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„Ich glaube fundamental an genau gestellte Fragen. Sie sind die eigentliche, tiefe Bedeutung des Erzählens, ja, von Kunst überhaupt.“

( , Regie: )

Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“
von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“. Ulrich Kriest: Herr Spielmann, Sie unterrichten an der Wiener Filmakademie das Drehbuchschreiben, was ich insofern bemerkenswert finde, weil …

Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“.

Ulrich Kriest: Herr Spielmann, Sie unterrichten an der Wiener Filmakademie das Drehbuchschreiben, was ich insofern bemerkenswert finde, weil ich gerade im Drehbuch die große Stärke von „Oktober November“ erkenne. Der Film ist unerhört dicht, voller motivischer Signale, Echos, Doppelungen und Spiegelungen – fast wie eine angeregte Diskussion voller neuer, wiederholter, variierter Ideen. Wie erzählt man solch eine komplexe Konstellation von Figuren, ohne die Zuschauer zu unter- oder überfordern. Wie geht man an ein solches Projekt heran?
Götz Spielmann: Das war tatsächlich die größte Herausforderung, den komplexen Stoff in eine schlüssige, dichte Erzählung zu bringen. Ich wollte einen Film machen, der dem Leben möglichst nahe kommt, das war mein Ausgangspunkt, mich dem erzählerisch zu nähern, was ich als Essenz des Lebens spüre. Wenn man das so ausspricht, klingt es banal, aber genau so war es. Das Erzählen heute folgt sehr oft, auch im Arthaus-Film, der immer gleichen dramatischen Struktur, der sogenannte „klassischen“ Dramaturgie. Ich wollte davon unabhängig erzählen, nicht nach der Schablone, sondern radikal, frei. Das war mein Beginn. Es war überraschend schwierig, das eigene Können beiseite zu schieben.

In ihrem Film fallen Sätze wie „Kein Mensch weiß, wie er wirklich ist!“ oder „Du bist nicht das, was du denkst!“ Geben solche Sätze den Kammerton ihres Films vor?
Vielleicht sind da und dort ein paar gedankliche Hinweise versteckt, wie man die Geschichte betrachten oder deuten könnte. Bei manchen mögen diese Sätze etwas zum Klingen bringen.

Mir schien der Aspekt wichtig, dass man sich seiner Biografie nur durch Sprache versichern kann. Man erzählt sich Geschichten, Erinnerungen und hofft darauf, dass sich mit dem Gegenüber eine Kongruenz herstellen lässt. Bei den beiden Schwestern gelingt das ganz lange nicht.
Ich würde vorschlagen, hier statt von Biografie von Identität zu sprechen. Der Film stellt die Frage nach unserer Identität, anhand von den Lebensläufen einiger Figuren, mir den beiden Schwestern im Zentrum. Ob man sich derer nur durch Sprache versichern kann? Ich weiß nicht… Vielleicht ist es ja gerade die Sprache, ihr Definitionszwang, der uns unsere Identität verschleiert. Könnte ja sein.

Im Presseheft finden sich dazu ein paar Fragen: Wer bin ich? Bin ich das, was ich sein will? Warum bin ich so, wie ich bin? Bin ich das, was ich sein kann? Insbesondere die letzte Frage ist ja geradezu philosophisch. Ihre Filme bestechen durch eine ungewöhnliche Verbindlichkeit. Sie wirken auf mich durchdacht, aber fragend.
Das freut mich, wenn das so spürbar wird. Ich glaube fundamental an genau gestellte Fragen. Sie sind die eigentliche, tiefe Bedeutung des Erzählens, von Kunst überhaupt. Und je genauer und umfassender die Frage gestellt ist, desto verbindlicher ist sie auch. Dann setzt sie etwas in Gang, in Bewegung, generiert Reaktion, Veränderung. Die genaue Frage ist weitaus radikaler als die sogenannte „Gesellschaftskritik“, die derzeitige Kunst häufig so unverbindlich absondert.

Wenn Verena an der Bücherwand des Arztes entlang geht, sagt sie, dass sie zu wenig gelesen habe. Und dann: „Das kann man ja noch ändern!“ Ist sie da zu optimistisch?
Ach, wer weiß. Veränderung ist ja möglich und nicht unbedingt nur Illusion. Ich jedenfalls bin kein Fatalist.

Man tut als Zuschauer gut daran, den Figuren nicht nur zuzuhören, sondern ihnen auch beim Spiel genau zuzuschauen. Es wird nicht immer alles ausgesprochen, was zwischen den Figuren mitschwingt. In der ersten Szene der Begegnung zwischen den Schwestern erzählt die Art und Weise, wie sie sich zueinander oder besser gegeneinander setzen, mehr über ihr Verhältnis als die Worte, die sie wechseln. Wie haben Sie diese Intensität hergestellt?
Das betrifft den ganzen Arbeitsprozess, das Drehbuch, die Proben mit den Schauspielern, die gemeinsame Arbeit an den Figuren, ihren Beziehungen, ihren Vorgeschichten, und zuletzt die Arbeit am Set. „Oktober November“ ist episch erzähltes Kino, allerdings ohne den Aufwand, den episches Erzählen normalerweise treibt. Ein episches Kammerspiel, könnte man sagen. Nicht getrieben vom üblichen Plot, der, wenn er funktioniert, manche Ungenauigkeit verzeiht. Wir wussten, dass wir in jeder Szene ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit erreichen müssen, damit sie überhaupt Sinn macht. Der Film braucht diese Intensität des Schauspiels, weil er sonst auseinanderfällt. Ein hohes Risiko natürlich.

Etwas aus dem Rahmen fällt meines Erachtens die Figur des David, mit dem Sonja offenbar kurzzeitig ein Verhältnis hatte. David scheint mir ein konventionelle Funktionsfigur, die zunächst dazu dient, Sonjas Einsamkeit und Depression ins Spiel zu bringen.
Andererseits ist er ja durch die Begegnung mit Sonja verändert worden, in eine Art Wahrhaftigkeit gefallen, gibt seine Ehe preis, weil er dort Kälte und Gleichgültigkeit findet und nicht mehr aushält.

Was ja auch auf Sonja gemünzt sein könnte, die ja in der Öffentlichkeit immer eine professionelle Maske aufhat.
Ja, sie hat eine öffentliche, professionelle Identität. Eine Fassade, hinter der sich viel Ratlosigkeit, Leere und Traurigkeit verbirgt.

Der Ehebruch wird im Film gleich mehrfach gespiegelt, in der Ehe der Eltern, in der Ehe zwischen Verena und Michael. Der Film registriert das, wertet aber nicht.
Natürlich nicht. Ich habe ja weder ein Weltbild zu verkünden noch eine Ideologie noch eine Moral. Bin weder Politiker noch Priester. Ich erzähle Geschichten. Der Zuschauer braucht keine Belehrung, wie er dies oder jenes zu bewerten habe.

Eine etwas rätselhafte Figur erscheint mir der Landarzt, der in mehrfacher Hinsicht – als Arzt und Mann – mit der Familie konfrontiert wird. Mich hat diese Figur an bestimmte Dramen des Naturalismus erinnert, wo ja auch immer ein Beobachter von Außen hinzukommt. Ist der Landarzt im Film der Stellvertreter des Erzählers?
Möglich, er ist ja auch, wie Sie sagen, Beobachter, wie der Regisseur auch. Aber das sind keine bewusst gesetzten Zusammenhänge.

Diese Figur wird als Einsiedler eingeführt, dem – neben dem Beruf – die Bücher und die Musik genügen. Der Arzt scheint mit seiner Empathie geradezu weise und strahlt eine große Ruhe aus. Besonders überrascht: die Figur kommt damit durch, wird nicht gebrochen.
(lacht) Ja, im Zeitalter des „kritischen Bewusstseins“ mag es merkwürdig sein, wenn man von Figuren erzählt, deren Leben einigermaßen in Ordnung ist, einfach so. Es war übrigens schwierig zu besetzen, denn die Figur braucht gelassenes Charisma, um zu funktionieren. Ich bin sehr froh, dass Sebastian Koch diese Rolle übernommen hat.

An dem Arzt beißt sich die geübte Flirtmaschine Sonja die Zähne aus. Er lässt sie ziemlich kühl abblitzen.
Er durchschaut ihr Spiel und legt den Finger auf ihre Wunde, wenn er sie fragt: „Bewundert und geliebt werden? Geht das überhaupt zusammen?“ Sie erschrickt, als er diese Frage stellt. Eine Illusion wird ihr plötzlich sichtbar.

Sonja bekommt im Lauf des Films gewissermaßen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie, die ohnehin eine schwach ausgebildete Identität hatte, verliert diese auch noch durch die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses. Ist das als eine Chance zu werten?
Ich denke es mir so, ja. Illusionen, Irrtümer abzulegen ist erst einmal schmerzhaft, die Ent-Täuschung tut weh. Aber danach lebt es sich besser.

Die Begegnung zwischen Sonja und dem Landarzt findet unmittelbar nach einer Begegnung Sonjas mit einer Gruppe von Pilgern auf einem Berggipfel statt. Hier lässt sich der Film Zeit für ein Vaterunser. Dass der Vater sich nach der Nahtod-Erfahrung so stark verändert, wird von Verena einmal mit der Bemerkung „Vielleicht ist er ja religiös geworden?“ kommentiert. Auf dem Krankenbett spottet wiederum der Vater über die Pilger: „Die Leute suchen nach etwas und marschieren in der Gegend herum. Dabei braucht man gar nicht suchen. Es ist alles da und gut so, wie es ist.“ Welche Rolle spielt bei der Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage die Spiritualität? Darf man diese Spur auch auf den Filmemacher Götz Spielmann beziehen?
Die Frage nach unserer Identität lässt sich ja nur sinnvoll stellen, wenn wir die größte Gewissheit unseres Lebens einbeziehen: dass es endlich ist, dass wir sterblich sind. Da kommt man ja ganz von selbst auch auf spirituelle Fragen und Ebenen, weil diese Tatsache vom Verstand nicht zu begreifen ist. Er muss überschritten werden, will man auf dieser Ebene lebendig bleiben. Nichts anderes ist Spiritualität. Sie steht nicht im Gegensatz zu Vernunft und Intellekt, sondern findet dort statt, wo der Intellekt nicht hinreicht. Kunst ist doch überhaupt erst dann relevant, wenn sie auch eine spirituelle Ebene hat. Wo die fehlt, ist es bloß bebilderte Ideologie für eingeweihte Konsumgruppen, die sich wechselweise ihre Urteile und Vorurteile bestätigen. Kann man ja bei den großen Festivals gut beobachten.

Bleibt noch eine abschließende Anmerkung! Sie zeigen ja durchaus ausführlich auch die Schauspielerin Sonja bei der Arbeit, indem Se Bilder von Dreharbeiten zeigen, die gewissermaßen einerseits Sonjas Professionalität belegen, andererseits aber auch wie ein Brecht’scher Verfremdungseffekt funktionieren. Das fand ich unerhört riskant, weil es dem Film doch gerade um die Erzeugung darstellerischer Intensität geht, gerade auch (aber nicht nur), wenn das lange, mühselige Sterben des Vaters gezeigt wird. Diese Szene sind ja genau so »gemacht« wie die Fernsehkrimi-Szenen, aber man vergisst das ganz schnell wieder. Hier hätte der ganze Film scheitern können. So, wie er jetzt gelungen ist. Waren Sie sich dieses Risikos bewusst?
Ja sehr, natürlich. Wenn man mittelmäßiges Filmemachen im Film zeigt, forciert man eine kritische Wachheit des Zuschauers. Um die geht es mir aber grundsätzlich. Ich habe zwar das Ziel, emotionales Kino zu machen, aber eines, das den Zuschauer nicht manipuliert, auch nicht durch Kitsch, sondern das ihm die Freiheit lässt, bei aller Emotion immer auch bei sich selbst zu bleiben.

„Warum erzählen wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichten?“

( , Regie: )

Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“.
von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“. Ulrich Kriest: Ich habe „Westen“ auf dem Festival in Saarbrücken gesehen und jetzt noch einmal. Beim zweiten Sehen …

Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“.

Ulrich Kriest: Ich habe „Westen“ auf dem Festival in Saarbrücken gesehen und jetzt noch einmal. Beim zweiten Sehen wird er noch interessanter, weil subtiler und vielschichtiger. Mir kam ein alter Film von Christian Ziewer in den Sinn. Dessen „Aus der Ferne sehe ich dieses Land“ spielt unter linken Exil-Chilenen, die sich in West-Berlin neu orientieren müssen. Der wurde 1978 gedreht. In diesem Jahr spielt jetzt auch „Westen“. Es herrscht in beiden Filmen eine vergleichbar farblose Atmosphäre von Kälte, Enge, Muffigkeit und Bürokratie.
Christian Schwochow: Diesen Film kenne ich leider nicht. Mir ging es darum, die Enge der Ankunft physisch spürbar zu machen. In diesen Notaufnahmelagern lebte man ja mit fremden Menschen auf engstem Raum. Das Lager war wie ein Organismus, der nie schlief. Man war immer in Begleitung von Menschen, auch, wenn man sie nicht gesehen hat. So farblos, wie es Ihnen erschienen ist, ist der Film übrigens nicht. Es ist sogar mein bislang farbigster Film geworden.

Warum erzählt man so eine Geschichte denn 2014 noch? Nicht aus Nostalgie, nehme ich an?
Aus verschiedenen Gründen. Ich habe den Roman von Julia Franck vor zehn Jahren gelesen, als er gerade publiziert wurde. Damals mehrten sich Bücher von Autoren mit einem ost-deutschen Hintergrund, die einen anderen Blick auf jene Zeit warfen. Julia Francks Roman entwickelte einen Sog, weil er eine besondere Welt entwarf, die mir fremd war. Die Ausreise meiner Familie aus der DDR verlief ja komplett anders. Ich kannte solche Lager nicht, aber ich kannte diese Emotion: sich in ein neues Leben sehnen und nicht zu wissen, was einen erwartet. Und dann anzukommen und lernen zu müssen, dass ein Neuanfang wesentlich schwieriger ist als erwartet. Ich weiß, dass das damals das Schicksal von vielen Menschen war – und bis heute ist. Denn das ist eine universelle Geschichte, dafür braucht es die DDR gar nicht. Anders als meine vorherigen Filme wurde „Westen“ mittlerweile in ganz viele Länder verkauft. Das freut mich natürlich.

Ein gutes Stichwort. Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, so wird uns gerne erzählt, freuten sich die Menschen wie Bolle über das Ende der deutschen Teilung. Man feierte auf den Straßen Berlins, dass die Brüder und Schwestern aus dem Osten endlich zum Bananenkaufen mit ihren Trabbis über den Kudamm fahren durften. Ihr Film spielt 1978, das Begrüßungsgeld kommt auch vor, aber ansonsten hält sich in Ihrem Film die Gastfreundschaft des Westens sehr in Grenzen.
Die Nacht des Mauerfalls 1989 war sicherlich einzigartig und auch ehrlich. Dennoch bin ich der Meinung, dass sich beide Seiten anders miteinander hätten beschäftigen müssen. Man hat erwartet, dass sich Ostler schnell anpassen. Das ist bis heute so. Wenn ein „Spiegel“-Titel „60 Jahre Deutschland“ erscheint, dann repräsentiert die Titelblatt-Collage fast ausschließlich Ereignisse der westdeutschen Geschichte. Die DDR wird als das kleinere, das weniger wichtige Deutschland gesehen. Das wird im Osten wahrgenommen – und führt mitunter zu einer nicht angemessenen Selbstwahrnehmung als Opfer. Insgesamt scheint mir zu wenig Neugier im Spiel zu sein. Warum erzählen wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichten?

So wie es „Westen“ tut?
Ja. Als meine Familie damals, im Herbst 1989 in den Westen kam, wurden wir freundlich empfangen, aber man war auch mit uns überfordert. Ich war voller Eindrücke der Ereignisse, aber meine Mitschüler wussten nicht damit umzugehen, dass da plötzlich ein politisiertes Kind in der Klasse saß. Die anfängliche Neugier schlug schnell in Anpassungsdruck um.

Es gibt in Ihrem Film eine schöne Szene, wenn sich das Kind Alexej erstmals einer Kindergruppe vorstellen soll und beim Lehrer auf Unverständnis stößt, obwohl man dieselbe Sprache spricht. Weil der Lehrer nicht weiß, wie ein Pionierhalstuch ausschaut.
Diese Szene kommt eins zu eins aus meinem Leben.

In einer Parallelhandlung greift die staatliche Macht im Osten wie im Westen auf den nackten Körper der Protagonistin zu. Im Westen mit der Pointe, dass sie von der untersuchenden Ärztin auf ihre „Lagertauglichkeit“ hin geprüft wird. Ist das nicht etwas zu dick aufgetragen?
Das ist in der Realität noch viel extremer gewesen. Die Ausgebürgerten wurden misstrauisch behandelt, weil man befürchtete, sie könnten Krankheiten übertragen. Das hatte schon etwas sehr Beängstigendes.

Sie schildern die Atmosphäre in diesem Notaufnahmelager derart beklemmend, dass mir nicht ganz klar wurde, warum Sie das Ganze noch mit dieser Geheimdienst-Geschichte aufgeladen haben.
Die Geheimdienstgeschichte ist bereits im Roman drin. Seit Snowden wissen wir, dass Geheimdienste eine ganz andere Bedeutung hatten und haben, als wir immer geglaubt haben. Es geht immer auch um Manipulation durch Information.
Nelly ist keine Opferfigur. Sie hat mit aller Kraft versucht, sich in der DDR nicht brechen zu lassen. Und sie kämpft auch im Westen weiter. Trotzdem sind ihr in der Vergangenheit Verletzungen zugefügt worden, die jetzt wieder aufbrechen, sich durch den Gang der Ereignisse verstärken und phasenweise zu dieser Paranoia führen. Ihr Misstrauen wächst.

Sie trifft im Osten wie im Westen auf eine analoge männliche Macht-Arroganz.
Ich habe das metaphorischer gesehen. Sie droht zwischen den Großmächten zerrieben zu werden. Von Zuschauern, die sich selbst als links verstehen, ist auch schon kritisiert worden, dass ich den Wechsel von der DDR in die BRD so zeige, als handle es sich um einen Wechsel von Bayern nach Baden-Württemberg.

Vielleicht ist Deutschland insgesamt kein schöner Ort zum Leben?
Das haben jetzt Sie gesagt.

Wenn im Notaufnahmelager gefragt wird, ob man öfter an eine Rückkehr in die DDR denke, ist das doch ein Hinweis darauf, wie toll die BRD ist, oder?
Das lasse ich mal so stehen.

Es geht in allen Ihren Filmen immer wieder um die Frage der Identitätsfindung, manchmal verbunden mit der Frage nach Heimat wie in „Novemberkind“ oder jetzt „Westen“, manchmal etwas allgemeiner wie in „Die Unsichtbare“.
Diese Fragen haben mich immer beschäftigt und sie werden mich auch weiterhin beschäftigen.

„Westen“ taugt nicht zur sentimentalen Geschichtsverklärung, wie sie in den letzten Jahren Mode geworden ist. Er spuckt der hegemonialen BRD-DDR-Erzählung geradezu in die Suppe. Ist das ihre Absicht?
Ja. Es gibt nichts Langweiligeres als Filme, die gut eingespielte gesellschaftliche Übereinkünfte bestätigen. Die deutsch-deutsche Teilung hat komplexe Konfliktlagen erzeugt, die durch die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung abgelaufen ist, nicht gelöst wurden, sondern vielleicht erst virulent wurden. Darüber kann man ja mal nachdenken.

Ihr Film spielt 1975 und 1978. Zwar sind die Räume gerne eng gehalten, aber manchmal wird doch der Blick geöffnet und man sieht einen Straßenzug oder fährt durch ein nächtliches West-Berlin. Da spielt das Set-Design vom Oldtimer über die Mode und Frisuren bis zum Achselhaar der Protagonistin eine Rolle. Welchen Ehrgeiz haben Sie diesbezüglich entwickelt?
Auf der großen Kino-Leinwand kann man sich nicht verstecken! Das ist beim Fernsehspiel etwas einfacher. Wenn man sich entscheidet, etwas Historisches zu machen, dann muss man auch genau sein. Da wächst dann mein Ehrgeiz. Wobei ich nicht versucht habe, mich im Detail auf ein ganz bestimmtes Jahr festzulegen, weil das dem Erzählfluss schaden kann. Also einerseits keine Fehler im Detail, andererseits eine gewisse Zeitlosigkeit im Ganzen durch eine Beiläufigkeit. Ich mag es nicht, wenn das Historische als Historisches so angeberhaft ausgestellt wird.

„In meinen Filmen gibt es keine Botschaften“

( , Regie: )

Rudolf Thome im Gespräch mit Wolfgang Nierlin über seinen Film „Ins Blaue“.
von Wolfgang Nierlin

Rudolf Thome im Gespräch mit Wolfgang Nierlin über seinen Film „Ins Blaue“. Wolfgang Nierlin: In der Kunst- und Literaturgeschichte symbolisiert die Farbe Blau die Sehnsucht nach Liebe und Ferne, aber …

Rudolf Thome im Gespräch mit Wolfgang Nierlin über seinen Film „Ins Blaue“.

Wolfgang Nierlin: In der Kunst- und Literaturgeschichte symbolisiert die Farbe Blau die Sehnsucht nach Liebe und Ferne, aber auch das Streben nach Unendlichkeit und Erkenntnis. Wofür steht sie in Ihrem Film „Ins Blaue“?
Rudolf Thome: Als ich Germanistik studierte, so um die Jahre 1961/62, habe ich eine Seminararbeit über Gottfried Benn geschrieben. Bei ihm spielt die Farbe Blau eine große Rolle. Sie verbindet sich für ihn mit dem Mittelmeerischen. Dafür steht bei ihm der Satz: „Die Tiefe ist außen.“ Damit drückt er aus, dass die Deutschen immer hinter die Dinge schauen wollen. Sie interessieren sich nicht für das sichtbare Außen, sondern primär für das, was das Außen ausdrückt, also den Sinn oder eine Botschaft. Und das ist etwas, was mich überhaupt nicht interessiert. „Die Tiefe ist außen“: Das gilt auch für alles, was ich bisher gemacht habe. In meinen Filmen gibt es weder Gesellschaftskritik noch Botschaften, sondern nur das, was man sehen kann.

Aber handelt Ihr Film, der als Film-im-Film die Dreharbeiten zu einem Roadmovie schildert, nicht auch von einer Bildungsreise oder einer Sinnsuche?
Der Mönch, der darin auftaucht, sagt gegenüber seinem Abt, er habe drei junge Frauen getroffen, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind, also könne man sagen, auf der Suche nach Gott. Das passt eben zu seiner Rolle. Zum anderen bildet diese Suche den Hintergrund für das Thema von Nikes Film, die als Regisseurin die Dreharbeiten des Film-im-Films leitet. Das ist also nicht mein Film (lacht). Ich spiele einerseits mit diesen zwei verschiedenen Ebenen; andererseits ist Nikes Film natürlich auch mein Film. Ich bin der Erzähler von beiden Filmen. Ich verstecke mich gewissermaßen nur hinter der Figur Nike.

Wieso lassen Sie für Nikes Film einen Mönch, einen Philosophen und einen stummen Fischer auftreten, also archetypische Figuren?
Das musste so sein. Das sind gewissermaßen Klischee-Figuren oder Klischee-Modelle.

Warum sind es gerade drei Frauen, die auf diese Männer treffen und warum entwickeln sich aus diesen Begegnungen Liebesgeschichten?
Wie soll man das beantworten? Die Liebe passiert eben. So hat sich beispielsweise Janina Rudenska, die Darstellerin der Josephine, die im Film dem stummen Fischer begegnet, während der Dreharbeiten in einen italienischen Philosophie-Studenten verliebt. Der sprach kein Wort deutsch und sie sprach kein Italienisch. So hat sich für sie ihre Rolle im Film gewissermaßen im Leben fortgesetzt.

Die Frauen in Ihren Filmen erscheinen oft als Komplizinnen, die eine Bande bilden und unabhängig wirken. Warum suchen sie dennoch ihr Glück in der Liebe zum anderen Geschlecht?
Es gibt keine Gründe, warum Menschen sich verlieben. Und gerade wenn sie sich aus ihrem normalen Lebenszusammenhang lösen, wie zum Beispiel bei einer Reise, passieren solche Dinge. Das ist eben einfach so. Und ich fand das lustig und interessant.

Was hat Sie daran gereizt, einen Film übers Filmemachen zu drehen? Eine offensichtliche Referenz, gerade in Bezug auf das Haus am Meer, bildet ja Jean-Luc Godards „Die Verachtung“.
Als ich dieses sehr spezielle Haus als Drehort ausgewählt habe, war dieses Bild als Erinnerung da, aber es war nicht der Grund für meine Wahl. Auch in meinem Film „Das rote Zimmer“, in dem ebenfalls ein ungewöhnliches Haus vorkommt, spielt der Ort eine wichtige Rolle. Manche Drehorte sind für mich genauso wichtig wie die Schauspieler. Aber natürlich ist das Haus am Meer auch eine Reminiszenz an Godard; und zugleich einer meiner Träume.

Wie kam es dann aber bei Ihnen dazu, einen Film-im-Film zu realisieren?
Ich bekam die Anregung von meiner Tochter, die jetzt auch angefangen hat, Filme zu machen. Sie hatte mir im Scherz vorgeschlagen, einen Film über eine Tochter zu drehen, die Filme macht und dabei mit ihrem alten Vater, einem Filmregisseur, zusammen ist. Und so habe ich später diese Idee aufgegriffen. Ansonsten ist dieses Thema eher eine abschreckende Sache, weil die Branche einen Film-im-Film ablehnt. Es gibt diesbezüglich ja berühmte Vorläufer-Filme, etwa von Truffaut und Fassbinder. Was ich jedoch mache, ist völlig anders und hat auch noch nie jemand gemacht. Das findet man allenfalls bei Hong San-soo, den ich allerdings zu der Zeit, als ich das Drehbuch geschrieben habe, noch nicht kannte.

Warum reizt Sie der Blick aufs eigene Metier zur Ironie?
Ironie gibt es nicht nur hier, sondern in allen meinen Filmen. Das ist meine Art, Geschichten zu erzählen.

Im Film sagt der von Vadim Glowna gespielte Produzent einmal: „Alle meine Filme sind realisierte Träume.“ Gilt dieser Satz auch für Ihre Arbeit?
Ja, aber nicht direkt eins zu eins. Denn das würde ja heißen, dass die Konstellation, in der ein Mann mit mehreren Frauen zusammen ist, einen von mir realisierten Traum abbildet. Aber so einfach geht das nicht, im Gegenteil. Ich mag es zwar, mit dieser Idee zu spielen, aber für mich im Leben ist es kein Traum, mit mehreren Frauen zusammen zu sein. Ganz und gar nicht. Nein. Solche Konstellationen sind mehr von Goethes „Wahlverwandtschaften“ inspiriert, die ich ja zweimal verfilmt habe. Das ist spannender und reizvoller. Wie zum Beispiel in meinem Film „Paradiso“, wo ein Mann zu seinem 60. Geburtstag die sieben wichtigsten Frauen seines Lebens einlädt. Ich wollte die Biographie eines Künstlers zeigen und seine Vergangenheit, die durch seine Frauen erzählt wird.

Porträtieren Sie sich in der Figur des Produzenten selbst?
Ich bin eben auch Regisseur und Produzent, genauso wie Vadim Glowna. Klar gibt es da autobiographische Momente. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, die Rolle selbst zu übernehmen, falls ich keinen geeigneten Darsteller finde. Aber dann kam die Idee mit Vadim Glowna, der das Drehbuch las und dann den Film um jeden Preis machen wollte. Ich war erleichtert und fand ihn viel geeigneter. Er ist der bessere Schauspieler und kann viel differenzierter sprechen. Und so war ich froh um ihn.

Sie haben davon gesprochen, seit den Dreharbeiten zu „Ins Blaue“ eine neue Lust beim Filmemachen zu spüren.
Das rührt daher, dass Kamerafrau und Tonmeister entgegen der sonst üblichen Praxis bereit waren, die erste Probe schon zu drehen. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass Schauspieler bei der Probe eine Szene für sich erfinden und dadurch unglaublich natürlich wirken. Wenn das dann aber toll ist und wir nicht drehen, geht es entweder verloren oder bei der Aufnahme ist nur noch die Hälfte der Energie und Spontanität spürbar. Also bestehen etwa 40 bis 50 Prozent der im Film vorkommenden Szenen aus Probeaufnahmen. Das ist absolut ungewöhnlich. Ich will Szenen nicht immer wiederholen müssen, was heutzutage durch das digitale Drehen noch erleichtert wird, weil ich auf dem Monitor sofort alles sehen kann. Ich merke, dass mir diese neuen Möglichkeiten Auftrieb geben. Ich kann damit gut umgehen und es passt zu meiner Arbeitsweise. Das ist die neue Kraft und Energie, die ich verspüre. Mir fehlt jetzt nur noch das Geld.

In Ihrem Film geht es auch um die Suche nach Sinn und Erkenntnis und die Frage nach den letzten Dingen. Was ist Ihre Lebensphilosophie? Sind Sie ein religiöser Mensch?
In vielen meiner Filme kommen religiöse Dinge vor. Zum Beispiel taucht in „Das Geheimnis“, in dem es auch eine „Wahlverwandtschaften“-Konstellation gibt, plötzlich ein Mann mit einem riesigen Kreuz auf, der lange kein Wort spricht, bis er plötzlich gegenüber seiner Gastgeberin das Schweigen bricht und unvermittelt sagt: „Ich bin Jesus Christus.“ Und sie antwortet: „Ich glaube nicht an Jesus Christus, ich bin Jüdin.“ Das ist kein Joke, das ist schon ernst. Wenn man die Bibel ernst nimmt, ist es möglich und denkbar, dass plötzlich in irgendeiner Situation ein zweiter Sohn Gottes auftaucht, der das wirklich ist, wenn man daran glaubt. Das kann ja passieren. So wie Marquard Bohm das spielt und wie es gedreht ist, wird man mit dieser Frage konfrontiert. Ich nehme die Religion ernst. Ich bin sehr religiös erzogen worden und war auf einem christlichen Internat. Ich besitze eine gewisse Religiosität und habe die Bibel gelesen, aber ich könnte nicht sagen, dass ich ein richtig gläubiger Christ bin. Philosophie wiederum spielt schon seit meiner Internatszeit eine Rolle, wo ich einen Deutschlehrer hatte, der ein glühender Jaspers-Verehrer war. Später habe ich dann auch Philosophie studiert und mich vor allem für den Existentialismus Albert Camus‘ begeistert, aber auch Heidegger gelesen. Viele Jahre später bei der Arbeit an dem in der blauen Hanser-Reihe erschienen Buch über Roberto Rossellini, bei dem ich mitgemacht habe, kam dann noch der Religionsphilosoph Georg Picht dazu, auf den mich der SZ-Filmkritiker Rainer Gansera hingewiesen hat. Picht fasziniert mich vor allem durch seine Sprache, die ich liebe. Sein Buch „Kunst und Mythos“ habe ich verschlungen wie einen Krimi. Das hat mich total fasziniert. Und insofern tauchen Dinge, die Picht geschrieben hat, immer wieder als Hintergrund in meinen Filmen auf.