Am Anfang des Films könnte der Kontrast zu seinem Titel nicht größer sein. Eine Frau schlummert selig am Strand einer idyllischen Bucht der Côte d‹Azur. Vater und Sohn sind zusammen mit dem Motorboot rausgefahren. Doch schon nach wenigen Minuten kommt der Film nicht mehr zur Ruhe. Draußen auf dem Meer springt Vater Damien kurzerhand ins Wasser und ruft dem verdatterten Kind zu: „Du nimmst das Boot, ich schwimme zurück.“ Bahnt sich eine Katastrophe an? Das Kind schafft es allein zurück, wo die mittlerweile unruhig auf und ab tigernde Mutter wartet. Bis endlich auch der Vater heil eintrifft, vergeht eine gefühlte bange Ewigkeit.
Die Angst ist von nun an dauerpräsent. Damien ist bipolar, und die nächste psychotisch-größenwahnsinnige Phase kündigt sich an. Wenn er seine Tabletten nicht nimmt – warum auch, wenn er sich einfach großartig fühlt und nichts seinen kreativen Schub als Maler hemmen soll –, wird er unberechenbar und zur Gefahr für sich und seine Familie.
„Tatsächlich werden Menschen, die enge Beziehungen zu bipolaren Menschen haben, auch selbst ‚unruhig'“, sagt Joachim Lafosse. Der belgische Regisseur hat sich für „Die Ruhelosen“ von seinen Erfahrungen mit dem eigenen bipolaren Vater, einem Fotografen, der darauf spezialisiert war, Gemälde abzulichten, inspirieren lassen. Der Vater im Film ist Maler; der kunstaffine Schauspieler Damien Bonnard (die Hauptdarsteller tragen dieselben Vornamen wie ihre Figuren) hat die in „Die Ruhelosen“ entstehenden abstrakten Gemälde teils selbst zusammen mit dem belgischen Künstler Piet Raemdonck kreiert. Die Malerei ist neben dem von radikalen Kontrasten geprägten Schauspiel ein weiteres Element, das Damiens Seelenzustand, seine fragile Impulsivität, illustriert.
Der Film spielt zur Zeit der Corona-Pandemie, die die Kleinfamilie umso mehr isoliert; in einer manischen Phase mutiert Damien zum Maskenverweigerer, jede Beschränkung engt ihn ein. Zu unterscheiden, wo die Leidenschaft endet und wo der Wahn beginnt, ist auch für die Zuschauerin nicht immer leicht. Lässt sich seine Frau (Leïla Bekhti überzeugt durch subtil nuancenreiches Spiel) anfangs noch von Damiens Begeisterungsstürmen mitreißen und auf einen spontanen feurigen Tanz ein, gewinnen über die Spanne des Films Resignation und schließlich Trotz und Widerstand gegen ihre unfreiwillige Rolle als Bewacherin, Krankenschwester und Ersatzmutter die Oberhand. Die Liebe bleibt auf der Strecke. Ihre Ablehnung richtet sich auch gegen den Galeristen, der Damien mit Ausstellungsterminen unter Druck setzt und von der Produktivität seiner manisch-eruptiven Phasen profitiert.
Auf den Ausbruch und die von lauter Musik begleiteten fahrig wackelnden Bilder von Kameramann Jean-François Hensgens folgt auch filmisch der harte Kontrast: lähmende Stille. Nach Damiens gewaltsam herbeigeführter Zwangsunterbringung in einer Klinik kommt der zuvor ruhelose Berserker von Medikamenten benebelt als vollends erschlaffter Koloss zurück, der sich in diesem Zustand umso mehr als Belastung für seine Familie fühlt.
Doch Lafosse erzählt vor allem aus Sicht der Angehörigen. Auch der Sohn ist mit der Aufgabe, auf den eigenen Vater aufpassen zu müssen, überfordert und bekommt mehr mit, als er soll. Die verlogenen Erwachsenensätze „Alles wird gut“ und „Mach dir keine Sorgen“ sind mehr Hohn als Trost.
Lafosse beruft sich auf den Psychoanalytiker Roland Gori, der sagt, „dass eine Diagnose für Ärzte bestimmt ist und nicht für die Angehörigen eines Patienten. Sobald eine Diagnose gestellt ist, besteht nämlich die Gefahr, … dass jedes Verhalten, jede Veränderung oder jedes weitere Problem, das auftaucht, der Krankheit zugeschrieben wird. Ich erinnerte mich, dass in meiner Familie die Bipolarität meines Vaters manchmal ein sehr bequemer Sündenbock war“.
„Die Ruhelosen“ ist kein Betroffenheitsfilm, sondern soll „unsere Fähigkeiten und Grenzen in unserem Engagement für die Liebe“ hinterfragen. Ob Beziehungen extremen Belastungen standhalten, untersuchte Lafosse schon in früheren ähnlich quälenden Filmen wie „Die Ökonomie der Liebe“ (Originaltitel: „After Love“) mit sezierendem, aber empathischem Blick.
Den Ausgang der „Ruhelosen“ entwickelte der Regisseur am Ende der Dreharbeiten gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellern.
Diese Kritik erschien zuerst am 14.07.2022 in: ND