„Der ungehörte Zeuge“ hat Wolf Murmelstein sein Nachwort betitelt, das die Erinnerungen seines Vaters Benjamin Murmelstein an die Internierung seiner Familie in „Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt historisch einordnet. Murmelsteins Version der Geschichte von Theresienstadt erschien erstmals 1961 in Italien und wurde erst 2014 ins Deutsche übersetzt, mehr als 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung und dem Eichmann-Prozess, bei dem Murmelstein ein solcher „ungehörter Zeuge“ blieb, obwohl er eine Aussage im Zeugenstand vor dem Jerusalemer Gericht angeboten hatte. Durch seine erzwungene Zusammenarbeit mit Adolf Eichmann in Wien, wo der ehemalige Rabbiner Benjamin Murmelstein in den Jahren zwischen dem sogenannten Anschluss 1938 und seiner Deportation nach Theresienstadt am 29. Januar 1943 in unterschiedlichen Leitungsfunktionen der Israelitischen Kulturgemeinde vorstand und in der Eichmann unterstehenden „Auswanderungsabteilung“ arbeitete, hätte er einen wichtigen Beitrag zum psychologischen Verständnis jener Person beitragen können, die die Prozessbeobachterin Hannah Arendt als „Hanswurst“ bezeichnet hatte und der man „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen“ könne. Im Gegenteil, insistierte Murmelstein, Eichmann sei ein „Dämon“ und eben nicht nur Schreibtischtäter gewesen, und er sei in der Pogromnacht auch selbst tätlich geworden: „Ich wurde schon auf der Straße verhaftet und in den Tempel Seitenstettengasse geführt, wo ich eine Truppe vorfand, die mit einem Eifer dabei war, alles zu zerstören. Mit Hämmern und Äxten haben sie auf die Einrichtungsgegenstände losgeschlagen. Und kommandiert das Ganze hat Herr Eichmann.“
Diese Facette Eichmanns beschrieb Murmelstein im Film „Der Letzte der Ungerechten“, der Regiearbeit Claude Lanzmanns, die in über dreieinhalb Stunden ein Porträt des letzten überlebenden „Judenältesten“ Theresienstadts zeichnet und darüber hinaus eine filmische Studie über die Rolle der von den Nazis eingesetzten „Judenräte“ und das Ghetto Theresienstadt darstellt. Eine Woche lang hatte Lanzmann 1975 mit dem damals als Möbelhändler in Rom lebenden Murmelstein Gespräche geführt, die ursprünglich für „Shoah“ vorgesehen waren, dann aber vom Regisseur nicht verwendet und nun für einen eigenen Film neu gesichtet wurden. Lanzmann erklärt in einem Interview diese Entscheidung folgendermaßen: „›Shoah‹ ist ein Film in Erzählform, der allgemeine Ton ist von einer schrecklichen Tragik. Wenn man Benjamin Murmelstein zuhört, merkt man, dass das nicht zu ihm passt. Er ist von einem anderen Schlag.“ Das ist zweifelsohne richtig, doch gleichzeitig gehört es wohl zur Tragik von Murmelsteins Leben, dass er die Rehabilitierung seiner Person durch Lanzmanns Film und durch Historiker wie Doron Rabinovici nicht mehr erleben konnte; er starb bereits 1989, „nach langem Leiden infolge der Erfahrungen in den finsteren Jahren und danach“, wie sein Sohn Wolf Murmelstein ausführt.
Murmelstein hat sehr darunter gelitten, dass der Justizapparat und die Geschichtswissenschaft seine Erinnerungen stets zurückgewiesen hatten, was oftmals auch in Aggressionen gegen Murmelstein als „Symbol für die jüdische Kollaboration“ (Rabinovici) mündete. In einem am 19. Oktober 1963 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem bezeichnete Arendt alle jüdischen Persönlichkeiten, die während des Nationalsozialismus wichtige Funktionen bekleidet hatten, als Verräter. Scholem, der ihr Urteil ablehnt, da die extremen Umstände den Juden keine Wahl gelassen hätten, stimmt zumindest in einem Punkt mit ihr überein: „Gewiss, Murmelstein in Theresienstadt hätte verdient, von den Juden gehängt zu werden.“
Er sei wie ein Dinosaurier auf einer Autobahn, umschreibt Murmelstein in Lanzmanns Film seine Situation: störend und allen im Weg, völlig aus der Zeit gefallen. Jüdische Opfer, die nicht dem Bild des Opfers entsprechen, seien nicht einzuordnen und erregten daher solche Abscheu, erklärt Rabinovici das harte Urteil des sonst bedachtsamen Scholem. Lanzmanns Film ist auch die Suche nach einer Erklärung für diesen Hass, der sich sowohl bei Überlebenden als auch jüdischen Exilanten wiederfindet. Der Film wie auch Murmelsteins Buch „Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ zeigen, wie der von den Nazis geschürte Hass nachwirkte. So wurde Murmelstein postum ein Grab an der Seite seiner Frau und ein Totengebet in der Synagoge verweigert.
„Entschuldigen Sie, Sie werfen mir immer vor, dass ich abschweife, aber die Dinge sind nur im Zusammenhang zu verstehen“, sagt Murmelstein in „Der Letzte der Ungerechten“, und diese lange nicht gesehenen Zusammenhänge sind es, die Lanzmann herausarbeitet, wenn er die Aufnahmen des Gesprächs mit Murmelstein solchen von Theresienstadt und anderen Orten der Vernichtung gegenüberstellt. So betont Lanzmann, dass die jüdische Verwaltung unter den Nazis, der Murmelstein von 1938 bis 1945 angehörte, bewusst eingesetzt worden war, um das Vertrauen in die eigene Administration zu zerstören, wenn etwa die antisemitischen Maßnahmen in Wien von den Judenräten verkündet und durchgeführt werden mussten oder sie in Theresienstadt die Deportationslisten nach Auschwitz zusammenzustellen hatten. Wer sich weigerte, bezahlte mit seinem Leben, und wer sich einfügte, verlor seine Integrität in der jüdischen Gemeinde. Murmelstein galt darüber hinaus ohnehin bereits in seiner Zeit in Wien als unberechenbar, jähzornig und gefühlskalt. Doch gerade weil er sich dafür entschied, sich den nationalsozialistischen Strukturen unterzuordnen, gelang es ihm in seiner Funktion als Leiter der „Auswanderungsabteilung“, über 120 000 österreichischen Juden die Ausreise zu ermöglichen. Ihm war klar, dass er mit dem NS-Regime zusammenarbeiten musste, um keine Handhabe für ein gewaltsames Vorgehen gegen die Gemeinde zu liefern. Sieht man Murmelstein in Lanzmanns Film beim Erzählen zu, bekommt man eine Ahnung davon, wie sehr ihn diese Rolle zerrissen haben muss.
Gerade weil er stets versucht, objektiv zu bleiben und sachlich von den Umständen zu erzählen, gewinnen jene Momente an Bedeutung, in denen die Fassade Murmelsteins brüchig wird und seine eigene Beschädigung durch die Geschichte nach außen dringt. So fragt Lanzmann ihn, ob er Angst gehabt habe. Nach kurzem Zögern bekennt Murmelstein: „Ja.“ Sein darauf folgendes Schweigen, bevor er wieder in seinen sachlichen Duktus verfällt und erklärt: „Selbstverständlich, in gewissem Sinne musste man Angst haben“, ist jenem Schweigen ähnlich, das viele der Überlebenden aus „Shoah“ bestimmt hatte und in dem mehr vom Grauen steckte als in dem, was sie zuvor in Worte zu fassen versucht hatten. „Benjamin Murmelstein überlebte, trug zeitlebens die Last der Erinnerungen mit sich und musste sich den Vorwürfen und Anschuldigungen derer stellen, die in diesen Jahren in Sicherheit gewesen, mit der Realität des Ghettos nicht in Berührung gekommen waren“, fasst Wolf Murmelstein die Tragik seines Vaters zusammen.
Auch in Theresienstadt versuchte sich Murmelstein, als Repräsentant der jüdischen Verwaltung und ab September 1944 als „Judenältester“, in die Psyche der Nazis hineinzuversetzen, um ihnen keine Handhabe für mörderische Strafen zu liefern. „Ich musste mich mit dem Ghetto identifizieren, um das Ghetto zu retten, das die Deutschen liquidieren wollten – und um mich selbst zu retten“, erklärt Murmelstein. So führte er etwa die 70-Stunden-Woche ein, um das Lager wieder herzurichten, was ihm nach der Befreiung von vielen Überlebenden vorgeworfen wurde. Ob er mit seiner Auffassung, damit das Ghetto gerettet zu haben, richtig liegt, sei dahingestellt, zentral ist seine darin enthaltene Forderung, als handelndes Subjekt wahrgenommen zu werden und nicht nur als Opfer, als Marionette der Nazis in ihrem mörderischen Vorhaben. Diese Wahrnehmung wurde ihm lange Zeit aufgrund von moralischen Urteilen wie jenem Hannah Arendts verweigert. „Verurteilen kann man mich, aber urteilen über mich kann man nicht“, sagt er. Lanzmann gibt Murmelstein – spätestens dann, wenn er ihm zum Ende des Films seine Hand auf die Schulter legt – seinen Status als handelndes Subjekt der Geschichte zurück, dessen Erinnerungen es verdient haben, gehört zu werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 26/2015