„Die Rolle der Kunst besteht darin, Grenzen zu verschieben“

von Marit Hofmann


Die marokkanische Regisseurin Maryam Touzani porträtiert in ihrem neuen Film „Das Blau des Kaftans“ eine homosexuelle Liebe. Im Interview spricht sie über die Komplexität von Liebe, Selbstzensur und marokkanisches Kino.

Sie sagen über „Das Blau des Kaftans“: „Es ist kein Film über Homosexualität, es ist ein Film über die Liebe.“ Dennoch werden sich alle Rezipient*innen auf das Thema der Liebe zwischen den beiden männlichen Protagonisten stürzen, weil Homosexualität in Marokko eine Straftat ist. Warum betonen Sie das Universale?

Ganz einfach, weil die Geschichte, die ich erzählen wollte, von der Liebe handelt. Eine Liebe, die viele Gesichter hat, die viele Formen annehmen kann. Die Liebe zwischen diesen beiden Männern ist eine davon. Ich möchte über die Komplexität eines Gefühls sprechen.

Konnten Sie den Film in Marokko zeigen?

Der Film wurde auf dem Filmfestival von Marrakesch gezeigt und wird bald landesweit in die Kinos kommen. Die Tatsache, dass der Film für den offiziellen Wettbewerb des Festivals ausgewählt wurde, ist ein wichtiges Signal für die Freiheit der Kunst und für Filme, die auch Debatten über sensible Themen eröffnen können. Die Rolle der Kunst besteht unter anderem darin, Grenzen zu verschieben.

Welches Risiko sind Sie eingegangen?

Wenn ich einen Film schreibe, denke ich nie an das Risiko. Ich lasse mich vom unbedingten Glauben an die Geschichte, die ich erzählen will, leiten. Der Film behandelt ein sehr sensibles Thema, und er wird wahrscheinlich sowohl positive als auch negative Reaktionen hervorrufen. Damit kann er zu einer Debatte beitragen, die ich für notwendig halte. Ich lebe in einer Gesellschaft, die sehr reichhaltig und komplex ist und in der konträre Ansichten nebeneinander existieren. Und ich glaube fest an die Kraft des Dialogs.

Bild aus „Das Blau des Kaftans“ (© Arsenal)

Hilft es, dass „Das Blau des Kaftans“ als Vertreter Marokkos für die Oscar-Verleihung ausgewählt wurde, um eine Debatte in Ihrem Land anzustoßen?

Obwohl eine unabhängige Kommission aus Fachleuten der Branche meinen Film ausgewählt hat, finde ich diese Entscheidung sehr symbolisch. Es gibt in Marokko einen echten Wunsch, sich Debatten zu öffnen und über komplexe Themen zu sprechen. Und ja, diese Wahl und die Tatsache, dass der Film später in die engere Auswahl kam, tragen dazu bei, einen fruchtbareren Boden zu schaffen, der sich vielleicht positiv auf die Rezeption des Films im Vorfeld auswirkt. Aber was zählt, ist, was das Publikum nach dem Sehen empfindet, die persönliche Begegnung mit der Geschichte und ihren Figuren.

Ihr Mann hat den Film produziert. Wie wären sonst die Chancen gewesen, für diesen Film eine Produktionsfirma in Marokko zu finden?

Nabil Ayouch hat meinen Film nicht produziert, weil er mein Mann ist, sondern weil er an den Film glaubte. Er wäre auch sonst in Marokko produziert worden, aber ich hätte meinen Film von niemand anderem produzieren lassen wollen, unsere künstlerische Beziehung ist ziemlich einzigartig. Außerdem hat der Film eine Förderung durch das marokkanische Kinozentrum erhalten. Dabei handelt es sich um staatliche Gelder, die von einer unabhängigen Kommission auf der Grundlage des Drehbuchs vergeben werden.

So diskret und geheim, wie queere Menschen in Marokko ihrer Sexualität nachgehen müssen, erzählen Sie auch die Liebesgeschichte: keine Sexszenen, viele vielsagende Blicke. War das nur eine künstlerische Entscheidung oder auch eine Reaktion auf mögliche Zensur?

Nein, das wäre Selbstzensur gewesen, und das ist das Schlimmste, was einer Künstlerin passieren kann. Ich habe den Film genauso geschrieben und gedreht, wie ich ihn wollte. Es gibt viele Arten, körperliche Liebe zu zeigen, und in diesem Film hatte ich nie den Wunsch nach einer expliziten Sexszene. Ich mag Dinge, die nicht unbedingt gesagt oder gezeigt, sondern gefühlt werden.

Sie deuten eine polyamore Utopie zu dritt an. Oder ist das oft heimliche Praxis in Ihrem Land?

Nicht dass ich wüsste. Jedenfalls nicht mehr als in jedem anderen Land. Ich spreche von drei Menschen, die ihre Liebe neu definieren, und die die Barrieren, auf die sie stoßen, durch die Liebe überwinden.

Bild aus „Das Blau des Kaftans“ (© Arsenal)

Woher kommt Ihre Liebe für das alte Handwerk? Während Sie in „Adam“ (2019) von Bäckerinnen erzählen, zeigen Sie hier die aussterbende Nähkunst sehr sinnlich und mit viel Liebe zum Detail.

Bestimmte Traditionen, die schön sind, die uns ausmachen, sollten am Leben erhalten und gefeiert werden. Andere Traditionen sollten, vor allem wenn sie uns einschränken, uns daran hindern, glücklich zu sein, infrage gestellt und verändert werden. Mich berührt Handwerk, in dem eine menschliche und emotionale Investition in die Arbeit erfolgt. Die exquisiten Stickereien werden heute durch maschinell gefertigte ersetzt, und das schmerzt mich sehr. Ich bin mit einem wunderschönen Kaftan aufgewachsen, den meine Mutter zu besonderen Anlässen trug. An dem Tag, als meine Mutter ihn mir schenkte, begriff ich, woraus dieses 50 Jahre alte Kleidungsstück wirklich gemacht war: die vielen Stunden, die in die Herstellung geflossen waren, der Handwerker, der es gefertigt hatte, und die Erinnerung an die Person, die es über die Jahre hinweg getragen hatte. Vielleicht bin ich nostalgisch in Bezug auf eine Ära, die im Verschwinden begriffen ist, aber in diesem Film, wie in „Adam“, versuche ich sie zu feiern.

Sie betonen auch die sozialen Bedingungen, den Kampf ums Überleben. Wie wichtig ist Ihnen Kapitalismuskritik?

Ich spreche über den Kampf, ein aussterbendes Gewerbe am Leben zu erhalten – in einer schnelllebigen Welt, in der wir konsumieren und zum Nächsten übergehen wollen. Das ist etwas Universelles.

So selbstbestimmt, wie sie lieben, trauern die Figuren auch. Wie schwer ist es, sich den vorgegebenen Trauerritualen zu entziehen?

Es ist sehr kompliziert, diesen Ritualen zu entkommen – egal, wo auf der Welt man sich befindet. Sie gehören zu den Traditionen, die so tief verwurzelt sind, dass kaum jemand sie zu hinterfragen wagt. Ich glaube an die Freiheit, so zu leben und zu sterben und zu trauern, wie man es möchte. Diese persönliche und intime Entscheidung sollte nicht eingeschränkt werden.

Sie waren früher Journalistin – können Sie als Regisseurin und Drehbuchautorin mehr erreichen als in Ihrem früheren Job?

Man wird Filmemacherin, weil man das Gefühl hat, dass man etwas ausdrücken muss. Ich hatte diesen Ausdruck im Journalismus gefunden, der vor allem von meiner Leidenschaft für das Menschliche genährt wurde. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich angefangen, in Bildern zu schreiben, nicht nur in Worten.

Wie haben Sie Ihr besonderes Farbkonzept entwickelt? Die Farben sind sehr ästhetisch, sehr gedeckt.

Ich liebe die Malerei, sie ist für mich ein natürliches Ausdrucksmittel, so wie es das Licht ist. Die Werke von Vermeer, von Georges de La Tour, von Caravaggio inspirieren mich sehr. Licht und Farbe spielen für mich eine wesentliche Rolle beim Übertragen von Emotionen. Wenn ich einen Film schreibe, ist das immer visuell; die Farben, die Texturen sind von Anfang an da. Und eines der Dinge, die ich am meisten genieße, ist es, sie zum Leben zu erwecken, während ich am Bühnenbild, an den Kostümen, am Licht arbeite. Es fühlt sich an wie Malerei, bei der jeder Strich zählt.

Dieses Interview erschien zuerst am 20.03.2023 in: ND

Foto: © Arsenal