Angewandte Filmkritik #30: Im Rollstuhl
„Meg“ ist nun nicht der große Horrorfilm gewesen, eher so das lustige Sommervergnügen mit Popcorn. In der Journalistenvorführung in Berlin – klassisch im Zoo-Palast – hätte man aber vielleicht die Künste seines Protagonisten gut gebrauchen können: immerhin ein menschenfressender Riesenhai.
Einem im Rollstuhl sitzenden Filmkritiker wurde von einem Kollegen – nur beleibt, nicht behindert -, der erste Sitz in der letzten Reihe, der für Gehbehinderte am besten zu erreichen ist, verweigert:
Filmkritiker I: Dürfte ich auf diesen Platz? Ich komme mit dem Rollstuhl leider nicht in die Reihe.
Filmkritiker II: Nein. Ich stehe jetzt nicht mehr auf.
Ein Verhalten, das es wahrscheinlich nicht mal in der Knastkantine gibt. Der Rollstuhlfahrer musste unter Mühen ans Ende der Reihe fahren, um sich dann in den letzten Platz zu hieven. Man bedenke, dass er sich mit den Armen auf die Lehnen stützen muss, um den Körper in den Kinosessel zu hieven. Da ist ein wenig Platz drumherum zweckmäßig. Das Angebot, den Nichtaufsteher rausschmeißen zu lassen, lehnte er ab. Ihm sei das mit dem Rollstuhl eh schon unangenehm, da wolle er kein Aufsehen.
Muss man Texte über Film auch unter diesem Aspekt lesen – dass sie von Leuten stammen könnten, die einen Gehbehinderten sprichwörtlich auflaufen lassen? Könnte Filmkritik – auch – die Heimstatt der völlig empathie- und hirnlosen Freaks sein?
#Ja. #BewertungNullPunkte #NotMyFilmcritic
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Angewandte Filmkritik #29: KZ Sachsenhausen
„Entweder du wirst verrückt oder sachlich“ heißt ein Film, der im KZ Sachsenhausen läuft und in dem ehemalige Insassen von ihrer Haftzeit berichten. Hatte man zu Betriebszeiten dieser Einrichtung eine Wahl? Auf dem Appellplatz draußen stehen noch die drei Pfähle, an denen man Häftlinge aufhängte, indem man ihnen die gefesselten Arme nach hinten bog, bis sie ausgekugelt waren.
Für weitere Filmrisse sorgt der Umstand, dass die deutsche Schuhindustrie in Nazihausen produzieren ließ. Für Materialtests gab es eine 700 Meter lange Strecke, auf denen die „Tester“ zu rennen hatten, und zwar 40 Kilometer am Tag. Die Schuhe wurden extra eine Nummer kleiner ausgewählt, manchmal auch zwei.
1992 setzten Neonazis die Baracke 38 in Brand. Darin befindet sich auch ein Waschraum. Die Fußbecken dort dienten den SS-Wachmannschaften dazu, Gefangene zu ertränken. Und warte erst mal ab, bis du in die Medizinbaracke kommst. Aus den Schuhen haut es dort in diesem wie jedem Hochsommer Tausende von Schülern; Jugendliche, die bei den Temperaturen kaum noch was anhaben, an den Füßen maximal Flipflops. Zunächst wirkt das obszön, es gibt Areale, an denen geschrieben steht: „Hier liegt die Asche von Ermordeten.“
Wer jedoch länger in der Gedenkstätte weilt, freut sich bald über alles, Hauptsache, es ist nicht tot. Verrückt oder sachlich? Eine Frage angewandter Filmkritik, sicher. Die Entscheidung fällt einem in Sachsenhausen leicht.
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Angewandte Filmkritik #28: Fliegen im Joe-May-Museum
Kind 1: Die lebt noch.
Kind 2: Die klebt noch.
Zwischen 1920 und 1938 wurden in der Filmstadt Woltersdorf bei Berlin („Märkisches Hollywood“), Filme wie „Der Tiger von Eschnapur“ oder das „Indische Grabmal“ gedreht. Die Kulissen waren aus Beton. Hermann Göring soll sich welche in den Garten gestellt haben.
Der Woltersdorfer Verschönerungsverein hat Kulissenteile, originale Filmplakate sowie historische Aufnahmen vom Filmgeschehen zusammengetragen und stellt sie im Woltersdorfer Aussichtsturm aus, den zu DDR-Zeiten die bewaffneten Organe nutzten.
Ein Großteil der Ausstellung ist Joe May gewidmet: Der jüdische Filmproduzent, der viele der Filme verantwortete, musste vor den Nazis nach Hollywood flüchten, starb verarmt in Los Angeles.
Der Turm ist aus Holz und hat mehrere Etagen. Die oberste bildet eine Aussichtsplattform. Die Fenster dort lassen sich aus Sicherheitsgründen nicht öffnen. Eine Todesfalle für Insekten, die dort hinauf geflogen sind: Sie kommen kaum auf die Idee, den schmalen Treppengang retour zu nehmen. Unter einer Bank steht ein Staubsauger.
Die oben genannten Kinder zerquetschten Fliegen mit den Fingern an der Scheibe. Dem Autor gelang es, einen Schmetterling einzufangen und die 25 Meter herab ins Freie mitzunehmen.
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Angewandte Filmkritik #27: Churchill
Aus einer Diskussion nach der Vorführung des Films „Die dunkelste Stunde“ über Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg, der im Grunde ein zweistündiges Rauch- und Saufvideo mit dem Schauspieler Gary Oldman ist:
Moderator: „Was würden Sie Churchill fragen, wenn Sie ihn eine Minute sprechen könnten?“
Robbie Bulloch, Gesandter der Britischen Botschaft und ehemals außenpolitischer Berater der britischen Regierung: „Ich würde fragen: Warum trinkst du so viel?“
Moderator: „Wenn Sie könnten, was würden Sie mit Churchill trinken?“
Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und Vorsitzender der deutsch-britischen Parlamentariergruppe: „Was Hochprozentiges! Vorbildlich finde ich auch, dass er immer um 16 Uhr Nachmittagsschlaf gehalten hat. Das sollten wir auch machen.“
Ein Film, der wirklich tiefe Einblicke in die Politik bietet. Seine kritische Auswertung sogar noch mehr.
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Angewandte Filmkritik #26:Die Sympathisanten
So hineinversetzt in einen Film wie in „Die Sympathisanten – Unser Deutscher Herbst“ (Kinostart 24. Mai) von Felix Moeller fühlte ich mich selten.
Der Film berichtet vom eigentlichen wie vermeintlichen Umfeld der Roten Armee Fraktion in den siebziger und achtziger Jahren und zeichnet die Ereignisse am Beispiel von Moellers Eltern Margarete von Trotta und Volker Schlöndorff nach.
Es ist nicht so sehr, dass ich mich noch gut daran erinnern kann, als Schulkind hinten im Auto meiner Eltern von Polizisten angehalten worden zu sein, die uns die Maschinenpistole unter die Nase hielten, weil sie in einem blauen VW Käfer mit Familiengepäck RAF-Terroristen vermuteten.
Was mich verwirrt, ist ein Stilmittel, das Moeller benutzt, wenn er seine Eltern berichten lässt: Desöfteren filmt die Kamera Seiten aus den Tagebüchern seiner Mutter ab. Margarete von Trotta hat exakt meine Handschrift. Wenn gezeigt wird, wie sie notiert hat, dass Wohnungen in der Nacht durchsucht wurden, vermeine ich mich gut daran zu erinnern, dies geschrieben zu haben.
Der Schriftsteller Heinrich Böll wehrt sich gegen Diffamierungen der Springerpresse? Ich weiß es noch ganz genau, ich habe es protokolliert.
Wenn die Rede ist von Schlöndorffs Film „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, seiner und Heinrich Bölls Warnung vor einem neuen Überwachungsstaat, und von Trottas Zeilen dazu eingeblendet werden – was soll ich sagen: Ich war durch ihre Hände dabei, als er uraufgeführt wurde.
So wird dieser deutsche Herbst recht eigentlich „mein deutscher Herbst“. Etwas schwindelig gehe ich aus dem Kino. Tagebuch führe ich schon länger nicht mehr. Vielleicht sollte ich wieder damit anfangen.
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Angewandte Filmkritik #25: Kosslick
Die Presse bekämpft ihn schon lange, sein Filmfestival sei zu plakativ politisch, zu groß, zu wenig Kunst. Von Filmen habe er keine Ahnung, der Berlinale-Leiter Dieter Kosslick. Neulich kam‘s raus: Der seit 2001 Amtierende wird in zwei Jahren abgelöst, Rente mit 69. Dann möchten die Filmkritiker eine Ausschreibung für den Job, es soll nichts gemauschelt werden!
Kosslick hat die Berliner Filmfestspiele in einen Event verwandelt. Und hat er nicht Herz für Filme, die sich niemand anschauen würde, gäbe es die Berlinale nicht? Vorwürfe kontert er mit wurstigen Antworten.
Und ich muss sagen: Keiner hat die Schwächen des Kinosaals dermaßen gut erkannt wie der Impresario mit dem roten Schal, anlässlich des diesjährigen Filmturniers mit 399 Filmen: „Wenn keiner vor dir sitzt, niemand neben dir mit Fastfood raschelt und endlos auf dem leeren Cola-Eis rumschlürft, wenn niemand dazwischenquasselt und mit den Füßen im Aktionszyklus dir in den Rücken boxt, wenn… Der beste Platz ist in meinem Berlinale-Heimkino.“
Da muss der oder die Nächste schon gute Argumente haben.
Angewandte Filmkritik #24: Vater
Vater: Und?
Filmkritiker: Ich sitze viel im Kino.
Vater: Geh nach Hollywood. Da machst du Karriere.
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Angewandte Filmkritik #23: „Berlin, I love You“.
Bei der Wahl zum diesjährigen „FairFilm Award“ landete Til Schweigers oben genannte Berlin-Hommage (Kinostart 22. November 2018) auf dem letzten Platz. Ausgezeichnet werden faire Arbeitsbedingungen am Set durch die Bundesvereinigung „Die Filmschaffenden“. Ausgewählt werden die Produktionen durch Umfragen bei Branchenbeschäftigten. Motto: „Arbeit ist viel Lebenszeit – und die sollten wir alle gemeinsam ebenso anregend wie rücksichts- und freudvoll gestalten.“ Geachtet wird auf Kriterien wie Honorar, Gleichberechtigung, Arbeitsklima und Nachhaltigkeit. Am rücksichts- und freudvollsten präsentierten sich dieses Jahr die Produktion „Der Vorname“ (18. Oktober 2018) und die Serie „Rentnercops“.
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Angewandte Filmkritik #22: Berlinale-Schlaf
Viele Filmkritiker sind schon etwas älter – oft 70 aufwärts, sprechen sie fünf Sprachen und haben drei Filmfestivals gegründet. Da ist Schlaf so ein Ding.
Der Berlinale-Wettbewerb gilt Filmprofis seit jeher als etwas, sagen wir, langatmig. Durchaus gab es schon Vorführungen, bei denen ungefähr 40 Prozent der Anwesenden ein Nickerchen gemacht haben dürften. Die Gründe: Alter oder Party am Abend. Oder beides.
Ein mir sehr gut bekannter Kritiker etwas älteren Jahrgangs ließ sich mal quicklebendig neben mich fallen und musste alsbald feststellen, dass seine Nachbarin den Film verschlief. „Unglaublich“, schimpfte er, „man kann doch im Kino nicht schlafen!“
Beim nächsten Film pennte er selbst fünf Minuten ein. Beim übernächsten schlief er gleich ganz durch. Beim Aufwachen japste er: „Ich fühle mich großartig, das mache ich jetzt immer!“ Das hielt er mit erstaunlicher Konsequenz durch. Und mit Professionalität: Seine Rezensionen der verschlafenen Filme lasen sich recht interessant. Film spricht Körper und Geist gleichermaßen an. Aber braucht man beides, um „Transformers“ zu schauen?
Ich hatte während der Berlinale mal eine Diskussion mit einem Filmkritiker, der der Meinung war, Filmmusik sei Mist, sie lenke von den Bildern ab. Das mag stimmen. Aber sie übertönt das Schnarchen.
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Angewandte Filmkritik #21: Berlinale
Filmkritiker beim Filmfestival: Sätze, die bleiben.
„Eines ist auch klar: ohne unabhängigen und eben durchaus auch investigativen Journalismus gibt es keinen (produktiven) Skandal.“
„Bis die alles im Schrank eingeräumt hat, ist der Film zu Ende.“
„Film transportiert nicht nur Bilder, sondern kann entlegenes Material miteinander verschränken.“
„Die Beschreibung klingt nach einem neuen Bildschirmschoner.“
„Ob es ein schöner Tod wäre, im brennenden Kino zu sterben?“ – „Aber bestimmt nicht bei einem Berlinale-Film.“
„Dieser Film dient ausschließlich der Geldwäsche.“
„Nazif Mujic („Aus dem Leben eines Schrottsammlers“, 2013) wurde am Sonntag tot aufgefunden. Er hatte gesagt, dass er seinen Silbernen Bären für 4000 Euro verkaufen wolle, weil die Familie in Geldnot sei. Er starb verarmt.“
„Humor unterbricht Routinen, legt Sensibilitäten offen und erzeugt Brüche. Wie können Komödien davon profitieren?“
„Das enthält einige MeToo-Fallen.“
„Das könnte auch das Programm von 2012 sein, merken würde das keiner.“
„Im nächsten Leben möchte ich etwas anderes sein.“
„Hier sind sogar die Spielfilme Dokumentarfilme.“
„Es ist nicht zu fassen: Der Stuttgarter Verein für Bewegungsspiele entlässt mit Hannes Wolf einen der begabtesten, innovativsten Trainer.“
„Mein Vater stirbt an Krebs – und wir sind als nächste dran.“
„Brexit. Trump. Und jetzt die Verkündung des Berlinale-Hauptpreises.“
„Die Entscheidung der Jury war mutig und zukunftsweisend. Den Besuch dieses kunstvollen Kinofilms sollte sich jeder erwachsene Zuschauer zutrauen.“
„Und Afrin? – Jaja, auch.“
„Sehr schön, Prost.“
Hier geht es zur Angewandten Filmkritik 11-20.
Bild: Woody Allens „Annie Hall“ (1977) (© MGM / 20th Century Fox)