Glück auf einer Skala von 1 bis 10

(FR/CH 2021; Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien)

Nimm einen Hering

Sie haben etwas gemeinsam, wenn auch auf den ersten Blick nicht viel: Igor ist als Fahrradkurier für Biogemüse unterwegs. Louis fährt auch was: Der Beerdigungsgroßunternehmer sorgt im großen Stil – „Wir haben 800 Leichen am Tag“ – dafür, dass Verstorbene gut verpackt zu ihrer eigenen Beerdigung kommen. Als sich eines Tages der Weg der beiden kreuzt, wird Igor beinahe Kunde von Louis. Denn der räumt ihn souverän mit seinem Mercedes von der Straße. Igor landet verletzt im Graben.

Ein Unfall mit überraschenden Folgen. Denn Igor ist behindert, bei der Geburt hatte er sich in der Nabelschnur verheddert und zu wenig Luft bekommen. Sprach- wie Bewegungszentrum wurden in Mitleidenschaft gezogen. Nun ist er 37 Jahre alt und hadert mit seinen Einschränkungen und der Abhängigkeit von der Mutter. Seit Jahren hat er sich in die Philosophie versenkt, haut ein Zitat namhafter Denker nach dem anderen raus.

Louis, bei dem alles immer perfekt funktionieren muss – das Bestattungsinstitut des Vaters hat er zu einem profitablen Industriebetrieb ausgebaut -, fühlt sich durch die ständigen Invektiven des Unfallopfers in seinen Routinen gestört. Er will den jungen Mann im Krankenhaus abliefern, doch wird er ihn nicht mehr los. Der an seiner Einsamkeit leidende Igor ist sich sicher: Louis wird sein bester Kumpel und klammert sich an den älteren Herrn. Abschütteln geht nicht mehr. Höhepunkt wird eine gemeinsame Reise mitsamt einer abzuliefernden Leiche, in der sich abgedrehteste Ereignisse die Sarggriffe in die Hand geben. Beziehungen in jeder Art und Weise bilden das Thema ihrer Unterhaltungen, Besäufnisse, Abenteuer. Im Raum die großen Fragen: Was ist „normal“? Was macht zufrieden im Leben? Wie stehen wir zum eigenen Ableben?

Für den Film „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ haben sich zwei Ausnahme-Charaktere zusammengetan, die nicht nur gemeinsam das Drehbuch verantwortet, sondern auch Regie und Hauptrollen übernommen haben: Alexandre Jollien, der den Igor spielt, wurde mit zerebraler Lähmung geboren und hat sich als Autor philosophischer Bücher („Lob der Schwachheit“) einen Namen gemacht. Bernard Campan in der Rolle des Louis ist als Regisseur und Darsteller bekannt. Zusammen haben sie einen äußerst flotten Film gedreht, der sich einreiht in jene französischen Lebenswelten-Clash-Filme, die à la „Ziemlich beste Freunde“ spielerisch und dennoch nicht nur im Komödien-Modus Klassen- und Gesellschaftsschranken überschreiten.

Nicht jedes Klischee wird dabei elegant umschifft und nicht immer mag die Darstellung gelungen sein; an manchen Stellen wird es durchaus ruppig. Aber die beiden – und auch die anderen Schauspieler – gehen mit ihren nicht immer so perfekten Körpern richtig an die Grenze in diesem Film. „Wenn du ein Philosoph sein willst, nimm einen Hering und zieh ihn hinter dir her, während du durch die Stadt gehst“, zitiert Igor den Philosophen Diogenes, um auszudrücken, wie man mit den Urteilen anderer Menschen umgehen könne. Und setzt hinzu: „Der Vorteil ist, dass ich den Hering immer mit mir herumschleppe.“ Die Idee des Film: den Blick auf die Marginalität und den anderen zu verändern. Und dann auch noch obendrein die Sicht auf den Tod. Das gelingt hier über alle Maßen. Fazit: ein beeindruckendes filmisches Experiment!

Diese Kritik erschien zuerst am 05.05.2022 auf: links-bewegt.de

Glück auf einer Skala von 1 bis 10
(Presque)
Frankreich, Schweiz 2021 - 91 min.
Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien - Drehbuch: Marine Autexier, Bernard Campan, Helene Gremillon, Alexandre Jollien, Manuel Poirier - Produktion: Philippe Godeau - Bildgestaltung: Christophe Offenstein - Musik: Niklas Paschburg - Verleih: X-Verleih - FSK: ab 6 - Besetzung: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Tiphaine Daviot, Julie-Anne Roth, Marilyne Canto
Kinostart (D): 02.06.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt13553662/
Foto: © X-Verleih