Becoming Giulia

(CH 2022; Regie: Laura Kaehr)

Heimkehr auf die Bühne

Allein und verloren windet sich eine junge Frau auf der großen Bühne eines leeren Opernhauses. Eng umschlungen hält sie ein Bündel mit einem Baby in ihren Armen. Dabei ist der Bühnenhintergrund in rotes Licht getaucht. Eine Tür öffnet sich. Dann beginnt die Kamera zu delirieren, als würde nicht sie, sondern der Raum sich in rasender Geschwindigkeit drehen. Erst viel später erfahren wir, dass hier die Tänzerin Giulia Tonelli Szenen für Cathy Marstons Ballett „Der scharlachrote Buchstabe“ probt. Zunächst sieht man die erste Solistin der Züricher Oper aber zunächst als Mutter und Hausfrau bei kursorisch montierten Haushaltstätigkeiten und der Betreuung ihres erst wenig Monate alten Kindes Jacopo. Nach 11 Monaten Bühnenabstinenz will sie ihre schmerzlich vermisste Arbeit wieder aufnehmen, was in ihrem Metier alles andere als selbstverständlich ist. „Ich brauche es“, sagt Giulia. Das Tanzen sei ihre Identität.

Laura Kaehrs beobachtende, auf einen Kommentar und explizite Interviews verzichtende Langzeitdokumentation „Becoming Giulia“ handelt also vom schwierigen Spagat zwischen Mutterschaft und Tanzkarriere. Der Film dokumentiert Giulias ehrgeizigen Wiedereinstieg, der von Stress und körperlichen Schmerzen begleitet wird; er beobachtet ihre ersten Proben zu „Romeo und Julia“ und zu nachfolgenden Balletten, die Anspannung vor der Premiere und die Gelöstheit nach dem glücklichen Erfolg: „Der Abend war wie eine Heimkehr“, sagt die Ballerina. Die Bühne sei für Künstler wie ein Zuhause. Daneben zeigt Laura Kaehr, die früher selbst getanzt hat, Phasen der Regeneration bei Massagen und in Gesprächen mit Kolleginnen. Dabei geht es um Giulias körperliche Strapazen und vor allem um ihre Doppelrolle, die den Blick auf ihren Beruf zunehmend verändert, weitet und in eine andere Richtung lenkt. Die familiären Umstände treten dahinter allerdings etwas zurück.

Der Filmtitel „Becoming Giulia“ deutet deshalb bereits darauf hin, dass im weiteren Sinne ein Prozess des Reifens und Werdens im Mittelpunkt steht. Das Kind wecke in ihr ungeahnte Kräfte, sie fühle sich jetzt vollständiger, bemerkt die Porträtierte im Hinblick auf ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, während sie zugleich aufmerksamer und sensibler wird für die Machtstrukturen und latenten Unterdrückungsmechanismen eines Metiers, das ein normales Privatleben kaum zulässt; und wenig Verständnis hat für die Probleme einer arbeitenden Mutter. Für Giulia spiegelt sich darin auch die unausgesprochene Einstellung der Gesellschaft. Ihr Kontakt zur Choreographin und Mutter Cathy Marston, deren erzählerischer Tanzansatz sich mit Giulias schauspielerischem Ausdrucksbedürfnis trifft, führt die Tänzerin in Gesprächen und durch die gemeinsame Arbeit am „Scharlachroten Buchstaben“ schließlich zu einem neuen künstlerischen Selbstverständnis. Dieses umfasst nicht nur ihre Loslösung von angestammten Rollenbildern, sondern auch eine veränderte Perspektive auf ihren Beruf und das klassische Ballett.

Becoming Giulia
Schweiz 2022 - 101 min.
Regie: Laura Kaehr - Drehbuch: Laura Kaehr - Produktion: Vanessa Droz, David Rihs - Bildgestaltung: Felix von Muralt, Stéphane Kuthy, Laura Kaehr - Montage: Vincent Pluss, Thomas Bachmann - Musik: Mara Micciché, Julian Sartorius, Balz Bachmann - Verleih: W-Film - Besetzung: -
Kinostart (D): 18.01.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt21944838/
Foto: © W-Film