„Es war mir wichtig, in diesem Film keinen ‚male gaze‘ zu haben“

von Marit Hofmann


Anna Hints (*1982 in Tartu, Estland) absolvierte ein Studium der Fotografie, Filmwissenschaft und Literatur am Tartu Art College. „Smoke Sauna Sisterhood“ ist ihr erster Dokumentarspielfilm und feierte seine Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival. Dafür gewann sie den Regiepreis in der Reihe „World Cinema Documentary Competition“. Hints ist außerdem Sängerin des Electronic-Folk-Trios Eeter, das bei den Estnischen Film- und Fernsehpreisen 2018 in der Kategorie Beste Filmmusik nominiert war. Derzeit absolviert Hints einen Masterstudiengang „Schauspiel“ an der Estnischen Akademie für Musik und Theater.

Sie beschreiben die estnische Rauchsauna als wichtigen Ort für Austausch und Zusammenhalt von Frauen. Ist in diesen Saunen Geschlechtertrennung nach wie vor üblich?

Die Geschlechtertrennung ist etwas Traditionelles, heutzutage saunieren auch Familien und Freund*innen zusammen. In meiner Kindheit gingen auch in der Familie Frauen und Männer getrennt in die Sauna. Das traditionelle Ritual der Rauchsauna, die zum Weltkulturerbe der Unesco zählt, hat etwas spezifisch Weibliches, weil Frauen dort auch ihre Kinder geboren haben. Insbesondere für Frauen ist es ein Ort, um sich zu öffnen und nackt in jeder Hinsicht zu sein. Männer vermeiden es dagegen, sich verletzlich zu zeigen. Sie reden viel Bullshit und nicht über den „real shit“.

Wie haben Sie Ihren Kameramann integriert?

Es war mir sehr wichtig, in diesem Film keinen „male gaze“, also keinen sexualisierenden männlichen Blick zu haben, der die nackten Frauenkörper zu Objekten macht. Zunächst wollte ich ein weibliches Team. Aber in Estland gibt es nur wenige Kamerafrauen. Ich stand vor der Wahl: Sollte ich aus politischen Gründen eine Frau wählen oder jemanden, mit dem ich eine enge künstlerische Verbindung habe, dem ich zutraue, meine Vision zu visualisieren. Ich entschied mich für letzteres und habe mit Ants Tammik, mit dem ich die Filmhochschule besuchte, einen sehr einfühlsamen Kameramann gefunden. Ich habe zuerst an meinem eigenen Körper ausprobiert, wie Bilder aussehen könnten, mit denen ich mich wohlfühle. Bei Testshootings habe ich den gefilmten Frauen Ants’ Bilder gezeigt, und sie fühlten sich damit sicher.

War das Filmteam auch nackt bei der Arbeit?

Nein, denn wenn man zum Beispiel eine Kamera bei 80 Grad Hitze hält, kann man sich daran verbrennen. Das Team hatte Handschuhe und nasse Kleidung an, um den Dreh zu überstehen. Es war wirklich hart. Für mich war es eine Herausforderung, dafür zu sorgen, dass sich alle emotional sicher fühlen, aber auch körperlich. Wir hatten die Regel: Wer eine Atempause draußen braucht, bekommt sie.

Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht. Wie gelang es, aus den schwierigen filmischen Bedingungen wie Hitze, Dampf, Feuchtigkeit und Dunkelheit ein ganz besonderes kunstvolles Bildkonzept zu erarbeiten?

Vielleicht hat es mit meinem Rauchsauna-Hintergrund zu tun, dass ich mich nicht vor Unbequemlichkeiten fürchte. Meine Großmutter hat immer gesagt: Die Gefühle, die wir in der Rauchsauna raus- und zulassen, geben uns Stärke. Limitierungen sehe ich als Herausforderung, ich suche nach künstlerischen Lösungen. Als ich Geld für den Film auftreiben wollte, wollte mir das estnische Filmkomitee keins geben. Es hieß: Wie soll das gehen, kleine dunkle Räume, Hitze, Frauen, die reden – das interessiert niemanden. Ich antwortete: Ich will ja auch einen Film machen, wie ihn noch niemand zuvor gesehen hat. Die Jury des Sundance-Festivals, die mir für „Smoke Sauna Sisterhood“ den Regiepreis verliehen hat, hat all die künstlerischen Entscheidungen honoriert, die das Komitee abgelehnt hatte. Die Bedingungen waren essenziell für die Geschichten, die im Film erzählt werden.

Wie viel von den Geschichten kannten Sie vorher?

Nichts. Es war ein Schritt ins Ungewisse. Wir wussten nicht, was in den langen Saunasessions an die Oberfläche kommen würde, welche Geschichten wir einfangen könnten. Es braucht Zeit, bis sich der physische wie der emotionale Schmutz herausschält. Das Filmteam musste bereit sein, wenn etwas passierte, man kann diese Situationen nicht wiederholen. Es durfte keine Absprachen geben. Ich komme nicht mit einem fertigen Mindset ans Set, es ist ein organischer Prozess. In Estland musste ich vorab ein Skript einreichen. Da habe ich etwas über die Zeit geschrieben, die in der Rauchsauna nicht linear verläuft, die tiefe Verbindung zur Natur, zum Element des Wassers und zu den Jahreszeiten. Welche eingefrorenen Traumata sich in diesem Setting lösen würden, konnte ich noch nicht beschreiben. Aber ich habe darauf vertraut, dass Geschichten hochkommen würden, die die Frauen teilen wollen, denn jeder Gang in die Rauchsauna ist wie ein Langfilm.

Wie viel von der Musik, die im Film zu hören ist, ist traditioneller Gesang, wie viel Ihre Komposition?

Der Soundscape kommt aus der Rauchsauna, sie ist voller Töne: das Holz, der Schweiß, das Metall, der Wassereimer… Die Gesänge der Frauen im Film entstanden aus der Situation heraus, manche sind traditionell, manche improvisiert. Die Filmmusik entstand in Zusammenarbeit meiner Band Eeter mit dem Komponisten Eðvarð Egilsson. Die Melodien basieren auf Musik aus dem Süden Estlands, zu denen ich als Sängerin improvisiert habe. Es geht im Film so viel um den weiblichen Körper und darum, Frauen eine Stimme zu geben, deshalb wollte ich eine weibliche Stimme.

Haben die Frauen ihre Bilder und Geschichten nach dem Dreh freigegeben?

Zunächst hatte ich die Regel, niemanden zu überreden. Nur wer mitmachen will, macht mit. Wenn ich ein Zögern spürte, habe ich das als Nein interpretiert. In den sieben Jahren, in denen wir an dem Film gearbeitet haben, hat sich die Gesellschaft verändert und immer mehr Frauen, die mitmachen wollten, haben mich kontaktiert.

Normalerweise unterzeichnen Beteiligte einen Vertrag, in dem sie die Rechte an ihren Bildern der Produktionsfirma übertragen. Meine Produzentin und ich sind dagegen ein großes Risiko eingegangen, haben den Frauen den finalen Filmschnitt gezeigt und ihnen ein Vetorecht eingeräumt. Aber alle waren einverstanden, da sie von Anfang an einbezogen waren. Diese Neudefinition der Art zu produzieren gehört zur Essenz des Films.

Sie nennen die Rauchsauna einen sicheren Ort für Frauen – die große Kinoleinwand, auf der manche Ihrer Protagonistinnen nun Gewalt- und Missbrauchserfahrungen zum ersten Mal teilen, scheint alles andere als ein sicherer Ort. Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?

Als Regisseurin musste ich von Anfang an bereit sein, diese Verantwortung zu übernehmen. Die Sisterhood endet nicht mit dem fertigen Film. Ich treffe die Frauen immer noch. Der ganze Prozess war und ist heilend für alle Beteiligten. Manche, die vorher ihre Identität nicht preisgeben wollten, taten das nach dem Filmstart, weil sie so viel Unterstützung erfahren. Sie posten Filmbilder auf Facebook und schreiben dazu: „Das ist mein Rücken, das ist mein Bein.“ Ich habe mich selbst, inspiriert von den Erzählungen der anderen, spontan geöffnet und über meine persönlichen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gesprochen. Danach habe ich mich entschlossen, zur Polizei zu gehen und die lange vergangene Tat zu melden. Auch wenn das keine Konsequenzen mehr hat, habe ich dem Schweigen damit offiziell ein Ende gemacht.

Der Film hat große Debatten in Estland ausgelöst. Es ist noch ein langer Weg. Aber die Sisterhood gibt Kraft – auch mir. Gerade bin ich viel unterwegs, gebe Interviews, spreche auf Tagungen zu psychischer Gesundheit und muss aufpassen, nicht auszubrennen. Wenn ich zurückkomme, kontaktiere ich die anderen: „Hey, Schwestern, können wir in die Rauchsauna gehen?“

Dieses Interview erschien zuerst am 22.11.2023 in: ND

Smoke Sauna Sisterhood: Estland/Frankreich/Island 2023. Regie und Buch: Anna Hints. 89 Min. Start: 23. November 2023.

Foto: © Neue Visionen