Der Weg des täglichen Brotes. Von der langen Schlange an der Ausgabestelle, wo die Menschen sich drängeln, in wüste verbale, dann auch handgreifliche Auseinandersetzungen über die Reihenfolge der Wartenden geraten, holen die beiden vierzehnjährigen Protagonistinnen des Films, Eka (Lika Babluani) und Natia (Mariam Bokeria), die Ration Brot für ihre Familie ab. Auf dem Weg nach Hause lauern Eka zwei Jungs auf, machen sie an und schubsen sie. Eines der Brote fällt zu Boden. Zuhause in der Küche schneidet sie die Ecke ab, die dreckig geworden ist, wirft sie in den Müll, legt die beiden Laibe in den Brotkorb. Die Brote Natias sehen wir schließlich auf dem Esstisch der Familie, wo der betrunkene Vater sie, ihre Mutter und ihre Großmutter terrorisiert. Als die Mutter sich wehrt, kommt es zu Handgreiflichkeiten, schließlich zu Geschrei und Scherben in der Küche.
Dass sich gerade anhand des Weges eines täglichen Nahrungsmittels auf den Tisch so viel von den sozialen Realitäten ablesen lässt, von denen Simon Groß‘ und Nana Ekvtimishvilis „Die langen hellen Tage“ erzählt, ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für diesen Film. Es geht in der Coming-of-Age-Geschichte, angesiedelt im postsowjetischen Georgien im Tiflis des Jahres 1992, um eine soziale Situation, in der es gerade Brot auf dem Tisch gibt, aber kaum viel mehr, und um zerrüttete Familien in einem zerrütteten Land, um patriarchale Macht- und Gewaltverhältnisse. All das versucht der Film so alltäglich wie möglich abzubilden, aus der sehr eng gefassten Perspektive zweier adoleszenter Mädchen. Es ist dieser Perspektivierung geschuldet, dass die militärischen Konflikte in Abchasien zwar immer wieder über Radioberichte oder Dialoge in die Welt des Films eindringen, die Gewalt, von der der Film durchsetzt ist, aber anderer Art ist. Es ist die sozial tradierte Gewalt des Patriarchats. Vom saufenden Schlägervater bis zu den an den Straßenecken herumlungernden Jungs. Von der Zwangsheirat bis zum Mord aus Eifersucht.
Ebenso liegt es jedoch an der Perspektivierung der beiden Mädchen, dass „Die langen hellen Tage“ über weite Strecken ein – nicht nur, aber auch visuell – sehr schöner Film ist. Was das Leben in einem System, das sie unterdrückt und ihrer Selbstbestimmung beraubt, nicht nur erträglich macht, sondern immer wieder mit kurzen Momenten schieren Glücks durchsetzt, sind die kleinen Akte der Rebellion. Die Freundschaft untereinander, das Liedersingen, Zigarettenrauchen und Tratschen, der gemeinsame Ausbruch aus dem autoritär regierten Klassenzimmer zum Vergnügen auf dem Autoscooter. Das Tiflis, durch das die Kamera den beiden Mädchen folgt, oft dicht an ihren Körpern, ist eine Stadt des bröckelnden Putzes, der vergilbten Wände und zersplitterten Kacheln, des brüchigen Betons und der trostlosen Trabantenstadtfassaden. Und doch leuchtet diese Stadt immer wieder in hellen Tönen in der Sonne, ringt ihr der prasselnde Regen eines Sommerwolkenbruchs eine geradezu verwunschene Schönheit ab.
Das Brot, mit dem ich diesen Text begonnen habe, ist aber auch kennzeichnend für die Art des Films, den Dingen einen besonderen Stellenwert in der Handlung einzuräumen. „Die langen hellen Tage“ ist auch ein Film über das Brot, über den Reisepass und einige andere Gegenstände, die Eka immer wieder aus einem Kistchen holt und von denen wir erst nach und nach erfahren, dass sie mit ihrem inhaftierten Vater zusammenhängen. Schließlich und vor allem ist es ein Film über eine Pistole. Die Pistole, die Natia eines Nachmittags von einem Verehrer geschenkt bekommt, der nach der Schule auf sie wartet. Geheimnisvoll fordert er sie auf, ihm an einen unbeobachteten Ort zu folgen, ihre Augen zu schließen. In der Situation, in der man mit Zudringlich- oder Zärtlichkeiten rechnet, überreicht er ihr feierlich eine in ein Handtuch gewickelte Schusswaffe.
Die Pistole, die im Folgenden immer wieder die Hände wechseln wird, gibt den Mädchen ein neues Selbstbewusstsein inmitten einer von maskuliner Gewalt beherrschten Welt. Auf den Punkt gebracht wird das in einer Szene, in der Eka erneut an der Unterführung vorbeikommt, wo ihr die beiden Straßenkinder auflauerten und nun einen anderen Jungen brutal zusammenschlagen. Das Mädchen geht zunächst an ihnen vorbei; zu sehen ist sie nur als Silhouette vor dem Hintergrund der Straße im strömenden Regen. Als sie aus der Unterführung ins Freie tritt, fällt ein Lichtschimmer auf ihr Gesicht. Sie dreht sich um und bringt die beiden Jungs mit vorgehaltener Waffe dazu, von ihrem Opfer abzulassen. Doch die aus dem Genre-Kino hinlänglich bekannte Ermächtigungsphantasie des girl with a gun bleibt aus. Letztlich wird sie den beiden Mädchen nicht dazu dienen, die Gewalt umzukehren, noch kann sie ihre Freundschaft vor den erdrückenden Verhältnissen retten. Die Pistole landet schließlich im See, ohne dass aus ihr ein Schuss abgegeben wurde. Damit endet der Film dann doch hoffnungsvoll.
„Die langen hellen Tage“ ist Ekvtimishvilis abendfüllendes (Co-)Regie-Debüt. Auch das Drehbuch stammt von ihr und ist zumindest insofern autobiographisch, als auch sie vierzehn war im Sommer 1992 in Tiflis. Souverän gelingt ihr die Gratwanderung zwischen einer sehr einfühlsamen Darstellung einer Jugend, die sich vor einer spezifischen, zarten Form der Nostalgie nicht versperrt, und einer ungeschönten Bestandsaufnahme der Verhältnisse einer von Gewalt zerfressenen Gesellschaft.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die langen hellen Tage'.