Vom 1.-6. Mai 2019 fanden in Oberhausen die 65. Internationalen Kurzfilmtage statt. Valentina Smirnova und Ricardo Brunn waren vor Ort und berichten über ihre Eindrücke sowie einzelne Filme, die ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind.
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Emulsionsemotionen
von Ricardo Brunn
Am 4. April 1986 explodierte die Reaktoreinheit 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl. Drei Tage später flog der Regisseur Wladimir Schewtschenko mit einem Hubschrauber über die Unfallstelle und begleitete die ersten Dekontaminationsbemühungen vor Ort. Als Shevchenko das 35-mm-Filmmaterial später entwickelte, bemerkte er, dass Teile weiße Flecken aufwiesen, die beim Projizieren wie kurze Lichtblitze aussahen und die Tonspur störende statische Geräusche enthielt. Er und sein Team gingen zunächst von fehlerhaftem Rohfilmmaterial aus, bis klar wurde, dass der Film auf die Radioaktivität reagiert hatte. In „Chernobyl – Chronicle of Difficult Weeks“ (SU 1987) kann man die tödliche Strahlung sehen und hören. Ein Vierteljahr drehte Schewtschenko in direkter Umgebung des beschädigten Kernkraftwerkes. Die Premiere seines Filmes in Kiew 1987 erlebte er noch. Wenig später verstarb der Regisseur in einem Hospital für Strahlenkranke.
Auf den Umstand, dass nicht nur die Fotografie oder der Film, sondern auch das Filmmaterial selbst wie eine Haut sei, also etwas Lebendiges, beinahe Menschliches besitze, wurde in der Film- und Fotografietheorie schon mehrfach hingewiesen. „Chernobyl – Chronicle of Difficult Weeks“ verdeutlicht diese Analogie auf grausame Art, wenn das kontaminierte Filmmaterial, welches im Grunde genommen Symptome der Strahlenkrankheit aufweist, den Tod des Regisseurs antizipiert. Und vielleicht ist es diese Brüchigkeit – die Lebendigkeit und damit auch Vergänglichkeit zu belegen scheint – die uns nach wie vor fasziniert und das Interesse am Zelluloidfilm nicht nur wach hält, sondern seit einigen Jahren wieder anwachsen lässt. So haben sich in jüngster Zeit weltweit etwa 40 selbstgeleitete Künstlerlabore, die für eine neue Praxis der kollektiven Organisation von Produktionsmitteln für mit Film arbeitenden Künstlern und Filmemachern eintreten und das photochemische Wissen, die Vermittlung und die Technik am Leben halten, gegründet und auf filmlabs.org miteinander vernetzt. Bereits zum zweiten Mal zeigten einige dieser Labs eine Auswahl ihrer filmischen Arbeiten bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, in deren Zentrum dieses Jahr der analoge Film stand.
„The Sound Drifts“ (FR 2019) von Stefano Canapa
Dass eine junge Generation von Regisseur*innen, die größtenteils im digitalen Zeitalter zum Filmemachen gekommen ist und sich nach der Erforschung dieser glatten und hochauflösenden Welt nun dem Zelluloid zuwendet, lässt sich seit einiger Zeit schon beobachten und wurde in Oberhausen entsprechend des übergeordneten Themas auch in den Moderationen immer wieder herausgestellt. In den Wettbewerben tummelten sich mit „China not China“ (R: Dianna Barrie, Richard Tuohy; AU 2018), „The Sound Drifts“(R: Stefano Canapa; FR 2019), „Scenes from a Transient Home“ (R: Roger Horn; ZA/ZW 2019), „Caída“ (R: Melisa Aller; ARG 2019) oder auch „A Return“ (R: James Edmonds; D 2018) und „TV“ (R: Richard Reeves; CAN 2018) Werke, in denen Filmmaterial direkt bearbeitet wurde oder die auf Film gedreht und zum Teil auch auf 16mm oder 35mm vorgeführt wurden und die spezifischen Eigenheiten des Zelluloids oder der technischen Apparatur aufscheinen ließen.
Nahezu in Gänze auf Film wurden die kurzen Werke des leider etwas verunglückten Themas „Die Sprache der Verlockung: Trailer zwischen Werbung und Avantgarde“ präsentiert. Die acht Programme boten Klassiker und Befremdliches, zeigten ansatzweise Entwicklungen und Besonderheiten auf: die Einbindung von Aufnahmen der Dreharbeiten, minutenlange Ansprachen durch Produzenten, witzelnde Regisseure oder absichtliche Provokationen. Der Einbezug von Trailern jüngeren Datums, die einen Vergleich oder die Weiterentwicklung belegen hätten können, fehlten jedoch ebenso wie ein umfassender, globaler Blick auf das Phänomen. Die beschränkte Sicht auf das amerikanische Kino konnte auch von den beiden Kurator*innen Cassie Blake und Mark Toscano auf Nachfrage des Publikums nicht ausreichend begründet werden. Damon Packards Persiflagen auf das Trashkino der 80er-Jahre waren ermüdend in ihrer Redundanz. Stellenwert der Sektion, Umfang und Inhalt liefen mit jedem neuen Programm dann zunehmend auseinander. In Erinnerung bleiben wird „The Best of May“ (USA 1972), eine Kompilation aus Bombenabwürfen während des Vietnamkrieges, die ein Schock für das Publikum des Ann Arbor Film Festivals gewesen sein muss, auf dem der „Trailer“ damals als aktivistische Geste erstmals gezeigt wurde. Außerdem sind es die Spuren der Abnutzung der Trailer, die sich ins Gedächtnis brennen, weil es diese sichtbaren Zeugnisse der Vergänglichkeit heute im Kino so gut wie gar nicht mehr gibt und sie einmal mehr auf die Kurzlebigkeit des Trailers als reinem Werbemittel verweisen und die wichtige Arbeit der Archivierung und Restaurierung ins Gedächtnis rufen.
Was die Arbeit mit Filmmaterial so einzigartig machen kann, vermittelte sich in Oberhausen über eine Auswahl des erstmals in Europa gezeigten Werkes der japanischen Künstlerin und Filmemacherin Kayako Oki. Die studierte Textildesignerin spürt in ihren filmischen Werken der Stofflichkeit des Schmalfilmmaterials nach, färbt schneidet und klebt als wären ihre Filme für das Tragen auf der Haut gemacht. Es sind zarte experimentelle Farbräusche und Meditationen, die liebevoll den Prozess der Filmentstehung abbilden und die eigene Vergänglichkeit selbstbewusst in sich tragen. Insbesondere in ihrem Werk wird greifbar, was der Verlust des analogen Filmmaterials tatsächlich bedeuten würde: Ohne den Zelluloidfilm gäbe es bestimmte Filme einfach nicht. Und ohne den Zelluloidfilm wird es sie in Zukunft auch nicht mehr geben.
„Shades of Safflower-dyed Celluloid“ (JP 2015) von Kayako Oki
Abseits aller nostalgischen Gefühle, die Filmemacher wie Christopher Nolan oder Quentin Tarantino mit Zelluloid verbinden und abseits der haptischen Erfahrung am Filmset und im Schnittraum, die eine direkte Auswirkung auf den Umgang mit Film und dessen Entstehung (also auch das Denken in konkreten Bildern) haben, bedeutet der Verlust des Trägermaterials Film den Verlust der Möglichkeiten mit dem Material zu arbeiten und zu experimentieren. Der Einsatz von Chemikalien, das Ausbleichen in der Sonne, Zerkratzen, Zerstören, Überkleben, die Herstellung eigener Emulsionen, Mehrfachbelichtungen, Fotogramme und all die zufälligen Effekte, die das Unplanbare mit sich und einzigartige Filme hervorbringen – nichts von all dem könnte dann noch gemacht werden.
Das digitale Kino kennt keine Experimente dieser Art und keinen Prozess, es kennt nur das komplexitätsarme Duo 0 und 1 als anwesend und abwesend, als an und aus, das durch Strg+Z immer kontrollier- und also berechenbar ist. Das kann durchaus seinen künstlerischen Reiz haben. Aber das Werden, das Erleben, das Erfahren oder die Gewissheit, dass auch das Zelluloid an der Welt und in der Zeit erblühen und vergehen kann sind hier ausgelöscht. Dabei besteht die Poetik des Bildes in seiner Unsicherheit, seiner anderen Zeitlichkeit und dem konstanten Spiel mit dem Nichtwissen – und dem Hoffen. Wer schon einmal einen Rollfilm im Labor seines Vertrauens abgegeben hat und zwei Tage auf die entwickelten Bilder warten musste, kennt dieses Gefühl.
Doch gerade im Moment seines Verschwindens, wenden sich Filmemacher*innen dem Zelluloid wieder zu und suchen nach den Potentialen dieses einzigartigen Trägermaterials. Und es bleibt zu hoffen, dass die Filme Kayako Okis und anderer, die Arbeit der Künstlerlabore und das sorgfältige Kuratieren solcher Themen längerfristig dazu führen, dass das Verschwinden des Zelluloids da aufgehalten wird, wo es beginnt: in der Herstellung des Rohfilmmaterials. Denn mal ehrlich: Wer kann schon ohne Haut leben?
Hier geht es zu einzelnen Filmkritiken von Valentina Smirnova und Ricardo Brunn.