Ein Glas vibriert auf einer Tischplatte, klappert über die ebene Fläche und nähert sich dabei mehr und mehr dem Rand. Es ist eine Szene, die an den Schluss von Tarkowskijs „Stalker“ (SU 1979) erinnert. Bei Alireza Khatami steckt jedoch ein Erdbeben hinter dem gespenstischen Geschehen – ein Beben, das zugleich auch die Grabplatten auf dem Friedhof zu Bruch gehen und das Verborgene, Vergrabene wieder ans Tageslicht gelangen lässt.
Die chilenisch-deutsch-französisch-niederländische Koproduktion „Los Versos del Olvido“ des Chilenen Alireza Khatami ist ein (Debüt-)Film, der sich der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart verschrieben hat. In den „Versen des Vergessens“ des Originaltitels klingt das weniger an als im deutschen Titelzusatz „Im Labyrinth der Erinnerung“, welcher offenbar auf die labyrinthischen, unterirdischen Archive innerhalb des Films Bezug nimmt, die nur mit einem Ariadne-Faden sicher durchquert werden können. Aber es geht nicht explizit um die chilenische Dikatur unter Pinochet, die da unter der Erdoberfläche auf dem symbolträchtigen Raum des Friedhofs nachhallt. Eher scheint der Film inmitten einer solchen Diktatur zu spielen. Indes deutet ein Mobiltelefon gleich zu Beginn an, dass der Film im 21. Jahrhundert spielt. Und für die Studentenproteste der Jahre 2011 und 2012 in Chile fällt die Gewaltsamkeit der Repression wiederum zu heftig aus.
Khatamis Erstling scheint eher in einer Zeit zu spielen, in welcher verschiedene Zeiten anachronistisch verschmelzen. Auf der – in die Vergangenheit zurückweisenden – Gegenwartsebene stößt ein Friedhofswärter, der keine Namen erinnern und andererseits keinerlei Ereignisse vergessen kann, auf den Leichnam einer jungen Frau, den einige Milizen nach dem Vorgehen gegen Demonstranten in einem der Kühlfächer zurückgelassen haben. Ihr wird der Friedhofswärter, dessen Gehilfe mittlerweile die Lebens- bzw. Sterbe-Geschichten von 1000 Begrabenen zu erzählen weiß, gemeinsam mit einer älteren Frau, die seit Jahren um ihre verschollene, tote Tochter trauert, eine Beerdigung zukommen lassen, indem er die Tote als seine eigene Tochter ausgibt: Die Beerdigung des fremden, anonymen Opfers der Gewalt ermöglicht somit verschiedenen Menschen Formen der Trauerarbeit und des Abschieds. Ein gefährliches Unterfangen, weshalb er sich auch bald darauf lebendig begraben in den Friedhofsgewölben wiederfindet – bis ein Beben ihn wieder befreit.
Reichlich kryptisch gibt sich diese Parabel, die auf und unter einem Friedhof spielt, streut während ihres gemächlichen Verlaufs mit Ariadnefäden, Wecker-Fluten und vielem mehr Details und Momente ein, welche keinesfalls die Handlung vorantreiben, sondern viel eher den Spielraum der Assoziationsmöglichkeiten vergrößern. Zu den intensivsten dieser Momente zählt sicherlich das Auftauchen eines Wals, der vom Friedhofswärter betrachtet am Himmel entlang schwimmt: Was zunächst einem magischen Realismus geschuldet zu sein scheint, wird am Ende wieder aufgegriffen, als nur einer von sechs ans Ufer gespülten Walfischen gerettet und ins Meer zurückgeführt werden kann. Wale, so heißt es kurz darauf, wiesen eine sehr menschliche Weise des Trauerns auf – und der gerettete Wal bleibt in Ufernähe, mag nicht von den toten Gefährten ablassen.
Vermutlich wurden Wale als Bewohner des Meeres, des Fluiden und Ozeanischen gewählt, denn „Los Versos del Olvido“ erhebt das Verschwimmen zum zentralen Motiv. Aus dem Inneren eines Brunnens blickt das Publikum einmal für längere Zeit durch eine wankende, Wellen schlagende Wasseroberfläche in das verschwimmende Gesicht des Friedhofswärters. Man kennt diese Einstellung aus „Iwans Kindheit“ (SU 1962; Regie: Andrej Tarkowskij), wo sie mit der Erinnerung und der Imagination einherging, wobei die Wasseroberfläche Traum und Wirklichkeit zu scheiden schien. Spiegelnde Wasseroberflächen und verschmelzende, formlose Wassermassen – die in „Nostalghia“ (F/I/SU 1983; Regie: Andrej Tarkowskij) zur Losung „1+1=1“ führten, da sich zwei Tropfen stets zu einem größeren Tropfen vereinigten – ziehen sich durch alle von Tarkowskijs Filmen, über die Chris Marker einmal urteilte, es gäbe soviel Wasser in ihnen. Und so, wie insbesondere in „Solaris“ (SU 1972; Regie: Andrej Tarkowskij), in „Der Spiegel“ (SU 1972; Regie: Andrej Tarkowskij) und in „Stalker“ Zeit (und Raum) als Fluides dazu neigt zu verschwimmen und zu verschmelzen, so fällt auch bei Khatami alles zusammen: Die Vergangenheit lebt in der Gegenwart fort, die Gegenwart erscheint als zig Zeiträume verbindender Anachronismus, das Fantastische wirkt im Realen und eine Mitleidsethik oder eher noch ein unreflektiertes Mitgefühl lässt Menschen (und Wale) Anteil nehmen am Leid der anderen – weshalb dann auch der stille Held des Films seinen eigenen Namen ebensowenig weiß wie die Namen der anderen: Auf die Individualität stiftenden Namen kommt es nicht an, bloß auf Erfahrungen und Erlebnisse, anhand derer man sich im Anderen erkennen kann.
Behäbig und schwerfällig wie ein Wal kommt diese engagierte, aber jede Menge Geruhsamkeit einfordernde Parabel daher, deren Geschehnisse bisweilen ähnlich kryptisch ausfallen wie das Reich unterhalb des Friedhofs. „Los Versos del Olvido“ ist ein etwas sperriger, zugleich aber auch inhaltlich wie formal äußerst reizvoller Film, der zu Zweit- und Drittsichtungen einlädt und mit edelmütiger Menschlichkeit besticht.