Sommer, Sonne, Vogelgezwitscher, ein Blumenstand. Nur der Autoverkehr stört das vermeintliche Idyll. Der Verkäufer stellt einen Strauß vor einen Baum im angrenzenden Wald. Die Kamera schwenkt nach oben. Am Baumstamm ein Bild von Enver Şimşek. Der Nürnberger Blumenverkäufer Ali Toy ist ein Überlebender; am Tag des ersten NSU-Mordes fuhr er in den Urlaub, sein Chef sprang für ihn ein und starb. Toy hat für Şimşek einen Gedenkhain aus Obstbäumen gepflanzt, den er stolz präsentiert. Bei der Arbeit hat er „immer Angst“. „Wenn sie uns hier nicht wollen, sollen sie uns zurückschicken in die Türkei, aber nicht im Sarg.“
Deutschland, das sind Autofahrten durch öde Landschaften von einem Tatort zum anderen, die Regisseurin Aysun Bademsoy liefert Fakten aus dem Off dazu. Nächste Station: der NSU-Prozess in München – mit den teils bekannten starken Auftritten der fassungslosen Angehörigen nach der Urteilsverkündung: Angela Merkel habe ihr Versprechen, die Morde vollständig aufzuklären, nicht gehalten. Die Ermittler hätten die Opfer „ein zweites Mal umgebracht“, indem sie ihre „Ehre kaputtgemacht“, die Familien kriminalisiert, „Speichel aus unseren Mündern genommen“ haben. Nazis applaudierten den Helfern des NSU zu ihren milden Strafen. Halit Yozgats Eltern sind so wütend, dass sie mit niemandem mehr reden wollen, auch nicht mit Bademsoy, deren Vater oder Bruder es ebenso hätte treffen können und die der Prozess politisiert hat: „Mein Misstrauen in den deutschen Staat … hat sich damit ziemlich verstärkt.“ Sie will „Anteil nehmen an dem Unrecht, das den Angehörigen widerfahren ist“, doch ihr Vertrauen zu gewinnen war „sehr, sehr schwierig“. Nicht nur das Polizeiaufgebot, auch die Pressemeute, durch die sich die Hinterbliebenen vor dem Gericht winden müssen und die ihnen bei Gedenkveranstaltungen frontal gegenübersteht, erscheint in diesem Film feindlich.
„Spuren“ kommt, da just Verbindungen des NSU und des Verfassungsschutzes zum Mord an Walter Lübcke offenbar wurden, zur rechten Zeit. Die sichtbar gezeichneten Mitglieder dreier Familien geben den Opfern an deren Lieblingsplätzen und den Tatorten in Nürnberg, Hamburg und Dortmund in teils sehr privaten Anekdoten ein Gesicht. Schließlich flüchtet der Film in die Türkei, wo Şimşeks Witwe und Tochter heute leben, weil sie Deutschland nicht mehr ertrugen. Am Ende: das Gebimmel der Schafe, das Enver Şimşek so gerne hörte.
Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 2/2020