Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der schwarzen Katze Dac. Ein Kind ohne einen Platz in der Welt. Nach der ruppig gewaltsamen Trennung ihrer egozentrischen Eltern, deren Zusammenleben bestimmt wurde von Geschrei, Gewalt und gegenseitigen Anschuldigungen, bleibt ihre älteste Halbschwester beim Vater (Gabriel Garko), die mittlere bei der Mutter (Charlotte Gainsbourg). Aria aber, die jüngste und einzige Tochter aus der wahrlich unheiligen Allianz, fällt durchs Raster. Sie wird mal von der Mutter, einer neurotischen Pianistin, (Guilia Salerno), deren beständige Sinnsuche sie zu Kommunismus, Buddhismus und ständig wechselnden Partnern treibt, aufgenommen und wieder verstoßen, dann wieder vom Vater, einem so eitlen wie hysterisch abergläubischen Filmstar.
Asia Argento, die als Darstellerin unter anderem mit Gus Van Sant, George A. Romero und Abel Ferrara zusammenarbeitete, legt mit „Incompresa“ ihre dritte Regie-Arbeit vor. Ihr Debüt, „Scarlet Diva“, entstand im Jahr 2000 und drehte sich um eine junge, attraktive Schauspielerin (gespielt von Argento selbst), hin und her gerissen zwischen Drogenexzessen und ihrer – vermeintlich großen, vor allem aber übermäßig naiven – Liebe zu einem Rock-Musiker. Zwischen ihren Ambitionen, ins Regie-Fach zu wechseln – und zwar mit einem Filmprojekt namens „Scarlet Diva“ – und der sexuellen Ausbeutung zu entgehen. Zwischen allerlei europäischen Metropolen und Los Angeles. In seiner rohen digitalen Ästhetik wirkte das bisweilen wie ein Urlaubsvideo aus der Hölle. Wesentlich professioneller, aber nicht weniger infernalisch geht es auch in ihrem Nachfolger, dem vor zehn Jahren entstandenen „The Heart Is Deceitful Above All Things“, zu, der auch das Thema um ein Kind in einem, gelinde gesagt, dysfunktionalen Familiengefüge aus „Missverstanden“ vorweg nimmt. Dort war es ein Junge, der aus einer Pflegefamilie zurück zu seiner Mutter kam und in Folge die Hölle auf Erden in Form des White Trash-Amerika zu durchleben hatte. Sex, Drogen, Vergewaltigung, prügelnde evangelikale Großeltern u.s.w. Dieser Vorgänger zeigte sich inhaltlich reichlich bemüht, die geballte Schlechtigkeit dieser Erde auf ein paar zarte Kinderschultern zu laden und ließ das Ganze formal – nicht minder bemüht – wie einen besonders bösen Drogentrip aussehen.
Alle Schwächen des vorherigen Schaffens der Regisseurin kehren auch in „Missverstanden“ wieder. Anstelle einer halbwegs funktionierenden Dramaturgie findet sich nur ein – auf Dauer ermüdender – Rausch der Bilder, Farben und Stimmungen. Was auf narrativer Ebene geschieht, die Stationen des Leidenswegs der Protagonistin, wird wie auf einer Strichliste abgehakt. Für den Schauplatz und den Zeitraum der Handlung interessiert sich Argento nur so weit, wie sie einen möglichst grellen Background für die Geschichte liefern. Das Rom, in dem der Film spielt, ist so austauschbar wie irgendwas – ohne dass man hinter dieser Austauschbarkeit eine Funktion erkennen könnte. Die Achtziger sind nichts weiter als ein bizarres Sammelsurium denkbar schriller Klamotten und Interieurs. Ein komplett in pink gehaltenes Zimmer. T-Shirts mit Bowie und Smiley. Möglichst viel Neon und viel zu enge Leggings. Wir verstehen: In dieser Zeit aufzuwachsen, kann nicht sonderlich schön sein.
Dennoch findet sich in der Art, wie sich der Film auf seine kleine Protagonistin fokussiert, der Giulia Salerno eine wirklich eindrückliche Gestalt verleiht, eine Menschlichkeit, die den Vorgängern vollkommen abgeht. Mit viel Empathie wird ein Leben gezeigt, in dem Aria ständig vor verschlossenen Türen steht – mal symbolischen, mal ganz buchstäblichen. Was Aria unentwegt sucht, ist der Halt, den ihre Familie ihr nicht geben kann, nicht so sehr aus schierer Bosheit, sondern aufgrund katastrophaler emotionaler Überforderung. Diese Suche nach Zugehörigkeit führt zu einigen wirklich netten Szenen, die ganz ohne erhobenen Zeigefinger auskommen: Aria, die mit ihrer besten Freundin auf der Schultoilette Zigaretten raucht, was über der vollgekotzten Kloschüssel endet; Aria, die im Park auf einige ältere Herumtreiber trifft; Aria, die mit einem der vielen Freunde ihrer Mutter, einem Punk-Bassisten, im Wohnzimmer randaliert.
Asia Argento betont, dass „Missverstanden“ kein autobiographischer Film sei, trotz der augenfälligen Parallelen zwischen Asia und Aria, deren Vornamen sich nur in einem Buchstaben unterscheiden, die das selbe Geburtsjahr haben und aus einer Familie stammen, die im Show Business tätig ist (Argento ist Tochter des Genre-Maestros Dario Argento und der Schauspielerin Daria Nicolodi). Wie dem auch sei, es scheint, dass Argento mit ihrem Regie-Werk an ihrem ganz eigenen Familienroman arbeitet. Vielleicht hat sie sich in diesen nun, da sie nicht mehr vor der Kamera präsent war, durch die Bezüge zu ihrer Hauptfigur eingeschrieben. Dieses Werk hat mit „Missverstanden“ sein interessantestes, einfühlsamstes Kapitel erhalten. Ob Argento eine wirklich große Erzählerin wird, bleibt aber weiter abzuwarten.
Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Missverstanden'.