„Sag mir mehr darüber“, verlangt Iro (Agathe Bonitzer), als sie am Telefon erfährt, dass ihr Ex getötet wurde. Diese Worte sprechen der Zuschauerin aus dem Herzen. Über weite Strecken hat die für ihre so hermetischen wie eigensinnigen Filme bekannte Angela Schanelec in „Music“ bis zu diesem Telefonat konsequent auf gesprochene Sprache nahezu verzichtet. Die Zuschauerin lechzt nach Erklärungen. Während andere deutsche Regisseur*innen auf enervierende Weise noch für die Begriffstutzigsten alles auserzählen, deutet die originellste Vertreterin der Berliner Schule nur an und lässt die Bilder ihrer starren Kamera und die sparsame Mimik ihrer Darsteller*innen sprechen: lange Einstellungen, lange Blicke.
Am Anfang ist Nebel über den Bergen, irgendwann ein Donnerhall – und es ist zunächst nur eine Ahnung: Hier sind wir mitten in einer Katastrophe. Es verschlägt dem Film und seinen Protagonist*innen die Sprache. „Es ging darum, Bilder für Vorgänge zu finden, für die es meiner Meinung nach keine Worte gibt. Unser Leben ist voll von missglückter Verständigung“, sagt Schanelec dazu. „Bei Spielfilmen habe ich oft den Eindruck, es wird etwas gezeigt, damit es auch geglaubt wird. Das ist mir fremd. Für mich liegt in der Auslassung erst die Chance, zu erzählen.“
Und das treibt sie diesmal auf die Spitze. Noch mehr als in ihren früheren Filmen, versucht die Zuschauerin sich mühevoll einen Reim aus dem Geschehen zu machen und ohne den Hinweis aus Pressemappe und Filmplakat „frei nach dem Ödipus-Mythos“ wäre ich womöglich gar nicht auf diesen Pfad gelangt, zumal (mutmaßlicher) Vater und Sohn in Schanelecs griechischer Tragödienvariation gleich alt wirken.
Erst durch das Telefonat geht Iro und der Zuschauerin nachträglich ein Licht auf: Ihr neuer Partner Jon (Aliocha Schneider) hat seinen Vorgänger im Impuls getötet. Während Iro an ihrer Erkenntnis zerbricht, begnadigt Schanelec ihren Ödipus und lässt ihn im wahrsten Sinne im Dunkeln tappen. Zwar landet Jon zunächst im Gefängnis, wo er Iro und seine Liebe zur Musik kennenlernt, zwar verliert er Iro wieder und erblindet nach und nach – doch durch die Entdeckung des eigenen Gesangstalents wird ihm Erlösung zuteil.
Jon kehrt ins gesellschaftliche Leben zurück und avanciert vom Findelkind in den griechischen Bergen zum Berliner Berufsmusiker, dessen Falsettgesang den Film in sphärische Höhen gleiten lässt. Die titelgebende Musik gibt es nie aus dem Off, sondern als Bestandteil der Handlung und sie rettet Leben: Barockmusik vom Rekorder im Knast und von Jon selbst gesungene Klänge (Filmmusik: Doug Tielli) – die Musik nimmt als Ausdruck des Unbewussten am Ende so viel Raum im Film ein, dass sich hier die beiden Kunstformen vermischen. „Ich scheue die Musik, weil sie schnell überwältigt“, räumt Schanelec im Interview ein. „Jetzt gab es durch den Schmerz einen Grund, eine Notwendigkeit für die Musik.“
Eine Ödipus-Aufführung von Sophokles hatte die junge Angela Schanelec offenbar so nachhaltig beeindruckt, dass sie nun, Jahrzehnte später, diese verrätselte und traumschöne filmische Variation des Mythos vorlegen musste und dabei die Zuschauerin den eigenen Assoziationen überlässt. Während ich, um mitzukommen, mein mythologisches Halbwissen zusammenkratzte, fiel mir auf, dass ich selbst mit Sophokles’ Ödipus Musik verknüpfe, aber in gänzlich anderer Weise.
Mein Lateinlehrer, ein promovierter Altphilologe, der gern mit Pschychotricks arbeitete, die Schultheater-AG leitete und von seinen Jünger*innen verehrt wurde, bat mich in seiner Inszenierung des „Ödipus“, Klarinette zu spielen. Ein angehender Komponist von unserer Schule würde die Musik schreiben und habe gesagt, er brauche unbedingt eine Klarinette. Ich versuchte, ihn abzuwimmeln. Aber Dr. B. sah mir eindringlich in die Augen und sprach den unheilvollen Satz: „Du weißt, dass ich auf dich angewiesen bin.“ So verbrachte ich einen Großteil meiner Freizeit mit Musik- und Theaterproben und begleitete zusammen mit einer Querflötistin Sophokles’ Chor mit Zwölftonklängen. Nach der Premiere kam ich mit dem Komponisten ins Gespräch. Warum er eigentlich eine Klarinette wollte. „Eine Klarinette? Ich habe dem B. gesagt, er soll einfach gucken, welche Instrumente er auftreiben kann.“ Erst durch „Music“ bin ich auf die Idee gekommen, was ich Dr. B. hätte antworten sollen: „Warum lassen Sie Ödipus nicht einfach selber singen?“
Diese Kritik erschien zuerst am 04.05.2023 in: ND
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Music“.