Film im Blut
„Wir haben Ketchup im Blut und Tränen in den Augen, weil wir Tschüss sagen müssen. Aber wir freuen uns jetzt schon auf ein Wiedersehen in unseren anderen Restaurants.“
Dass eine McDonald’s-Filiale schließt und nicht bald darauf wieder aufmacht, ist eine echte Seltenheit. Christian Baron erzählt von der Schließung einer Burger-Gaststätte in seinem Buch „Ein Mann seiner Klasse“ in seiner Heimatstadt Kaiserslautern – um den Niedergang eines Quartiers zu umschreiben.
Obiges Zitat stammt jedoch von einem Aushang an der geschlossenen McDonald’s-Filiale am Potsdamer Platz in Berlin. Und so können wir mit Christian Baron zum Start der 70. Berliner Filmfestspiele feststellen: Der Platz in der Mitte der Hauptstadt ist ein bisschen so erledigt wie ein Außenbezirk einer Provinzmetropole.
Zum Geburtstag schenkt sich die Berlinale auch sonst ein paar Einschränkungen. Die Shopping Mall „Potsdamer Platz Arkaden“ hat abgewirtschaftet, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz der als „Mall of Shame“ verspotteten „Mall of Berlin“ am Leipziger Platz. Rumänische Bauarbeiter hatten wegen Lohnraubs beim Bau des Einkaufszentrums geklagt. Wo soll man nun zwischen den Filmen Schuhe gucken gehen? Bei Deichmann? Und wo gibt es für Zigtausend Besucher was zu essen, ohne die fiese „Mall of Berlin“ aufsuchen zu müssem?
Selbst die Spielstätten hat es erwischt. Das Cinestar-Kino rollt passend zum Start der Berlinale seine Leinwände hoch. Für immer. Die Berlinale hatte richtig Arbeit, neue Säle ausfindig zu machen. Der Clubraum für die Eröffnungsparty ist neuerdings belegt von der „Magic Mike“-Stripshow aus Hollywood. „Magic Mike“-Erfinder Channing Tatum muss es nach seinem Besuch mit dem Eröffnungsfilm „Hail, Cesar“ vor vier Jahren auf der Berlinale so gut gefallen haben, dass er sich ganzjährig darin einquartiert hat.
Die U-Bahn hält am Potsdamer Platz auch nicht mehr. Und Jury-Präsident Jeremy Irons bringt ein Skandälchen mit: Die Taz hat ausgegraben, dass der Schauspieler sich vor einigen Jahren frauen- und schwulenfeindlich geäußert habe. Gegen Abtreibung sei er auch. Der alte weiße Mann hat sich schon damals entschuldigt und jetzt auch noch mal. Das Filmfestival Venedig verkündete wenig später, dass dort Cate Blanchett die Jury leitete. Cate Blanchett, die wär’s gewesen.
Der Potsdamer Platz ist also ein bisschen wie ein Areal für Untote. Hoffentlich wird die Berlinale nicht eines Tages auch weggentrifiziert. Einer kam im Januar aus der Kiste. Alfred Bauer, der erste Berlinale-Chef im Jahr 1951. Er hatte eine Vergangenheit als SA-Mann und bei der Filmbewertung im Kulturministerium des Josef Goebbels. Die Zeit hatte entsprechendes Material veröffentlicht.
Nach Bauer ist ein Filmpreis auf der Berlinale benannt, der „Silberner Bär, Alfred-Bauer-Preis“. Der wird bis auf weiteres nun nicht mehr verliehen, die letzte Preisträgerin war Nora Fingscheidt mit ihrem Film, der den passenden Namen „Systemsprenger“ hat.
Nun, wie geht man damit um – und mit dem Umstand, dass bei der Berlinale bisher niemand selbst darauf gekommen ist, dass Bauer eine recht normaldeutsche Vita hatte? War er allzu nützlich, die Filmfestspiele als Instrument des Kalten Krieges aufzubauen? Undundund.
Vielleicht wird das ein Thema für die wunderbare „Woche der Kritik“ des Verbandes der deutschen Filmkritik. Wie jedes Jahr veranstaltet sie eine große Konferenz, Thema dieses Jahr: kein Thema!
Die „Woche“ lädt ein, Anliegen vorzustellen, zu diskutieren und Verbündete zu suchen. Das Thema Antifa ist schon gesetzt. „Ob gegen rechts und Zensur oder für eine globale Cinephilie – es geht um Differenzierung, Solidarität und leidenschaftliche Auseinandersetzungen.“ Die „Woche der Kritik“ sei explizit als „Reaktion auf die blinden Flecken des Festivalbetriebs“ entstanden – bitte schön. Das verspricht doch sehr interessant zu werden.
Sucht man nach der Pressemitteilung zu Bauer auf der Berlinale-Homepage, findet sich schon wieder was anderes Schockierendes: „Anlässlich der fortschreitenden Ausbreitung des Coronavirus leiten die Internationalen Filmfestspiele Berlin erste Vorsichtsmaßnahmen ein: Um die empfohlene Handhygiene zu ermöglichen, werden die Sanitäranlagen der Festivaleinrichtungen flächendeckend mit Desinfektionsmitteln versorgt.“
Angeblich gibt es geeignete Maßnahmen, über die man im Verdachtsfall einer Infektion informiert wird. „Für eine Klärung etwaiger Fälle stehen in Berlin das Institut für Virologie und die Sonderisolierstation an der Charité zur Verfügung.“ Einreisende Gäste aus China und anderen betroffenen Regionen werden bereits an den Flughäfen umfassend informiert.
Wozu braucht man da noch Filme, von denen es – trotz Verkleinerung des Programms – immer noch rund 360 zu sehen geben wird? Carlo Chatrian teilt sich mit Mariette Rissenbeek die Leitung der Berlinale. Er ist für das Programm, sie für das Geschäftliche zuständig. Chatrian, bisher Chef des Filmfests in Locarno, will einiges anders machen als der langjährige Berlinale-Leiter Dieter Kosslick. Der hatte bei den jährlichen Programmpressekonferenzen sichtlich wenig Lust auf Programm. Für gewöhnlich zeigte er den Filmfest-Teddy rum, bedankte sich bei den Sponsoren und murmelte etwas von vielen Hundert Filmen. Und freute sich ansonsten, wenn sich Prominenz aus Übersee angesagt hatte.
Davon ist Chatrian weit entfernt. Besuch interessierte ihn bei der diesjährigen Vorstellung der Festspiele bisher wenig. Es sei denn, es kommen Filme. Die seien schließlich das Wichtigste. Das hat man lange nicht gehört. Und das Allerwichtigste sei der Wettbewerb, das „Gravitationszentrum“ – davon hatte man ebenso lange nichts gehört.
Und so zählte er jeden einzelnen Film auf, mit Vorzügen und Besonderheiten. Das Festival eröffnet mit Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“. Alfred Döblins berühmter Roman erfährt sein Update im Kino, das passt, sind doch die Weimarer Verhältnisse derzeit omnipräsent. Die Handlung ist ins Berlin der Gegenwart verlegt. Nicht Franz steht im Mittelpunkt, sondern Francis, er kam mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer. Wie Döblins Hauptfigur schwört er, ein anständiges Leben zu führen, wird aber in der Illegalität auf die harte Probe gestellt.
Der neue Alexanderplatz liegt in der Nacht, in Clubs und im Underground, wie Chatrian sagt. Clubs, Underground – gibt es davon im gentrifizierten Berlin überhaupt noch etwas?
Durchaus, meint etwa Christian Petzold. Er zeigt seinen Film „Undine“, der von einem weiblichen Wassergeist handelt, die tagsüber als Stadtführerin arbeitet und nachts an dunklen Stätten wirkt. Petzold ist allerdings eher eine Kontinuität als ein Novum. Er war schon sehr oft im Wettbewerb.
Das Berliner Theater steht im Film „Schwesterlein“ der Schweizerinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond im Mittelpunkt; er handelt von der Schaubühne.
Weiter geht es mit historischem Genrestoff in „First Cow“ von Kelly Reichardt, ein Western, der im 18. Jahrhundert spielt. „All the Dead Ones“ aus Brasilien erzählt vom Sklavenhandel im 19. Jahrhunderts. Und „DAU. Natasha“ ist ein Film, der in Russland verboten ist; ihm wird Verbreitung von Pornographie unterstellt.
Weltpremieren müssen die Wettbewerbsbeiträge nun nicht mehr sein, auch das eine Neuerung – ebenso wie die Reihe „Encounters“, dort soll man dem Kino abseits ausgetretener Pfade begegnen. Das streben wahrscheinlich auch die Sektionen Forum und Panorama an, die mit Christina Nord und Michael Stütz ebenfalls neue Leiter bekommen haben und viele Highlights präsentieren wollen. Nicht zu vergessen die Reihe „Generation“, die dieses Jahr mit vielen tollen politischen Jugendfilmen aufwartet. Etwa der zynisch gesellschaftskritische „Yalda“ über eine iranische Fernsehshow, in der Opferangehörige zum Tode verurteilten jungen Mördern vergeben können und dabei noch Geld gesammelt wird.
Dann kommen noch Sachen hinzu wie „Persian Lessons“ im Gala-Programm: Ein KZ-Kommandant will Persisch lernen, ein KZ-Insasse macht ihm vor, diese Sprache zu sprechen. Der Film fordere „die Zuschauer*innen auf, sich auf eine der dunkelsten Seiten der jüngeren Geschichte einzulassen. Der Holocaust wird hier aus einer noch nicht da gewesenen Perspektive gezeigt“, teilt das Festival mit. Filme gibt’s. Den KZ-Kommandanten spielt Lars Eidinger, der gerade noch für eine umstritten-geschmacklose Werbekampagne vor Obdachlosen posierte. Da würde sich doch auch ein Alfred-Bauer-Panel anbieten. Auch dies würde die Berlinale aus einer noch nicht da gewesenen Perspektive zeigen.
Wer weiß, ob das Filmfestival nicht so spannend weitergeht, wie es begonnen hat. Kaum stellt mal einer das Kino in den Mittelpunkt, gibt es ordentlich Nachrichten. Na dann also: Film im Blut statt Coronavirus – bis wir Ketchup in den Augen haben!
Dieser Artikel erschien zuerst in: Jungle World 08/2020
Hier gibt es einen weiteren Berlinale-2020-Beitrag.