Zur schwarzen Leinwand, auf der die Credits zu lesen sind, spricht die Stimme einer Nachrichtensprecherin aus dem Radio: Sie erzählt, dass das Jahr 1997 ist und die einstige englische Kronkolonie Hongkong gerade an China zurückgegeben wurde. In den Philippinen verbreitet derweil eine Welle von Entführungen, die, so heißt es wörtlich, geradezu epidemische Züge angenommen hat, unter der philippinisch-chinesischen Wirtschaftselite Angst und Schrecken. Wenn das Bild einsetzt, bricht die Stimme nicht ab, wird aber eher zu einer Art Hintergrundrauschen für die eigentliche Geschichte des Film, in dem es als solches auch später immer wieder auftaucht. Es scheint dabei letztlich weniger um die Setzung eines historischen Kontextes zu gehen, als vielmehr um eine Grundierung der Geschichte mit der Gewalt im Großen, ihren organisierten Formen, in einem Film, der nicht zuletzt von der alltäglichen Gewalt im Kleinen handelt. Beides scheint sich in der ersten Einstellungen des Films in einem Schwarzweiß, dessen Kontraste sich im Licht der Tropen geradezu aufzulösen scheinen, und die Frauen zeigt, die in einem Straflager auf dem Feld arbeiten, zu durchdringen, indem Machtverhältnisse sichtbar gemacht werden, die die Figuren des Films sehr direkt betreffen, aber auch auf größere Zusammenhänge verweisen: die einen haben Spitzhacken, die anderen Maschinenpistolen.
Seit dreißig Jahren sitzt Horacia (Charos Santos-Concio) in diesem Lager und ist bei ihren Mitinsassinnen sehr beliebt. Die Art, wie sie den Kindern Unterricht gibt und ihnen Geschichten vorliest (und der beiläufigen Art, mit der Lav Diaz das filmt), scheint dieser Solidargemeinschaft der Eingesperrten fast so etwas wie Geborgenheit zu spenden. Nun erfährt Horacia, dass sie freigelassen wird, weil die Umstände des Mordes, den ihr Ex-Freund Rodrigo Trinidad (Michael de Mesa) ihr aus Eifersucht angelastet hat, geklärt wurden. Sie fährt nun in die Stadt auf der westphilippinischen Insel Mindoro, wo Rodrigo lebt. Während sie mit ihren Wünschen nach Rache für ihr vergeudetes Leben ringt, freundet sie sich hier mit einer Reihe von Marginalisierten an, um die sie sich zu kümmern beginnt. Wie zu Beginn im Gefängnis kreiert der Film hier einen weiteren kleinen sozialen Kosmos, in dem die Menschen füreinander da sind, ohne dass dabei ein Hauch von Sozialromantik aufkommen würde. An den düsteren Straßenecken beschäftigt sich ein Mann, der Balut verkauft, mit den ganz großen Fragen nach der Existenz Gottes oder erzählt betont beiläufig von traumatischen Erlebnissen mit sexualisierter Gewalt, die er im Gefängnis erleiden musste. Eine Frau, die interessanteste der Nebenfiguren des Films, zieht beladen mit Tüten durch die Stadt. Dämonen sind sie für die die Reichen und ihre Leibwachen, die sie immer wieder vertreiben.
Schließlich ist da die transsexuelle Prostituierte Hollanda (John Lloyd Cruz), unter den Geschöpfen der Nacht des Films das verlorenste und verletzlichste. Wie eine Schimäre tanzt sie im schummrigen Licht der Straßenlaternen. Dass sie dabei immer wieder durch epileptische Anfälle zu Boden geht, mag den ständigen Abgrund verdeutlichen, an dem sie sich bewegt. Kontinuierlich sieht sie sich gewalttätiger Übergriffe von Männern ausgesetzt, deren Verachtung sie längst verinnerlicht hat, sodass sie dem eigenen Leben kaum noch einen Wert beimisst. Als sie sieht, wie sie nachts auf der Straße einen ihrer Anfälle hat, nimmt sich Hoaracia ihrer an, pflegt ihre ständig neuen Blessuren, kümmert sich darum, dass sie ärztliche Hilfe bekommt. Dabei scheint diese Begegnung auch für Horacia schicksalhafte Züge anzunehmen, denn in ebender Nacht als Hollanda vor ihrer Tür stand, wollte sie, so gesteht sie ihr später, losziehen, um Rache an Rodrigo zu nehmen – was Hollanda schließlich auf einen eigenen Plan bringt.
Dass man diese Geschichte wohl auch als Genrefilm irgendwo zwischen Melodram und Film Noir erzählen könnte, ist für den Film, der „The Woman who left“ dann tatsächlich geworden ist, durchaus von Bedeutung. Das Genre muss als Möglichkeit mitgedacht werden, dessen kathartischen Lösungsansätzen Lav Diaz sich dann aber radikal verwehrt. Das kommt insbesondere in der Strenge der Form zum Ausdruck: Die Kamera fängt das Geschehen in komplett statischen Totalen ein, wobei die einzelnen Szenen oft nur in einer einzigen Einstellung aufgelöst werden, Close-Ups gibt es keine, extradiegetische Musik auch nicht. Der Blick der Kamera ist dabei allerdings nur rein äußerlich ein distanzierter. Seine Teilnahme drückt sich in der Zeit aus, die der mit 220 Minuten wohl nur für Lav Diaz-Verhältnisse kurze Film, bei dem der Regisseur auch für Drehbuch, Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnete und als Co-Produzent fungierte, den Figuren gibt, um miteinander interagieren zu können, ohne dass die Inszenierung dabei durch die Hervorhebung von Details durch Kamerabewegungen oder Schnitte eingreifen würde. Indem er ihren Gefühlen Raum lässt, sich zu entfalten, scheint Diaz seinen Figuren zugleich etwas von der Würde zurückgeben zu wollen, die die Verhältnisse ihnen ziemlich gründlich austreiben. Tränen fließen viele ob der Verzweiflung der Figuren über ihr Schicksal, das dabei immer klar als gesellschaftlich determiniertes zu erkennen ist, ohne dass der Film es dabei doch je zum Allgemeinen erheben und es so von den Menschen abstrahieren würde, denen es widerfährt. So geschlossen wie der Film formal auch wirken mag, scheint er inhaltlich zumindest dahingehend eine gewisse Offenheit zu besitzen, dass ihm die Fragen, die er um den Komplex von Moral, Schuld, Vergeltung oder Vergebung aufwirft – und immer wieder auch explizit christlich grundiert – wichtiger sind, als definitive Antworten auf sie zu finden.
In der schönsten Szene des Films dürfen Horacia und Hollanda lange gemeinsam im Wohnzimmer tanzen und dazu auf Englisch ein Lied singen. Als nächstes schlägt Horacia vor, „Somewhere“ aus der „West Side Story“ (Jerome Robbins, Robert Wise, 1961) anzustimmen. Einerseits scheint sich die Sehnsucht, die in dem Lied zum Ausdruck kommt, dass es irgendwo einen Platz für sie gibt, hier (wenn auch nur für sehr kurze Zeit) in dem Moment, in dem sie artikuliert wird, auch gleichzeitig zu erfüllen, weil die beiden Frauen nun ganz ausgelassen sie selbst sein dürfen. Andererseits möchte Hollanda dann lieber etwas anderes singen, was auch als Indiz dafür gelesen werden kann, dass sie sich so daran gewöhnt hat, „falsch“ zu sein, dass ihr schon der Gedanke an einen Ort, wo sie es nicht ist, Unbehagen bereitet. Gleichzeitig wird die Absage ans Genre-Kino des Films damit gewissermaßen aus dem Mund der Figur expliziert.
Darum, dass es diesen Ort eben nicht gibt, auch für Horacia nicht, die Frau, die dazu verdammt scheint, gehen zu müssen, obwohl die Leute sie mögen, wo sie auch hinkommt, geht es Diaz dann schließlich. Als Hollanda eines Nachts verschwindet, scheint Bewegung in den Film zu kommen, die sich schon darin ausdrückt, dass die Kamera nun das einzige Mal vom Stativ genommen wird, um sich suchend durch eine dunkle nächtliche Gasse und über einen Strand zu bewegen. Eine Bewegung, die letztlich nirgendwo hinführt, wie auch die der Hauptfigur, von der schon der Titel kündet, die sich aber schließlich in der erdrückenden letzten Einstellung nur noch im Kreis dreht, nichts und niemanden mehr finden kann, sondern sich nunmehr endgültig selbst verloren zu haben scheint.
Mit der Verfügbarkeit der stets überlangen Filme Lav Diaz‘, der sich auf den großen Filmfestivals dieser Erde längst einen Namen als einer der interessantesten und eigenwilligsten Auteurs unserer Zeit gemacht hat, auf Heimmedien, ist es bislang – nicht nur in Deutschland – schlecht bestellt. Umso löblicher, dass absolut Medien nach „Norte – The End of History“ nun auch „The Woman Who Left“ hierzulande auf DVD veröffentlicht hat.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „The Woman Who Left“.