The Tree of Life

(USA 2011; Regie: Terrence Malick)

Dein Lieben ist Sehen

Man könnte mit dem Buch Genesis beginnen. Oder wenigstens mit Paulus, der im Kolosserbrief ein Leben in „überreicher“ Danksagung fordert. Beides wäre den Ambitionen und Überambitionen des fünften, lang erwarteten und x-fach verschobenen Spielfilms von Terrence Malick nur angemessen: Die allgegenwärtige Behauptung von Bedeutsamkeit, die dreiste Zumutung eines Filmwurfs, in dem der Urknall und die Entstehung des Kosmos‘ neben dem Leben der texanischen Familie der O’Briens in den 1950er-Jahren stehen – der Einstieg in das Schreiben über „The Tree of Life“ vermittels des Gigantomanen läge nahe. Wenigstens seit Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, das liest und hört man allenthalben, habe niemand mehr die Kühnheit besessen, unter Aufbietung aller filmischen Möglichkeiten der Zeit, die ganze Geschichte erzählen zu wollen. Doch verglichen mit Malick wirkt Kubricks Einstieg bei den Menschenaffen schon fast übereilt: Der erstere beginnt immerhin direkt am Firmament, lässt Sterne explodieren und Sonnen sich bilden. Die ganze Geschichte eben. Selbst noch jenen Teil, dem eigentlich keine Geschichte gegeben ist – weil er noch im wörtlichen Sinne zeitlos war.

Aber vielleicht sollte man zunächst um etwas mehr Bodenhaftung bemüht sein und anderswo beginnen, zum Beispiel mit Walter Benjamin. Der schreibt in „Über den Begriff der Geschichte“ einen oft zitierten Satz: „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.“ Bilder also. Fangen wir mit Bildern an. Etwa jenem von den drei kindlichen Brüdern, die im dichten Nebel eines die Botanik mit DDT besprühenden Fahrzeuges herumtollen. Mit einem anderen vielleicht, das die wundersam-schockierte Begegnung eines Kleinkindes mit seinem neugeborenen Bruder zeigt. Oder mit dem Bild vom Gesicht eines Jungen just in dem Moment, da er sich entscheidet, Unrechtes zu tun – und weiß, dass es unrecht ist. Und man könnte auch die Hände, Gesichter und Körper beschreiben, die sich hier immer wieder gegen das gleißende Sonnenlicht recken und so von einem uns oft blendenden Kranz umstrahlt werden. Darauf könnte man sich beschränken und diese Bilder zu den „auf Nimmerwiedersehen aufblitzenden“ Atomen einer in Wahrheit tief demütigen Vision erklären, die mit aller Macht die Leuchtkraft von Bildern gegen die Vergänglichkeit behauptet.

Doch man würde Malick so nicht auf die Spur kommen. Sein Film lässt sich weder auf eine größenwahnsinnige Sternfahrt reduzieren, der eine mitunter arg pathetische Familiengeschichte um drei Jungen und ihre so unterschiedlichen wie gleichermaßen liebenden Eltern beigemischt ist. Noch könnte man behaupten, es ginge hier um Erbauung: Um die Einordnung aller menschlichen Liebe, Leiden und Gleichgültigkeiten in einen metaphysisch-sinnstiftenden Überbau. Sicherlich würde all das den Film zum Teil treffend beschreiben, doch es würde übersehen, wie gleichzeitig, gehäuft und dicht diese Elemente neben- und ineinander ablaufen. Denn so schnell bewegt sich hier alles, so entfesselt fliegt die Kamera ihren wenigen Figuren nach, so beiläufig wird die Sonne zu einem „roten Riesen“, dass man bisweilen nicht mehr weiß, ob es die Erdenschicksale sind, die hier klein erscheinen sollen, oder vielleicht doch die von alledem unbekümmerten Sternensysteme und Dinosaurier, die in einer Szene die Erde bewandern.

So muss man vielleicht nicht gleich biblisch werden, aber doch zumindest an einem anderen Berührungspunkt zwischen Himmel und Erde ansetzen, wenn man der seltsamen Wirkung von „The Tree of Life“ schreibend nachfühlen möchte. Eventuell kann ausgerechnet ein mittelalterlicher Denker hier zum Ortskundigen werden. Nikolaus von Kues jedenfalls schreibt in seiner berühmten Abhandlung „De visione dei“ („Vom Sehen Gottes“) geradezu glühend von der liebenden Zuwendung Gottes im Blick: „Mein Herz, o Herr, findet keine Ruhe, weil Deine Liebe es mit solcher Sehnsucht entflammt, dass es nirgends als in Dir allein zu ruhen vermag. (…) Dein Lieben ist Sehen. Dein Vater-Sein ist Dein Blick, der uns alle väterlich umfasst. (…) Nähre mich mit Deinem Blick, o Herr, und lehre mich, wie Dein Blick jeden sehenden Blick und alles Sichtbare und jedes Wirken des Sehens und jede sehende Kraft und alles aus ihnen entstehende Sehen sieht, denn Dein Sehen ist Begründen. (…) Du siehst, o Herr, und hast Augen. Du bist also diese Augen, denn Dein Haben ist Sein. Darum betrachtest du alles in Dir selbst. Wäre in mir das Sehen das Auge, wie es bei Dir ist, mein Gott, dann würde ich in mir alles sehen.“

Was bei Nikolaus von Kues in seiner Emphase auch dem traditionellen philosophischen Primat des Sehens vor den anderen Sinnen geschuldet sein mag, wird bei Malick, so scheint es, mit nicht minderer Rauschhaftigkeit in Filmsprache transponiert. Malick macht – und das nicht erst mit „The Tree of Life“ – in wohlmöglich noch nie dagewesener Qualität Ernst mit der „göttlichen“ Perspektive des Kameraauges. Gemeint ist damit nicht bloß der vermeintlich allumfassende „scope“ seiner gewaltigen Bilder. Von ungleich größerer Bedeutung ist der zutiefst berührende Grund aus Sanftheit und Frieden, der sich hier in einem entschieden liebenden Blick mitteilt. Selbst dort, wo sich, wie in „Der schmale Grat“ (1998), das Menschenantlitz im Töten des Anderen zur Fratze verzerrt, ist bei Malick die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Gesichter nachgerade schockierend. Eine ungeheure Erschrockenheit liegt dann in diesen übergehenden Augen. Eine Erschrockenheit aber, die sich paart mit Verwunderung, mit Staunen: Entsetzen ob der Möglichkeit, überhaupt töten zu können – und Staunen über die Schönheit des Sterbens. Kaum einem anderen Filmemacher ist es so ernsthaft bestellt um das fast vergessene Wort von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In „The Tree of Life“ wird diese Gottesebenbildlichkeit in der Personenzeichnung zu einer Feier der Schönheit. Vielleicht muss man – es sei gewagt – gar ein Vorbild vom Format Botticellis heranziehen, um auf eine verwandte cherubische Anmut im Gesicht des Menschen zu stoßen.

Doch gänzlich entrückt ist hier selten etwas: Malicks Film beginnt fast unmittelbar in der Katastrophe, im Überbringen der Nachricht vom Tod eines ihrer Söhne an die von Jessica Chastain mit beinahe unendlichem Duldungsvermögen verkörperte Mrs. O’Brien. Schreie sind zu hören, die Bilder und der Blick tragen Trauer und nach einer langen Zeit, während der die mannigfaltigen Evolutionsprozesse auf diesem Planeten die Leinwand füllen, werden wir auch sehen, wie das Böse in die idyllische Kinderwelt der drei Söhne der O’Briens gerät. Auf leisesten Sohlen kommt es und findet niemanden, dem es die Schuld an seinem Sein geben könnte. Es passiert halt, dass der zwar strenge, aber liebende Vater (Brad Pitt) plötzlich brutal wird, genauso wie es passiert, dass der älteste der Söhne, Jack, zunächst ein Tier und dann einen seiner Brüder quält. Die Grundlosigkeit dieses Bösen verblüfft: Es passiert auf die Art, wie am Malick’schen Himmel Sterne verglühen. Und immer wieder ist da jenes schaudernd-schöne Erschrecken, das Zittern im Nachgang der bösen Tat.

Der Weg der „Natur“ und der Weg der „Gnade“ sind die beiden konkurrierenden Lebensrouten, die Mrs. O’Brien in den ersten Sekunden des Films in einem der zahlreichen Off-Monologe vorstellt. Ihr Sohn Jack (als sich erinnernder Erwachsener später von Sean Penn fast stumm dargestellt) trägt diesen Konflikt in Gestalt seiner Eltern ein Leben lang in sich und droht, fast daran zu zerbrechen. Deshalb nehmen seine Monologe oft die Form eines Gebetes, einer Zwiesprache mit Gott an. Doch es ist meist ein Namenloser, der hier mit „You“ angeredet wird. Ein moderner Gott, der nicht länger durch Wunder antwortet, wenn er gerufen wird. Nikolaus von Kues aber war sich sicher: „Solange wir, Deine Kinder, Dich als Kinder betrachten, hörst Du nicht auf, uns väterlich anzusehen.“ Von dieser Gotteskinderschaft seiner Figuren rückt Malicks Film keinen Augenblick lang ab. Die Gebete, die sie sprechen, sind daher auch Gebete an und für sie selbst als fortwährende Erinnerung an den unerfüllbaren Anspruch, den der mittelalterliche Philosoph von seinem Gott erhält: „Sei du dein, und ich werde dein sein.“ Auch bei Terrence Malick folgt daraufhin ein Lobgesang: Auf die Schöpfung, das Licht, das Sehen, das Kino.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Benotung des Films :

Janis El-Bira
The Tree of Life
(The Tree of Life)
USA 2011 - 138 min.
Regie: Terrence Malick - Drehbuch: Terrence Malick - Produktion: Brad Pitt, Grant Hill - Bildgestaltung: Emmanuel Lubezki - Montage: Daniel Rezende, Billy Weber - Musik: Alexandre Desplat - Verleih: Concorde - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Brad Pitt, Sean Penn, Jessica Chastain, Fiona Shaw, McCracken, Laramie Eppler, Tye Sheridan, Joanna Going, Jackson Hurst, Crystal Mantecon, Kimberly Whalen, Zach Irsik, Will Wallace
Kinostart (D): 16.06.2011

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0478304/