Eine lange Kolonne von Kriegsheimkehrern erinnert an das Ende des 1. Weltkrieges. Müde und stumm gehen die Soldaten durch die weite Landschaft, die herbstlich anmutet und fern in der Zeit, was durch eine blasse, neblige Farbigkeit verstärkt wird. Tatsächlich handelt es sich um historische Aufnahmen, die Pietro Marcello hier und an anderen Stellen seines neuen Films „Die Purpursegel“ („L’envol“) nahtlos in die Spielhandlung einfügt. Denn schon wechselt die Szene zu Raphaël (Raphaël Thiéry), der mit schwerem, hinkendem Gang ebenfalls in sein kleines Dorf in der Picardie zurückkehrt, wo die Kinder noch Krieg spielen und die Bevölkerung Mangel leidet. Hier muss der große, schwere Mann mit den groben Gesichtszügen und den kräftigen Händen von der sorgsamen Nachbarin Adeline (Noémie Lvovsky) erfahren, dass seine junge Frau Marie gestorben ist. Deren Tochter Juliette, noch ein Baby, wird von Adeline nun in die Obhut des Vaters übergeben. Dieser sitzt am nächsten Tag auf dem Gräberfeld des Friedhofs zwischen schiefen, schmucklosen Kreuzen und spielt wehmütig Akkordeon.
Dass Maries Erkältungstod eine Vergewaltigung durch den Dorfwirt vorausging, wird in der Folge Raphaëls von unterdrückten Rachegefühlen imprägnierten Außenseiterstatus unter den rauen Dörflern verhärten. Schweigsam und zurückgezogen beginnt der handwerklich und musisch begabte Mann mit Holz zu arbeiten, und zwar zunächst als Angestellter im Schiffsbau, später als selbständiger Kunsthandwerker, der Spielzeug herstellt. Der Kontrast zwischen dem massigen Mann und der feinen Geschicklichkeit seiner Hände bestimmt auch das zärtlich innige Verhältnis zwischen dem Vater und seiner heranwachsenden Tochter. Juliette (Juliette Jouan) entwickelt sich im Lauf der Zeit nämlich zu einer schönen jungen, musikalisch begabten Frau, die Gedichte zu Liedern vertont und sich frei entfalten kann. Marcello betont hier die emanzipatorische und solidarische Kraft einer zusammengewürfelten Ersatzfamilie, zu der neben Adeline noch die Familie des Schmieds gehört. Zusammen bilden sie einen Gegenpol zu den Anfeindungen der Dorfgemeinschaft.
In seiner freien Adaption von Alexander Grins literarischen Vorlage geht es Pietro Marcello erneut um die Darstellung einer nahezu archaischen ländlichen Welt, die Mühen des einfachen Lebens und den Zauber der Natur, während die Vorzeichen des modernen Wandels zugleich vom allmählichen Verschwinden dieser Welt künden. Der körnige, mit dokumentarischen Mitteln gestaltete Realismus seines ebenso beeindruckenden wie bewegenden Films ist selbst Zeugnis eines Beharrungsvermögens wider den Zeitgeist. Aber auch mit der romantischen Figur Juliettes, die von der Liebe und von fernen Ländern träumt und dabei von den Prophezeiungen einer alten Zauberin (Yolande Moreau) bestärkt wird, evoziert Pietro Marcellos poetischer Film eine magische Gegenwelt. Elemente des Märchens und des Musicals sind deshalb ganz selbstverständlich Teil dieser magischen Ordnung, in der Juliette gegen die machtvolle Wiederholung des Schicksals und für ein selbstbestimmtes Liebesglück kämpft.