70. Internationale Filmfestspiele Berlin

von Thomas Blum


Auf der Suche nach einer neuen Sprechblase

Die Bären sind abgeschafft. Noch bis zum vergangenen Jahr posierten auf den offiziellen Berlinale-Plakaten stets Bären in verschiedenen Varianten. Das war nicht die geistreichste aller möglichen Gestaltungsideen, aber man weiß ja, wie der durchschnittliche Reklamemensch tickt: „Nehmen wir ein Wahrzeichen Berlins (Bär) und stellen es neben ein anderes Wahrzeichen Berlins (gelbe U-Bahn-Waggons), fertig ist das Plakat.“ Doch die Bärenplakate sind offenbar ebenso ausgemustert worden wie die einst vom langjährigen, 2019 abgetretenen Berlinale-Direktor, Feinschmecker und Gute-Laune-Onkel Dieter Kosslick eingeführte Reihe „Kulinarisches Kino“. Vermutlich geschah das, um sich von der Ära Kosslick abzugrenzen.

Eine weitere Sache, die sich im Vergleich zu den vergangenen Jahren geändert hat, ist die Auswahl der Spielstätten: Weil das bisherige Festivalkino „Cinestar“ am Potsdamer Platz geschlossen wurde, findet ein Teil der Berlinale-Filmvorführungen nun im „Cubix“ am Alexanderplatz statt. Statt im Haus der Kulturen der Welt werden zahlreiche Filme in der Schöneberger Urania gezeigt. Für die Festivalgäste der heute beginnenden Filmfestspiele bringt das nicht wenig Ärger und Stress mit sich. Nicht nur sind sie gezwungen, häufiger als bisher zwischen den am Potsdamer Platz gelegenen Spielstätten und den anderen zu pendeln. Auch die Berliner Verkehrsbetriebe BVG sind, wie so oft, ein zusätzlicher Troublemaker: Die U2 fährt die U-Bahnstation Potsdamer Platz zurzeit gar nicht an, Berlinale-Gäste müssen also am U-Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Park aussteigen und von dort einen längeren Fußweg zum Potsdamer Platz zurücklegen.

Gestalterisch herrscht auf den diesjährigen Plakaten zu den Berliner Filmfestspielen anstatt der Bären der Minimalismus: Nur ein großes „B“ und die Ziffern „7“ und „0“ sind darauf zu erkennen, in verschiedenen Varianten angeordnet. Das „B“ steht für Berlin, die Zahlen verweisen darauf, dass die Berlinale dieses Jahr zum 70. mal stattfindet. Gezeigt wurden die neuen Plakatmotive erstmals auf der Berlinale-Pressekonferenz, die jedes Jahr einige Wochen vor Beginn des Filmfests anberaumt wird. Diese alljährlich auf dieselbe Weise ablaufende Pressekonferenz ist die sinnloseste Veranstaltung des Jahres. Jeder, der einmal daran teilgenommen hat, kann das bestätigen. Der einzige Grund für Journalistinnen und Journalisten, daran teilzunehmen, ist der, dass ihnen am Ende der Veranstaltung das Programmheft ausgehändigt wird, in dem sämtliche Filme, Spielorte und Vorführtermine abgedruckt sind. Dafür allerdings muss man anderthalb Stunden lang einiges über sich ergehen lassen.

Kosslicks Amtsnachfolger als Berlinale-Direktoren sind der künstlerische Leiter Carlo Chatrian, der zuvor als Filmkritiker und Leiter des Filmfests Locarno in Erscheinung getreten ist, und die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, die früher in gleicher Funktion für „German Films“ tätig gewesen ist, die Branchenauslandsvertretung des deutschen Films. Rissenbeek hat damit wohl einen der undankbarsten Jobs gehabt, die es überhaupt gibt: deutsche Filme im Ausland vermarkten zu müssen.

Als die beiden neuen Chefs der Berlinale, die seit circa sieben Monaten im Amt sind, dieses Jahr die Pressekonferenz eröffnen, sagen sie Sätze wie diesen: „Wir unterstützen die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.“ Oder: „Wir haben zahlreiche Aktivitäten mit Partnern in der Stadt.“ Partner in der Stadt? Wer soll das sein? Kurze Zeit später wird klar, wer gemeint ist. Wie jedes Jahr wird brav den Sponsoren („unsere Hauptpartner“) der Filmfestspiele gedankt: dem ZDF, einem Kosmetik-, einem Telekommunikations- und einem Automobilkonzern. Dann geht es weiter mit den Nullsätzen, von Chatrian zunächst in holprigem Deutsch vorgetragen: „Wir verstehen uns als Gastgeberinnen und Brückenbauerinnen.“ Kurz darauf wechselt er ins Englische, das ihm leichter fällt, doch die Sätze werden nicht aussagekräftiger: „Jeder Film steht für sich selbst, erst zusammen ergeben sie ein größeres Gesamtbild.“ Oder: „Filme sind nichts ohne ihr Publikum.“ Einige der Anwesenden gähnen.

„Undine“ – © Christian Schulz/Schramm Film

Keine Frage, hier wohnt man einer sinnbefreiten PR-Veranstaltung bei. Etwas auch nur annähernd Substanzielles, sei es zum Stand der von der seit Jahren in ganz Europa erstarkenden Rechten bedrohten Kultur der Gegenwart, sei es zur Auswahl oder zur Zusammensetzung des Filmprogramms der Berlinale, ist nicht zu hören. Stattdessen fängt Chatrian damit an, Filmtitel aufzuzählen: Jeden einzelnen der 18 vorgesehenen Wettbewerbsbeiträge nennt er und sagt jeweils zwei, drei gemeinplatzhaltige Sätze dazu, während hinter ihm auf einer kleinen Leinwand der jeweilige Filmtitel und ein zugehöriges Szenenfoto projiziert werden. „Starke Filme“ mit dem Schwerpunkt Berlin seien auch darunter, teilt der neue Berlinale-Direktor mit und hebt drei im diesjährigen Wettbewerb laufende und teils oder ganz in der deutschen Hauptstadt spielende Produktionen kurz hervor: den neuen Film des deutsch-afghanischen Regisseurs Burhan Qurbani, „Berlin Alexanderplatz“, eine sehr freie Adaption des gleichnamigen Romans von Alfred Döblin, in deren Mittelpunkt der Alltag eines Flüchtlings steht und für die die Handlung ins gegenwärtige Berlin verlegt wurde; „Undine“, ein – schon der Titel weist darauf hin – mit Motiven der deutschen Romantik spielender neuer Liebesfilm des Berliner-Schule-Regisseurs Christian Petzold, dessen Arbeiten stets sehr deutsch, streng und unterkühlt daherkommen; und das Schweizer Filmdrama „Schwesterlein“ von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, in dem es um ein Zwillingspaar geht, das in der Berliner Theaterszene erfolgreich ist und einen plötzlichen Schicksalsschlag erleidet.

Viele Wettbewerbsfilme zeichneten sich dadurch aus, dass sie, so Chatrian, „einen Blick auf die dunkle Seite des menschlichen Daseins werfen“. Sechs der 18 Beiträge seien Filme von Frauen, man sei also, was Geschlechtergerechtigkeit angehe, „auf einem guten Wege“. Rissenbeek ergänzt: „Auch viele der Sektionen haben künstlerische Leiterinnen. Es ist eine große weibliche Präsenz spürbar.“

Überschaubarer als früher ist das Berlinale-Programm jedoch auch dieses Jahr nicht geworden. Gezeigt werden insgesamt 340 Filme. Man scheint weiter nach dem Motto „Viel hilft viel“ zu verfahren. Zu der bereits etablierten Hauptsektion Wettbewerb hinzu kommt dieses Jahr die neue Hauptsektion Encounters, die 15 Filme umfasst (vier davon sind von Frauen) und die Vielfalt des Arthouse-Kinos der Gegenwart abbilden soll. Die „vorrangigen Kriterien“ bei der Filmauswahl für diese Sektion seien „Mut und die Suche nach einer neuen Sprache“ gewesen, erläutert Carlo Chatrian. Man hat es also wohl mit einer Art zweiten Wettbewerbssektion zu tun, in der sich die formal wagemutigeren Filme finden. Unter den Regisseurinnen und Regisseuren sind sowohl bekannte Namen wie Heinz Emigholz und Alexander Kluge, Künstler also, die einst prägend waren für den deutschen Experimental- und Autorenfilm der 60er und 70er Jahre, als auch junge Filmschulabsolventinnen wie die 27-jährige Potsdamerin Melanie Waelde, deren Langfilmdebüt „Nackte Tiere“ – das von fünf Jugendlichen in der trostfernen deutschen Provinz erzählt, von Jugend und Erwachsensein – sich mit den Themen „Gewalt, Abgrenzung und Einsamkeit auseinandersetzt“, wie Waelde mitteilt.

„Nackte Tiere“ – © Czar Film

Im Editorial des erst seit letzter Woche vorliegenden offiziellen Filmfestspielprogramms setzt sich im Übrigen der bereits in der Berlinale-Pressekonferenz angeschlagene nichtssagende Hauptstadtreklamejargon munter fort. Es sind Sätze, die klingen wie von einer der einschlägig bekannten Tourismus-Marketing-Klitschen zusammengetackert, die die Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek sich da von Praktikantinnen und Praktikanten hat zusammenschreiben lassen. „Die Berlinale und Berlin sind unzertrennlich, denn für ein internationales Filmfestival ist eine dynamische Stadt die perfekte Plattform.“ Oder: „Die 1920er-Jahre sind legendär – wie sich die 2020er-Jahre entwickeln, kann noch niemand absehen. Wir werden Zeug*innen vieler Umbrüche sein, sie miterleben und beeinflussen.“ Mit solchen ebenso wichtigtuerischen wie nichtigen, dem Sprechblasenbaukasten entnommenen Quatschsätzen betätigt sich Rissenbeek als Dienstleisterin im Auftrag des Standortmarketings. Offenbar soll mit solchen Nullphrasen vor allem ein imaginäres Weltmetropole-Berlin beschworen werden. Und kräftig Werbung gemacht werden für den „Wirtschaftsstandort“ Berlin.

Nicht auszuschließen auch, dass so mehr von jenen fragwürdigen „Investoren“ angelockt werden sollen, die seit ca. 20 Jahren gemeinsam mit der Politik erfolgreich die in geringen Mengen noch intakte Infrastruktur der einst vor allem für ihre subkulturellen Nischen und unkommerziellen Kulturräume weltbekannten Stadt zerstören und Berlin so nach und nach weiter zu einer Art Erlebnispark für Betriebswirtschaftler umbauen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 19.02.2020 in: Neues Deutschland

Hier gibt es einen weiteren Berlinale-2020-Beitrag.

Foto: © Richard Hübner/Berlinale 2014