Ein tröstlicher Gedanke: Irgendwann ist der Superheldenboom des aktuellen amerikanischen Kinos wieder vorbei, die an und für sich talentierten Schauspieler müssen ihre quietschbunten Rüstungen ablegen und sich wieder auf sich selbst besinnen. Die weniger talentierten verschwinden in der Versenkung. Es ist zunächst nicht ganz klar, zu welcher der beiden Kategorien der von Michael Keaton gespielte Riggan in 'Birdman' gehört; deutlich wird allerdings schnell, dass er noch einer anderen Generation der Superheldenmimen angehört: Heutzutage plant die Comicfilmschmiede Marvel ihre 'Franchises' bereits mehrere Jahrzehnte in die Zukunft voraus, für Riggan war nach Teil 3 seiner erfolgreichen 'Birdman'-Serie einfach Schluss. Nun will er ein ernsthaftes Stück am Broadway inszenieren und selbst die Hauptrolle übernehmen, also mit einem Knall von der Pop- in die Hochkultur wechseln. Doch die Dämonen seiner Trash-Vergangenheit wollen nicht ruhen …
Keaton – das gehört zum verschrobenen, postmodernen Charme von Alejandro González Iñárritus Film – ist selbst Superheldenveteran, er war zwei Filme lang Tim Burtons Batman. Im Gegensatz zu seiner Figur Riggan aber ist Keaton ein hervorragender Schauspieler: Er verleiht 'Birdman' mit seiner verbissenen, verzweifelten Performance die nötige Bodenhaftung. Formal schlägt der mexikanische Regisseur hier nämlich über alle Stränge, verbindet virtuos und thematisch passend Populärkino mit wüsten Verfremdungsstrategien à la Godard. Dazu gehört unter anderem ein jazziger Percussion-Soundtrack – hin und wieder sieht man den Schlagzeuger sogar im Hintergrund der Szene sitzen – sowie die Illusion, dass der gesamte Film in einem einzigen Take, also ohne Schnitte, entstanden sei.
So generiert Iñárritu eine atemlose Atmosphäre: Die Kamera, geführt von Terrence Malicks Stammkameramann Emmanuel Lubezki, folgt den herumhetzenden Schauspielern durch die engen Gänge hinter der Bühne, gleitet bei Außenszenen plötzlich wie von Zauberhand in die Luft. Technisch ist 'Birdman' ein wahres Wunderwerk, wenn auch die avantgardistische Inszenierung und die rasend schnellen Dialoge dem Zuschauer den Einstieg in das psychotische Backstage-Universum nicht ganz einfach machen. Zudem übernimmt der Film teilweise den paranoiden Blickwinkel seiner Hauptfigur. In seiner eigenen Welt verfügt der von den Medien und ehemaligen Geschäfts- und Liebespartnern getriebene Riggan nämlich tatsächlich über die wundersamen Fähigkeiten seines alter egos Birdman: Er wirbelt Gegenstände telekinetisch durch die Luft, ist übermenschlich stark und vermag schließlich sogar zu fliegen. Doch von irgendwo außerhalb seines Blickfelds verhöhnt ihn dabei immer eine tiefe Stimme, die psychologische Inkarnation seiner fiktiven Filmfigur: 'Du Versager! Was ist nur aus dir geworden?' Persönlichkeitsspaltung made in Hollywood.
Seit Harmony Korines Spring Breakers' hat kein Film mehr so tief in den ewig klaffenden Abgrund zwischen Kunst und Kommerz geblickt und Kitsch so virtuos mit Anspruch verbunden. Wo Korine sich aber mit dem diabolischen Scherz begnügte, popkulturelle Leere auf Arthouse-Look treffen zu lassen, geht Iñárritu weiter: Er will wissen, was auf dem Spiel steht, wen, wie man auf Englisch sagt, highbrow und lowbrow kollidieren. Seine Antwort ist paradoxerweise ebenso ernüchternd wie humorvoll: Einerseits führt uns 'Birdman' vor Augen, wie die willkürlichen, hierarchischen Geschmacksgrenzen solche Wandler zwischen den Welten wie Riggan in die Knie zwingen können – dafür steht hier vor allem die Instanz der versnobbten Theaterkritikerin. Zum anderen kommentiert und verspottet der Regisseur dieses rigide Kulturklassensystem aber auch mit seiner Inszenierung: Der Sprung von Riggans Auseinandersetzung mit dem Dichter Raymond Carver zum Kampf mit einem überdimensionalen Vogelmonster wird mühelos in wenigen Bildern vollzogen.
Ebenso mühelos wechselt Iñárritu, Regisseur und Autor von so schwerblütigen, grüblerischen Epen wie 'Babel' und Biutiful', hier ins Komödienfach. Wobei die messerscharfen Dialoge in 'Birdman' vor allem wegen des hervorragenden Casts so gut funktionieren: Da sind Edward Norton als Theaterveteran mit extremen Methoden, Emma Stone als Riggans vernachlässigte, drogenaffine Tochter, Zach Galifianakis als Riggans überforderter Manager und Anwalt und viele mehr.
Außerdem gönnt Iñárritu seinem Publikum einige köstliche Momente physischer Slapstickkomik. Absolutes Highlight ist eine Szene, die wie der archaische Alptraum eines jeden Bühnenkünstlers wirkt: Riggan sperrt sich versehentlich während der Vorführung am Bühneneingang aus dem Theater aus und muss es, spärlich bekleidet und per Umweg über den dicht bevölkerten Broadway, durch den Vordereingang wieder betreten.
Auch in diesen kleinen albernen Momenten schwingen stets kluge Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Medium mit: Riggans Einmarsch durch den Zuschauerraum, also sein Bruch mit der 'vierten Wand', wird zu einer Art zweiter Geburt für den vormaligen Leinwandhelden: Er hat die Bühne und die psychotischen Geheimgänge dahinter endlich verlassen und erkennt das Theater als fundamental anderen Raum im Gegensatz zum Kino an – nicht besser oder anspruchsvoller, nur anders, direkter. Auf den Theaterbrettern, das lernt Riggan von Edward Nortons Mike, muss man erst vollkommen Ich sein, um zur jeweiligen Figur werden zu können. Dass auch diese hehre Erkenntnis am Ende zum dramatischen Extrem getrieben werden muss, das hat Iñárritu verstanden, gehört zum Handwerk eines guten Komödianten. Ob das aber schließlich Riggans Triumph, seinen Abstieg in den Wahnsinn oder beides zugleich bedeutet, bleibt offen.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2015
Hier gibt’s eine weitere kritik zu 'Birdman'.