Nach all den Spielfilmen und Dokumentationen, nach Fatih Akins „Aus dem Nichts“, dem „Kuaför aus der Keupstraße“ und zahlreichen TV-Features, könnte man den Eindruck gewinnen, der NSU und ähnliche rechtsradikale Gruppierungen seien filmisch umfassender aufgearbeitet als juristisch. Was bliebe also einem weiteren Film, diesem Topos noch Neues hinzuzufügen, andere Einsichten zu vermitteln, außer ein erneutes Mal fassungslos zu machen und auch wütend, welch blinder und unreflektierter Hass sich Bahn brechen kann und wie hilflos bis desinteressiert die Behörden dem entgegentreten. „Wintermärchen“ wählt eine konsequente Innenperspektive in die Dynamik einer Terrorzelle, die in ihrer Konstellation entfernt an Tschäpe, Mundlos und Böhnhardt erinnert, sich allerdings nur frei daran anlehnt. Doch diese Freiheit nutzt Jan Bonny für ein spektakulär erschreckendes wie unbequemes Drama über die Banalität des Bösen.
Denn zunächst wirken Becky und Tommi wie eins dieser typischen jungen Pärchen, die RTL2 so gerne für seine Hartz-IV-Dokusoaps ins Schaufenster stellt. White Trash, orientierungslos und ständig im Clinch, sowohl im Bett als auch am Küchentisch. Nur langsam schleicht sich ein gewisses Gefährdungspotential in die Geschichte, auch wenn der erste selbstgebastelte Sprengsatz beim Testlauf auf der Wiese partout nicht hochgeht. Anders als die rechtsradikalen Attentäter in „Aus dem Nichts“, die insbesondere während der Gerichtsverhandlung den Eindruck vermittelten, sie entstammen einer ideologisch bis ins Kleinste ausformulierten Neonazi-Kaderschule, scheinen Becky und Tommi, wie auch der virile Maik, der nach einiger Zeit zu ihnen stößt, ziemlich diffuse und eher tumbe Vorstellungen über Gesellschaftsformen und Weltanschauungen zu haben. Ihr Antrieb ist vielmehr ein Aufmerksamkeitsdefizit, eine Frustration über die eigene Bedeutungslosigkeit, gepaart mit einer Fuck-you-all-Attitüde, die im Ernstfall auch über Leichen geht. Zu keinem Zeitpunkt – und das ist eine der vielen Stärken des Films – gerät man in größere Gefahr, Mitleid oder gar Verständnis für diese Figuren zu entwickeln. Zu direkt blickt man hier in einen menschlichen Abgrund – und nichts spiegelt er zurück außer tiefschwarzer Leere.
Das Beziehungsdreieck aus Becky, Tommi und Maik hält den Motor der Geschichte auf Touren, überdreht gegen Ende gar ein wenig, und wenn auch die öffentliche Anerkennung trotz eskalierender Gewalt weitgehend ausbleibt, bekommt die Bestätigung aus dem inneren Kreis zunehmende Bedeutung. Alle anderen zwischenmenschlichen Kontakte, wie etwa bei einem desolaten Besuch bei Beckys Mutter, sind unweigerlich zum Scheitern verurteilt, zu weit außerhalb aller Normen bewegt sich dieses dreiköpfige Ungeheuer fortan, unrettbar verloren.
Mit aller Konsequenz beschreitet Jan Bonny diesen Weg in die Dunkelheit, ohne jegliche Zugeständnisse an eine überhöhende Ästhetik. Die Bilder sind aschfahl und bar jeden Glanzes, die Körperlichkeit der Darsteller springt einem direkt ins Gesicht. Den drei furios aufspielenden Hauptdarstellern Ricarda Seifried, Thomas Schubert und Jean-Luc Bubert steht dabei kein vorgefertigtes öffentliches Image im Weg. Auch wenn der Österreicher Schubert bereits mit seinem Debütfilm „Atmen“ 2011 für einiges Aufsehen sorgte, sind alle drei noch weitgehend unbeschriebene Blätter, Projektionsflächen für die hässliche Fratze eines menschenverachtenden Rechtsradikalismus ohne Ausweg.
Die Anspielung auf Heinrich Heines Versepos im Titel findet hier nur in ihrer Negation Erfüllung, auch das von der Fußballnationalmannschaft zelebrierte und von Sönke Wortmann dokumentierte Sommermärchen 2006 ist nur noch eine ferne, beinahe einer anderen Epoche entstammende Erinnerung. „Wintermärchen“ ist eine bittere Bestandsaufnahme eines deutschen Geschwürs der Gegenwart. Und in seiner filmischen Brillanz ebenso notwendig wie die kontinuierliche politische wie juristische Aufarbeitung des rechtsradikalen Terrors.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Wintermärchen“.