Zu Beginn ist Léo beim Arzt. So scheint es zumindest. Denn schnell stellt sich heraus, dass das Abtasten seines Körpers, das in eine Genitaluntersuchung mündet, Teil eines Rollenspiels ist, das sich zwischen dem Protagonisten, der Stricher ist, und einem Freier abspielt. Dieser erste plot twist nach ca. zwei Minuten begnügt sich nicht damit clever und lustig zu sein, sondern er gibt den Ton eines Filmes an, der Machtverhältnisse so präzise analysiert, dass sich aus der Analyse selbst auf eine Art, die gar nicht so einfach zu fassen ist, Verschiebungen ergeben, Subversionen.
Wenn der 22-jährige Léo (Félix Martiaud) wenig später mit seinem Kollegen Ahd (Eric Bernard), mit dem er auch irgendwie liiert ist, auch wenn sich dieser selbst nicht als schwul definiert, bei einem wiederum alten Freier ist, dann zeigt sich das überdeutlich in den unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Männer an ihren Job. Léo küsst die Männer, denen er seinen Körper verkauft, gerne, allerdings sucht er sich dabei immer aus, welche. Ahd tut das nicht bzw. nur gegen besonders hohe Extrabezahlung. Der zärtliche Akt des Küssens ist für den einen Mann etwas, das das Machtverhältnis, das sich dadurch ergibt, dass Männer gegen Bezahlung über die Körper anderer Männer verfügen, transzendiert. Es ist Ausdruck des Bedürfnisses der Figur nach einer Geborgenheit, die es in Verhältnissen nicht geben kann, in denen das Geld, das die einen haben, die anderen nicht, die Menschen fundamental voneinander trennt. Für den anderen Mann hingegen ist das Gewähren einer Form von Intimität, die ihm – zumindest in diesem Kontext – merklich widerstrebt, nur eine Frage des Preises.
Was den Film zu einem ziemlich unvergleichlichen Erlebnis macht, ist zunächst das Spiel Martiauds, der seine Figur mit einer Weltfremdheit versieht, die etwas Autistisches hat – was dabei jedoch mindestens so viel über die Welt aussagt, die dieser Figur radikal ihr Glück verwehrt, wie über deren Persönlichkeit. Der junge Mann bewahrt bei all der sexuellen Freizügigkeit, die sein Leben einfordert und die er teilweise auch sichtlich genießt, bei all der brutalen Gewalt, deren Opfer oder Zeuge er im Verlauf des Films wird, eine große Schüchternheit und Zurückhaltung. Dabei ist der mitunter knüppelharte Film nicht verlegen darum zu zeigen, wie sehr jemand wie Léo in seiner Welt zum Freiwild erklärt wird. In einer Szene, die für mich an die Grenzen des Erträglichen ging, wird Léo von einem schmierigen Hipster-Paar immer weiter ausgenutzt, weil einer der beiden Männer keinen hochbekommt, verlagern sie sich bald darauf, ihm einen gigantischen butt plug einzuführen. Zwar lassen sie von ihm ab, als er anfängt zu bluten, schmeißen ihn dann aber ohne Bezahlung aus ihrer Wohnung.
Doch ebenso wenig wie Léo in seinem Job die Nähe finden kann, nach der er sich so sehr sehnt, ohne dass er doch wirklich die Möglichkeit hätte, sein Bedürfnis zu artikulieren, kann er es auch in der Beziehung zu zwei Männern, die verbindet, dass sie einen sehr dominanten Charakter haben. Das Beziehungsdreieck, das den Film nicht in seinen Möglichkeiten dramaturgischer Zuspitzungen interessiert, stellt sich ein, als Ahd Mihal (Nicolas Dibla) eine Flasche auf den Kopf schlägt, weil dieser mit seinem Verhalten die Preise drückt, indem er weniger Geld für einen Blowjob nimmt als die anderen. Später beginnt Léo eine Affäre mit Mihal, der ihn dazu verleitet, einen Freier auszurauben. Doch auch wenn die Beziehungen zwischen den Männern sicherlich toxisch sind, bleiben hier Ambivalenzen. Mihal sucht bei Léo eine Geborgenheit die er nicht finden kann, weil dieser immer noch an Ahd hängt. Ahd hingegen liebt Leo nicht so, wie dieser sich das wünscht, und dennoch verabschiedet er sich von ihm voller tiefempfundener Empathie: „Du hast es verdient, geliebt zu werden.“
Aber auch die Inszenierung im Debütfilm von Camille Vidal-Naquet, der auch das Drehbuch schrieb, hat großen Anteil am Gelingen des Films. Wenn Léo in Hauseingängen Crack raucht, mitten auf der Straße schläft, aus Mülleimern isst und einmal Regenwasser trinkt, das den Bordstein entlangläuft, ist der Blick des Films auf seine Figur vollkommen frei von jener Form falschen Mitleids, das diese noch weiter viktimisieren würde, aber voller sehr ehrlicher Empathie. Das Erstaunliche an „Sauvage“ ist sicherlich nicht zuletzt, welch genaues Gespür der Regie-Debütant einerseits für seine formale Gestaltung hat: „Wackelkamera-Realismus“ ist hier keine bloße Konvention des Arthaus-Kinos der Gegenwart, sondern etwas, das eingesetzt wird, um in bestimmten Szenen eine sehr spezifische Form der Dramatik aufzubauen. Weiterhin sind noch zwei Disko-Szenen zu erwähnen, in denen sich der Film einige Zeit lang regelrecht symbiotisch in einem hypnotischen Sog aus blitzendem, alles zersetzendem Licht aufzulösen scheint.
Das setzt sich nahtlos fort in seiner Narration, die voller Spiegelungen ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Neben der „falschen“ Arztszene zu Beginn gibt es noch zwei weitere, nunmehr echte; eine relativ in der Mitte und eine fast am Ende, die jeweils ganz eigene psychologische und dramaturgische Implikationen bergen. Vielleicht geht die Reflexion in den letzten zwanzig Minuten ein wenig zu weit, denn hier lässt Vidal-Naquet die Geschichte um Leós Nidergang, der auch körperlich krank ist – unter anderem leidet er an Asthma – auf gleich eine ganze Abfolge von Szenen hinauslaufen, die nicht nur jeweils sehr kraftvolle Enden bedeuten würden, sondern der Film scheint sich auch der unterschiedlichen Bedeutungen, die es für seine Geschichte hätte, ließe er sie tatsächlich so enden, sehr bewusst zu sein. Das tatsächliche Ende entschädigt dafür allerdings restlos, läuft es doch auf eine Art der Flucht des Protagonisten vor einer Welt hinaus, die nicht in der Lage ist, seine emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, die so anders ist als alle, die man kennt oder sich vorstellen könnte, dass sie schon deshalb hier nicht verraten wird, weil man sie sowieso sehen muss, um sie glauben zu können.