Die Wohnung

(D / ISR 2011; Regie: Arnon Goldfinger)

Wie uns Oma Gerda langsam unheimlich wurde

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen Ende des Films einmal. Da ist der Filmemacher Arnon Goldfinger schon nicht mehr neugierig, sondern eher ratlos. Angefangen hatte der Film eher harmlos: Gerda Tuchler, die Großmutter des Filmemachers, war im hohen Alter von 98 gestorben und jetzt muss ihre Wohnung geräumt werden.

Erstes Problem: Gerda und ihr Mann Kurt konnten sich offenbar von wenigen Gegenständen trennen, durchaus zur Belustigung ihrer Nachkommen finden sich Sammlungen von eleganten Handschuhen, ziemlich angejahrter Pelzmode und allerlei Schnickschnack wie ein paar Ausgaben des Nazi-Kampfblattes „Der Angriff“. Zweites Problem: Gerda und Kurt haben Deutschland 1937 verlassen, wurden aber in Israel offenbar nie heimisch. Sie lernten kein Hebräisch, sprachen mit ihren Enkeln lieber englisch, hatten eine komplett deutschsprachige Bibliothek.

Noch irritierender: es existieren Fotos von Gerda und Kurt, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik aufgenommen wurden. Mit auf den Fotos: ein deutsches Ehepaar. Kein Familienmitglied mag davon wissen, aber es tauchen Briefe auf, die von der Geschichte einer langen Freundschaft erzählen. Wer ist dieses Ehepaar von Mildenstein? Und wie kommt die Nazi-Propaganda in den Besitz von Gerda und Kurt? Warum haben sie sich davon nicht getrennt?

Goldfingers Mutter Hannah erklärt, man habe über Familiengeschichte nie länger gesprochen. Goldfinger macht sich auf die Suche, stößt auf Mauern des kollektiven Beschweigens und sich die Geschichte-Schönredens. Doch, siehe oben, wenn man mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit anfängt, öffnen sich Tore des Schreckens – und aus einer ganz privaten Familiengeschichte wird eine-deutsch-israelische Co-Produktion.

Baron von Mildenberg war nicht nur ein Reisejournalist, der sich für das Leben in Palästina interessierte, sondern ein SS-Mann, der lange vor 1933 in die Partei eingetreten war, als Leiter des NS-Judenreferats direkter Vorgesetzter von Adolf Eichmann war, dann Referent im Reichspropagandaministerium wurde und schließlich mit bereinigtem Lebenslauf als Repräsentant von Coca-Cola sein Auskommen fand. Kurt Tuchler war ein glühender Zionist und träumte vom gelobten Land, sympathisierte also vielleicht sogar mit einigen Ideen Mildensteins vom Judenstaat in Palästina. An dieser Freundschaft unter kultivierten Menschen konnte offenbar auch der Holocaust nicht rütteln: obwohl Gerdas Mutter Ende 1942 in Theresienstadt »verschwand«, blieb man auch nach dem Krieg befreundet.

Von all dem haben die Kinder und Enkel Gerdas nichts gewusst. Goldfinger stöbert in Wuppertal auch Mildensteins Tochter Edda auf, eine eloquente Frau, die sich sehr gut an die jüdischen Freunde ihrer Eltern erinnert. Besser jedenfalls, als an die NS-Karriere ihres Vaters, die offenbar im Hause Mildenstein mit einer Legende kaschiert wurde. Doch Goldfinger lässt nicht locker, findet eine alte „Spiegel“-Story von 1966 über die Geschichte der SS, spricht mit dem Verfasser, geht in die Archive, befragt Historiker. Schließlich kommt es erneut zur Begegnung mit Tochter Edda, nur dass der mittlerweile von seinen Recherchen ziemlich überforderte Filmemacher jetzt Unterlagen dabei hat, die bestimmte Fragen zulassen. Die Situation wird rasch unbehaglich, obwohl der Tonfall noch immer freundlich ist. Doch hatte nicht kurz zuvor Hannah nicht achselzuckend gewarnt: „Würdest du einem Freund auf die Nase binden, dass sein Vater ein Mörder war, wenn er es selbst nicht weiß? Wozu?“

Wie in jedem guten Krimi bleiben am Schluss entscheidende Leerstellen, auf die sich niemand einen Reim zu machen weiß. Doch auf dem Weg dorthin wurde man Zeuge, dass nicht nur auf Täterseite nach 1945 geschwiegen wurde. Gleich zu Beginn des Films hatte ein Antiquar darauf hingewiesen, dass es in Israel Menschen gibt, die 10 oder 20 Jahre in Deutschland gelebt haben, danach aber 50 Jahre in Israel. Als Fremde, in der Diaspora, weil sie in ihrer Seele Deutsche blieben. So wie Gerda und Kurt?

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Benotung des Films :

Ulrich Kriest
Die Wohnung
(Ha'dira)
Deutschland / Israel 2011 - 97 min.
Regie: Arnon Goldfinger - Produktion: Arnon Goldfinger - Bildgestaltung: Philippe Bellaiche, Talia Galon - Montage: Tali Helter-Shenkar - Musik: Yoni Rechter - Verleih: Salzgeber - FSK: ohne Altersbeschränkung - Besetzung: Axel Milberg (Erzähler, deutsche Fassung)
Kinostart (D): 14.06.2012

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.de/title/tt2071620/