Am Anfang von Ian Penmans Buch „Fassbinder. Tausende von Spiegeln“ steht ein Zitat des Schriftstellers Vladimir Nabokov: „Denn es gibt mich nicht: Es gibt nur die Tausende von Spiegeln, die mich reflektieren. Mit jeder neuen Bekanntschaft wächst die Population der Phantome, die mir ähneln.“ Damit weist der englische Kulturjournalist nicht nur auf die Schwierigkeit hin, die schillernde Identität des zu untersuchenden Künstlersubjekts zu erfassen oder dieses überhaupt als feste Entität zu begreifen, sondern er gibt zugleich seine bewusst unscharfe Forschungsmethode vor. Um das zersplitterte, sich immer wieder entziehende Leben respektive Werk des bedeutenden deutschen Filmregisseurs anschaulich zu machen, schreibt Penman einen Text, der sich in ein „Vorspiel“, in 450 durchnummerierte Fragmente sowie zwei dokumentarische Anhänge gliedert. Weil sich das Ganze von Fassbinders höchst widersprüchlicher Biografie weder auf einen Begriff bringen lasse, noch im Einzelnen abschätzbar sei, strebt der Autor in poststrukturalistischer Manier keine lineare oder gar auf Vollständigkeit zielende Darstellung an. Seine enorm informierte Studie ist vielmehr mäandernd, rhizomatisch verschlungen, radikal unausgewogen, „antidialektisch“ und subjektiv.
Dieser mehr literarische Ansatz, der durch eine akkumulative Rhetorik eine ebenso sprachkünstlerisch-poetische wie philosophische Text-Collage hervorbringt, führt dazu, dass in Penmans vielfältigem Assoziationsraum nicht nur der Porträtierte, sondern auch die Erlebnisse und Kunsterfahrungen des Biografen eine gewichtige Rolle spielen. So wechselt der Interpret permanent zwischen Naheliegendem und Entferntem, zwischen Fassbinders wüstem Leben und seinem ausufernden Werk, zwischen seiner eigenen Sozialisation in den 1960er- und 70er-Jahren sowie einer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Nachkriegsgesellschaft des Wirtschaftswunderlandes, den politischen Wirkungen des Kalten Krieges und der kapitalistischen Infiltration des Kunstbetriebs. Im Zentrum dieses Konflikts zwischen Käuflichkeit und radikaler Selbstentäußerung erscheint Rainer Werner Fassbinder selbst als maßloser, alles verschlingender Künstler, der sein eigenes Zerrbild bestätigt und damit zum Mythos seiner selbst wird.
„Der RWF-Mythos hat alles!“, schreibt Ian Penman gleich zu Beginn seiner ebenso originellen wie reichhaltigen Spurensuche, die ihn als wilden Sammler ausweist. Fassbinder, der sich als Selbstsucher in seinen Figuren enthülle, vereine in sich Homosexualität und Künstlertum, Drogensucht und Revolte, ein vorbildliches, durch ein Höchstmaß an Disziplin geschaffenes Werk und ein unordentliches, verschwenderisches Leben im Schnittpunkt von linker Politik, Filmbesessenheit und Radikaltheater. Das Kino als Zufluchtsort und Versteck formt bereits in der Kindheit seine Weltsicht und wird zum Spiegel der Selbsterkenntnis. Indem er das Leben filmisch wahrnimmt, beutet er es hemmungslos für die Kunst aus. Das Leiden an den Lügen der Gesellschaft, an Gefühllosigkeit, Verfall, Einsamkeit und Angst führt Fassbinder immer wieder, wie er selbst sagt, zu seinem Hauptthema: „die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden.“ Trotz aller Bewunderung für Fassbinder (inklusive deutscher Kultur) zeigt Penman die Widersprüche eines Künstlers, der selbst Macht missbrauchte; und der gefangen war zwischen Schein und Wirklichkeit, Liebesbedürftigkeit und auswegloser Hoffnungslosigkeit.
Ian Penman: Fassbinder. Tausende von Spiegeln. Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 244 Seiten. 20 Euro