„Darf ich aufstehen?“, fragt Marisch, auf dem Sofa sitzend, in die Kamera. „Du kannst machen, was du willst.“ Über diese Antwort der Frau hinter der Kamera muss Marisch lächeln.
Tatsächlich darf sie nie machen, was sie will. Marisch ist einer von geschätzt 1,2 Millionen Menschen, die in Europa (als Zwangsarbeiter, -prostituierte oder Hausmägde) wie Sklaven gehalten werden. Die Hausherrin Eta kontrolliert jeden Schritt, das Geld, das Marisch neben dem Rund-um-die Uhr-Einsatz in dem ungarischen Haushalt in einer Fabrik verdient, muss sie abgeben. Die ausgemergelte 53jährige, die aussieht wie eine Greisin – ein früherer „Arbeitgeber“ hat ihr alle Zähne ausgeschlagen –, bekommt nur Essensreste und Tabak; Kaffee und Selbstgedrehte halten sie irgendwie am Leben. Die Sklavenhalterfamilie, bei der sie seit zehn Jahren mehr darbt als wohnt, hat ihr den Pass abgenommen und auf ihren Namen Kredite aufgenommen, so dass sie verschuldet und erpressbar ist.
All das erfährt die Zuschauerin erst nach und nach durch die Fragen der Budapester Regisseurin. Bevor Bernadett Tuza-Ritter mit ihrer Kamera kam, war Marisch absolut isoliert. Nicht mal ihre Tochter im Kinderheim durfte sie besuchen. Ursprünglich wollte die damalige Regiestudentin nur einen Übungskurzfilm zum Thema „Ein Tag im Leben einer Person“ drehen. Zufällig hatte sie Eta kennengelernt, die sich damit brüstete, Bedienstete zu haben, und Marischs Gesicht „ging mir nicht aus dem Kopf“. Es ist von Falten übersät und eingefallen; man sieht solche Frauen sonst nicht im Kino, schon gar nicht in der Hauptrolle. Im Haus merkt Tuza-Ritter langsam, dass etwas nicht stimmt, Marisch wird schikaniert und tyrannisiert – und hält die Studentin davon ab, die Polizei einzuschalten. Sie könnten da nichts machen, bestätigt ein Beamter auf anonyme Nachfrage.
Tuza-Ritter musste für die schließlich zwei Jahre andauernden „sehr unangenehmen und beängstigenden Dreharbeiten“, deren Beklemmung sich aufs Publikum überträgt, ebenfalls Geld an Eta abdrücken. Die Familie darf sie nicht filmen, nur Stimmen sind zu hören, die Marisch permanent ankeifen: „Hast du die Kleider von meinem Sohn gebügelt? Bring Essen! Der Kaffee ist zu süß! Zu nichts bist du nütze!“ Beschimpfungen lassen Marisch erstarren – nur nicht noch mehr Aggression wecken.
Einmal sieht man nur Etas Hände mit pink bepinselten langen Nägeln etwas von einem Gebäck abbrechen: „Möchtest du was abhaben?“ Wirft sie ihrer Sklavin nun Bröckchen zu? Nein, dem Schoßhund. Zu den Arbeitsbedingungen befragt, sagt Eta, Marisch dürfe 20 Tassen Kaffee am Tag trinken, das sei anderswo nicht so. Etwas Mitgefühl zeigt nur einmal ein Kind der Familie, das nicht erträgt, dass Marisch auf dem Sofa schlafen muss, bis die Familie sie weckt. „Ich darf nicht im Bett schlafen wie ihr … Ich schlafe gut hier“, tröstet Marisch.
Durch Nahaufnahmen des erschöpften Gesichts und des schuftenden Körpers will Tuza-Ritter die Folgen von „Jahren der menschenunwürdigen Behandlung“ spürbar machen. Doch etwas verändert sich in dieser Zeit, Marisch hat plötzlich ein Gegenüber, das sie und ihr Leiden wahrnimmt. Sie fasst Vertrauen zu der jungen Frau, die ihr Leben dokumentieren will. Einmal blitzt in ihren Augen diebische Freude auf, als sie für sich und die Regisseurin Obst von einem Baum stibitzt. Die distanziert beobachtende Kamera wird empathisch, denn Marisch spricht immer mehr den Menschen dahinter an, verlangt Bestätigung („Verstehst du?“), führt mit ihrer von den vielen Zigaretten rauen Stimme einen Dialog, auf den sich die unsichtbar bleibende, um Zurückhaltung bemühte Regisseurin mit leiser, zarter Stimme zögerlich einlässt. Das gibt Marisch Mut, die Flucht zu planen. „Ich bin stark. Ich brauche nur jemanden an meiner Seite, der mir hilft.“ Und die Dokumentarfilmerin? Hilft. „Du weißt von nichts!“, fleht Marisch unter Todesangst.
Wieder eine Regisseurin, die alles falsch macht. Die in ihrem ersten Langfilm aus Mitleid mit ihrer Protagonistin mit den ehernen Regeln des Dokumentarfilms und der Reportage bricht. Wobei eine Kamera immer schon durch ihre Anwesenheit in das Geschehen eingreift. Auch der Dokumentarfilm „Sonita“, in dem die iranische Regisseurin Rokhsareh Ghaem Maghami eine afghanische Rapperin drei Jahre begleitet und schließlich ungeplant vor der Zwangsheirat rettet, handelt von Frauen (porträtierte und filmende), die nicht aktiv werden dürfen, aber sich selbst dazu ermächtigen. In „Eine gefangene Frau“ tauchen Männer ebenfalls nur ganz am Rande auf. Ein Mann soll auch in Marischs Zukunft keine Rolle spielen: „Was soll ich den bedienen?“
Wie „Sonita“ bekommt „Eine gefangene Frau“ Züge eines Escape-Thrillers. Marisch tritt ihre Flucht zitternd und weinend in der Nacht an. Später, auf der Reise ins Ungewisse, zeigt sie stolz ihren Besitz: Deo und Parfum. „Eta hat gesagt: ›Was brauchst du Parfum, du alte Schlampe?‹ Also habe ich ihres auch mitgenommen.“ Als Edita, die nun ihren Sklavennamen Marisch abgelegt hat, vom ersten Geld, das sie ausgibt, der Regisseurin ein Duschgel schenkt, gibt die gerührt ihre Zurückhaltung auf, die Kamera wackelt bei der Umarmung.
Beim Wiedersehen ist Edita wie verwandelt: Geschminkt wirkt sie verjüngt und aufgekratzt. Sie hat einen geregelten Job gefunden und arbeitet nun für sich und ihre ungeplant schwangere Tochter.
Edita hat sich nicht nur filmen lassen, um davonzukommen, sie tat es ganz bewusst, und sie reflektiert es im Film: „Ich hoffe, dieser Film wird zeigen, dass jeder Mensch es verdient, mit Respekt behandelt zu werden, auch wenn er alles verloren hat.“ Tuza-Ritter wünscht sich, dass Editas Kampf um Würde hilft, „die Existenz dieses gravierenden sozialen Missstands“, moderne Sklaverei mitten in Europa (laut Global Slavery Index gibt es übrigens 170.000 Fälle in Deutschland), vor Augen zu führen. Alles richtig gemacht.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret