beinahe an der Ernsthaftigkeit des ganzen Unterfangens zweifeln möchte – aber natürlich ist das alles sehr aufrichtig gemeint. Ein Film wie dieser mag sowohl das reale Israel, das kein Schwarzweißfilm ist, ignorieren, als auch die Beschaffenheit des Konflikts im Nahen Osten auf Freiheitskämpferromantik im Taschenbuchformat eindämpfen können. Die Geschichte kann es zum Glück nicht.