Es sollte nur ein Spaß sein und ein kleines Geschäft. Als salafistische Prediger in Tunis Niqabs gratis verteilen, holen sich Ghofrane und ihre Schwestern welche, um sie weiterzuverkaufen. Kichernd probieren sie die Vollverschleierung an. Doch Ghofrane legt sie nicht mehr ab. Sie radikalisiert sich, tyrannisiert die „ungläubige“ Familie, versucht ihre drei jüngeren Schwestern am Schulbesuch zu hindern, und 2016 schließt sich die 16-Jährige dem Islamischen Staat in Libyen an. Kurz darauf folgt ihr die zweitälteste Schwester Rhama. Die beiden Tunesierinnen sitzen mittlerweile in einem libyschen Gefängnis, die Tochter von Ghofrane und einem IS-Kämpfer wächst hinter Gittern auf.
Olfa Hamrouni, die Mutter der, wie sie es ausdrückt, „vom Wolf gefressenen“ Jugendlichen wandte sich in ihrer Not an die Medien und kritisierte die Tatenlosigkeit der tunesischen Behörden. So kam ihre Landsfrau, die Regisseurin Kaouther Ben Hania, auf die Idee, einen Film über die starke und charismatische Mutter und ihre Töchter zu drehen. Es gab da nur ein Problem: „Olfa wurde von Journalisten konditioniert. Sie spielte mit großem Gespür für Tragik die Rolle der trauernden, hysterischen und von Schuldgefühlen zerfressenen Mutter (…) Sobald ich meine Kamera einschaltete, begann sie eine bestimmte Rolle zu spielen.“
Aus der Not heraus entwickelte Ben Hania, von jeher fasziniert „von der schwierigen Beziehung zwischen Fiktion und Dokumentarfilm“, eine geniale Idee, die ihr in Cannes den Preis für den besten Dokumentarfilm einbrachte: „Mir wurde klar, dass einen Dokumentarfilm über die Vorbereitung einer Fake-Fiktion zu drehen, die nie das Licht der Welt erblicken würde, der beste Weg war, Olfa zurück in die Realität und zu ihren Erinnerungen zu holen.“ Sie engagiert drei Schauspielerinnen – zwei spielen die abwesenden Töchter, und der tunesische Schauspielstar Hend Sabri soll in manchen Szenen, in denen es für die echte Olfa zu aufwühlend wird, ihre Rolle übernehmen. Die verbliebenen Schwestern, die ihre Haare offen tragen und sich modern kleiden, spielen sich selbst.
Aber das in der ästhetisch reduzierten Kulisse eines heruntergekommenen Hotels gedrehte introspektive Kammerspiel konzentriert sich weniger auf das Nachstellen bestimmter Erlebnisse als darauf, was diese filmische Familienaufstellung bei den echten Protagonistinnen auslöst. Die Zuschauerinnen sind beim gegenseitigen Kennenlernen und Posieren in den Rollen dabei (was bereits starke Emotionen hervorruft), beim – vermeintlichen – Briefing der Darstellerinnen durch die Familienmitglieder, beim Austausch mit der Regisseurin und auch bei der Reflexion der Schauspielerinnen darüber, wie sie sich abgrenzen können. Da fragt man sich, ob nicht bei so manchem Film nach einer wahren Geschichte das Briefing und die Dreharbeiten fesselnder wären als das Endprodukt.
Sabri fragt Olfa aus, konfrontiert sie mit Kritik, versucht zu verstehen, warum die Alleinerziehende, die sich als Putzkraft durchschlägt, mit Gewalt reagiert hat, als die ältesten Töchter begannen, sich zu schminken und mit Jungs zu flirten. Die Mutter korrigiert die Schauspielerin, spielt eine Szene spontan selbst.
Währenddessen übernimmt der Darsteller Majd Mastura alle Männerrollen: Olfas Gatten, den sie nach der Zwangsheirat in der Hochzeitsnacht verprügelt hat, um das obligatorische Blut auf dem Bettlaken präsentieren zu können, und von dem sie sich scheiden ließ; ihren drogensüchtigen Liebhaber, unter dem die Töchter zu leiden hatten; Vertreter der Behörden – auch wenn sich die Erscheinungsformen wandeln, das Patriarchat bleibt immer gleich. Ben Hania dokumentiert jedoch auch ethische Bedenken des Darstellers gegen ihre Vorgehensweise: Eine sehr emotionale Szene unterbricht Mastura, weil eine Tochter Intimitäten offenbart, die seiner Ansicht nach nicht an die Öffentlichkeit gehören.
Tatsächlich dringt Ben Hania mit ihrem „therapeutischen Labor“ in Tiefen vor, die keine Reportage zu erreichen vermag. Sie holt Verdrängtes hervor und lässt die Familienmitglieder bisher Ungesagtes aussprechen. Eine der Töchter kommt zu der Erkenntnis, die Mutter habe „eben alles an uns weitergegeben, was ihr angetan wurde, darum nennt sie es einen Fluch“. Es wird geweint, gelacht, getröstet – eine schwesterliche Verbundenheit zwischen Filmteam und Protagonistinnen wird spürbar. Und die westliche Zuschauerin versteht die Lage von Frauen, die islamistischer Propaganda ausgesetzt sind, besser, wenn die sehr reflektierten jüngeren Schwestern erklären, dass viele Mädchen den Niqab tragen, weil er ihnen mehr Bewegungsfreiheit verschafft und weil sie Angst davor haben, als Sündhafte „im Grab gefoltert zu werden“. Ihr nüchternes Resümee: „Im Islamischen Staat dürften wir diesen Film nicht drehen.“
Diese Kritik erschien zuerst am 17.01.2024 in: ND
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Olfas Töchter“.