Noch sind die beiden jungen Tänzer schüchtern. Ja, ein paar Jobs hatten sie, Einsätze bei Videodrehs, und ein bisschen singen können sie auch. Rob (Tijan Njie) hat es mit der Gruppe Wind sogar bis zum Grand Prix geschafft und ist dort ein wenig rumgehüpft, Fab (Elan Ben Ali) hat schon mehrere Tanzjobs in seinem Geburtsland Frankreich erledigt.
Eben noch standen sie fremdelnd am Hintereingang des Studios, nun träumen die Besties vom Big Business. Einig sind sie sich darüber, was eine internationale Popkarriere ausmacht: „Es sind die Haare“, philosophieren sie. Dann wischt die Kamera über drei Motive, die das verdeutlichen sollen: Plakate der Beatles (Pilzköpfe), Elvis (Tolle), Bob Marley (Rasta-Locken) und Robert Plant mit Jesus-Matte. Die Herren entscheiden sich für geflochtenes Haar und Piratenkopftuch.
Es sind solche flüchtigen Kleinigkeiten, die den Zuschauer des Films „Girl You Know It’s True“ im Kinosessel festhalten. Immer mal wieder nimmt sich Regisseur Simon Verhoeven eine Auszeit vom Hasten durch die frappierende Antikarriere der beiden jungen Männer, die als Popduo Milli Vanilli, bestehend aus Robert Pilatus und Fabrice Morvan, Ende der achtziger Jahre zu zweifelhaftem Ruhm gelangten.
Verhoeven erzählt die Ereignisse ihrer Karriere nach. Der Musikproduzent Frank Farian (Matthias Schweighöfer), ein begnadeter Performer tiefschwarzer Gesangsparts bis in die tiefsten Bässe hinein, aber vielleicht als weißer Provinzler nicht mit der richtigen Physiognomie ausgestattet, hat ein verblüffend gut funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt: Er lädt Gesangsprofis für seinen Mix aus Philly-Sound und Disco ins Studio. Auf die Bühne stellt er jedoch Tänzer, die Playback singen. Bei der Formation Boney M. hat das bestens geklappt, der Tänzer Bobby Farrell brummt nicht selbst, es ist die Stimme Farians, die zu hören ist. Immerhin singen zwei Sängerinnen selbst.
Farian hat eine Weile als Koch gearbeitet und ist nach kurzer, aber erfolgreicher Gesangskarriere ins Produzentenlager gewechselt. Dabei wagt er Dinge, von denen er selbst weiß, dass er damit zu weit geht. Playback ist vielleicht noch bei Auftritten in Fernsehshows akzeptiert, aber als Dauerlösung? Auch mit der Urheberschaft nimmt Farian es nicht immer so genau. Das hat er sich von Elvis und anderen Stars abgeschaut. Im Rock werden traditionelle Blues-Weisen gecovert, was das Zeug hält. Bei Milli Vanilli legt Farian noch eins drauf. Die Gesangsproben sind nicht zufriedenstellend, die dünnen Stimmen der beiden werden deshalb von älteren Vollprofis im Studio ersetzt. Rob und Fab werden dazu verdammt, sich selbst zu imitieren. Der Song „Girl You Know It’s True“, Auskoppelung aus dem gleichnamigen Album von 1989, wurde ungefragt vom DJ-Team Numarx übernommen (wie viele andere Zeitzeugen haben Numarx Verhoeven beraten und auch die Musikrechte für den Film freigegeben).
Ende der achtziger Jahre geht die Musikbranche durch die Decke, die Genrevielfalt sprengt jedes Radioprogramm – man hört und feiert Madonna, Billy Ocean, Erasure, im Untergrund die Neubauten; demnächst Eurodance, Techno und Nirvana. MTV liefert die Bilder zum Sound, Musikfernsehen ist das neue Nachrichtenformat. Eine Szene im Film deutet es an: Da konkurriert der Golfkriegsbericht mit dem Musikvideo. Und über allem stehen Superstars wie Michael Jackson, dessen Manager sich für Milli Vanilli zu interessieren beginnt und Kanäle in die USA öffnet.
Milli Vanilli sind international erfolgreich, bald winkt den beiden sogar ein Grammy. Wie kommt’s? „People listen with their eyes“, vermuten die US-Plattenfirmenbosse, die sich nicht einig werden, was sie da zu hören kriegen. Ist es Soul? Disco? Irgendwas? Konsens ist: Rob und Fab sind das exotische Boy-Band-Angebot für junge weiße Frauen, da redet keiner groß drumrum. Die beiden bekommen Englischunterricht, damit sie in den USA zumindest Interviews geben können – und ein Gesangslehrer übt auch singen mit ihnen, wenn sie von den Drogen ausnahmsweise mal nicht hackedicht sind. Insbesondere Rob kommt mit dem Luxusleben in Los Angeles nicht so ganz klar. Die schmerzliche Vergangenheit des von deutschen Kleinbürgern adoptierten Sohns eines US-amerikanischen Soldaten und einer deutschen Tänzerin holt ihn ein. Ausbeutung ist scheiße, aber wenn sie mit viel Geld kompensiert wird, auch ganz nett. Im offenen Ferrari auf dem Hollywood Boulevard wehen die Haare besonders schön. Sie mögen Eintagsfliegen sein, aber sie fliegen erste Klasse; Betrug am Fan hin oder her. Rob Pilatus wird die Geschichte jedoch das Leben kosten, er kommt nie wieder von den Drogen los. Der Film soll auch ein Andenken an den 1998 Verstorbenen sein. Fab erweist sich als der Weisere der beiden, er hat schon begonnen, sich ein Leben außerhalb der Band aufzubauen.
Farian wird im Film von einem erfreulich humorlosen Matthias Schweighöfer dargestellt – der ist in seinen selbstgedrehten Filmen oft eine Zumutung, in eng konzipierten Rollen aber durchaus stark. In Verhoevens Film ist er eher eine Randfigur, aber in kongenialem Zusammenspiel mit seiner Assistentin und Bandnamensgeberin Milli (Bella Dayne). Im Zentrum stehen – im deutschen Kino wahrscheinlich ein Novum – die zwei People-of-Colour-Nichtsänger, die die Bandkarriere des Duos verkörpern.
Ob als bescheiden bezahlter Tänzer in der Münchner Disco „P1“ oder als schuldbewusst herumschleichender Ausbildungsabbrecher im Einzelhandel (Rob), ob als eher nachdenklicher Künstler, der die Musik ernst nehmen will (Fab), oder als Drogenkonsument und Opfer rassistischer Polizisten in den USA (beide): Die Kameraführung unterstreicht und fördert die Leinwandpräsenz der beiden, erzählt mit Nahaufnahmen der Gesichter zuweilen wortlos vom verrückten Aufstieg zweier überforderter Jungstars.
Der Schwindel fliegt durch eine banale technische Panne auf. Bei einem ihrer Auftritte bleibt die Platte im Refrain hängen. Nach der zehnten Wiederholung flüchten sie von der Bühne. Mit dem Popskandal haben Milli Vanilli das ganze schöne Konzept der Authentizität in der Kunst auf die Probe gestellt. Und es zeigt sich: Nur mit Fake geht es nicht, zumindest nicht in den USA. Nach entsprechenden Klagen muss den Plattenkäufern das Geld zurückerstattet werden. In Deutschland regen sich weit weniger Leute übers Playback-Singen auf. So what? Wer ist denn nun das Mutterland der Popmusik?
Es folgt, was noch in jedem Musikfilm seinen Platz hat: Absturz, Schadenersatzforderungen, (noch mehr) Drogen. So weit, so erwartbar. Dass die Geschichte dennoch gut rüberkommt, dafür sorgen die Darsteller Tijan Njie und Elan Ben Ali. Insbesondere Njie spielt seine ganz besonderen Filmerfahrungen aus. Jahrelang war er in der Soap „Alles was zählt“ zu sehen, bis er durch Formate wie „Let’s Dance“ tourte. Wahrscheinlich ist das ein gutes Training.
Auch die bedrückenden Szenen sind gelungen, etwa wenn Rob mit seiner Stiefmutter darüber debattiert, warum er seine Ausbildung nicht fortsetzt, oder mit seiner Stiefschwester spricht, die zur einzigen emotionalen Verbindung außerhalb der Popwelt geworden ist. Ganz besonders gelungen ist die Szene, in der sein falscher Vater enttarnt wird. Erzählt durch schnelle Überblendungen ist sie ein ebensolches Glanzstück der Regie wie die Geschichte mit den Haaren.
Verhoeven macht diese Episode der Popgeschichte – eine Tragödie wie auch eine Farce – dank der Bestbesetzung bis in die kleinste Nebenrolle zu einem einfallsreich erzählten Film, der zudem Rassismus wie Klassismus so geschickt thematisiert, dass seine Hauptfiguren nie zu Nebendarstellern werden. Ja, wahrscheinlich macht er daraus sogar gutes Kino.
Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 51/2023