In der Garderobe des Wiener Konservatoriums sitzt eine Frau im grauen Pullover, minutenlang sehen wir nicht mehr als ihren nahezu reglosen Rücken. Die lange Einstellung gehört zu den Marterwerkzeugen, mit denen der Regisseur uns Zuschauer quält: beklemmende Ruhe, unguter Stillstand der Dinge. Die Starre des Körpers, die Starre der Kamera, die Starre, in der die Gefühle gefangen liegen. Die Frau hält ihren Kopf leicht gesenkt, einmal greift sie nach ihrem rechten Ohr, reibt es, reckt die Schulterblätter, dann rückt eine Kopfbewegung ihr Gesicht ins Halbprofil: Sie mustert die Mäntel und Jacken an den Garderobenständern, sackt wieder in sich zusammen. Sie ist eingemauert in einen Kerker, aus dem sie heraus will, aber nicht heraus kann. „Wenn man selbst ein Vergehen begeht und nicht lebt, kommt man ins Gefängnis, das man dann zur Strafe auch noch selber sein muss“, hat Elfriede Jelinek, Autorin der Romanvorlage, in ihrer vertrackten Prosa zu Michael Hanekes Film „Die Klavierspielerin“ (Ö/D 2001) geschrieben.
Die Klavierlehrerin Erika Kohut (Isabelle Huppert) geht durch eine Shopping Mall, die Kamera beobachtet sie von der Seite und verfolgt, wie sie sich zwischen den Licht- und Spiegeleffekten der Läden an Menschen vorbei und durch Menschengruppen hindurch schiebt – wie eine steife, automatisch in Bewegung gesetzte Puppe, die darauf programmiert ist, Hindernissen auszuweichen. Im Vorbeigehen streift jemand ihre Schulter, abrupt wendet sie sich um: Entrüstung, Strafe im Blick. Unkontrollierte Berührung empfindet sie als feindliche Aggression. Kontrolle und Terror: Ihrem Schüler Walter Klemmer (Benoît Magimel), der sich in sie verliebt hat, sagt sie: „Ich werde aufschreiben, was Sie mit mir machen dürfen.“ In einem langen Brief diktiert sie ihm minutiös die sadomasochistischen Gewaltexzesse, die sie von ihm verlangt.
Die Musik der Hochkultur, schreibt Elfriede Jelinek, sei der Meister, der Klavierlehrer ihr Sklave. Erika Kohut ist Sklavin und Despotin der Musik zugleich, sie setzt den inneren Terror im Umgang mit ihren Schülern fort, die sie demütigt, peinigt, knechtet. Ihr „Vergehen“ ist, dass sie „nicht lebt“ – sie ist ein Dementi der großen Musik, der sie sich verschrieben hat. Dafür bestraft sie sich selbst und treibt die Strafe bis zu grausamen Attacken auf den eigenen Körper.
Im Kollegium hat sie gegen die Aufnahme von Klemmer ins Konservatorium votiert – nun sitzt sie zu Hause auf dem Rand ihrer Badewanne und bearbeitet in einer quälend langen Operation mit einer Rasierklinge ihre Vagina, bis sehr langsam eine schmale Blutspur zum Boden der Wanne rinnt. Die Kälte des Kamerablicks auf diesen Vorgang, auf das klinische Ambiente des Badezimmers, auf blanke Kacheln und blitzende Armaturen scheint vom Gegenstand der Beobachtung infiziert. Keine Groß-, keine Nahaufnahme, die Anteilnahme suggerieren könnte – die Kamera scannt ein bestimmtes Geschehen, das in einem bestimmten Raum geschieht. Haneke arrangiert, was er uns zeigen will, so gnadenlos unsentimental, wie Erika Kohut ihre Perversionen, ihre Selbstdemütigungen und ihren Hass organisiert: mit der kalten Wut der Präzision.
Isabelle Hupperts Gesicht ist eine Skulptur aus Eis, ihr Körper bis in die Schulterspitzen auf Abwehr oder Angriff, auf Gewalt und Kontrolle eingestellt – auch noch ganz am Ende des Films, wenn sie allein und starr im hell erleuchteten Foyer des Konservatoriums stehen wird, wenn alle Konzertbesucher in den Saal geströmt sind und auch Klemmer mit einem spöttischen Gruß an ihr vorbeigelaufen ist – wenn ihr Gesicht sich grausig verzerren und sie sich, erst langsam und dann mit einem kräftigen Stoß, ein Küchenmesser tief unter die Schulter rammen wird.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.
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