Carsten Rau ist 1967 in Hamburg geboren. Er studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Hamburg und Berlin. Bereits als Student war er als freier Mitarbeiter für den NDR tätig; von 1993 bis 2006 arbeitete er für das NDR-Fernsehen als Autor, Regisseur und Reporter. Seit 2006 arbeitet er zusammen mit Hauke Wendler in seiner eigenen Produktionsfirma. Sein Dokumentarfilm „Atomkraft Forever“ über die Gefährlichkeit der Atomenergie, den Aufwand des Rückbaus von Atomkraftwerken und die Endlagersuche feierte Premiere bei DOK Leipzig 2020. Mit Carsten Rau sprach Marit Hofmann.
Haben Sie an all Ihren Wunschdrehorten filmen können?
Nein. Wir haben lange versucht, uns mit der chinesisch-französischen Kooperation in der Nuklearindustrie zu beschäftigen. Das haben wir nach etwa zwei Jahren aufgeben müssen. Die einzige Möglichkeit, in China weiterzukommen, wäre die Kooperation mit einer unterm Strich staatlichen Produktionsfirma gewesen, und davon haben wir Abstand genommen. Ähnlich schwierig war es mit der französischen Nuklearindustrie. Das liegt daran, dass dort niemand sofort „Hier!“ schreit, wenn ein deutscher Journalist oder Filmemacher vor der Tür steht. Die wissen natürlich, dass das Thema Atomindustrie in Deutschland seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird und der Ausstieg hier schon lange beschlossene Sache ist. Die Frage, die sich einem Atomkonzern wie EDF/Areva stellt: Was haben wir zu gewinnen, wenn wir uns mehrere Wochen mit jemandem rumschlagen müssen, der bei uns drehen will und dabei hohe Anforderungen stellt, aber Deutschland gar kein Markt mehr für uns ist? Das haben die mir auch klar so gesagt. Wir haben auch irgendwann Abstand davon genommen, mit EDF zu drehen, weil über lange Zeit immer wieder Funkstille herrschte, obwohl wir uns schon getroffen hatten, die Personaldaten übermittelt hatten usw. Das war der Hauptgrund dafür, dass wir am Ende fünf Jahre an dieser Produktion gesessen haben. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das Projekt angefangen hätte, wenn ich das 2015 gewusst hätte.
Warum konfrontieren Sie im Film die französischen Atomlobbyisten nicht direkt mit der unlösbaren Frage der Atommüllentsorgung und Ihren Beobachtungen, wie mühevoll der Rückbau der Kraftwerke in Deutschland ist?
Die Endlagersuche und den Rückbau gestaltet jedes Land für sich selbst. Wir haben in Greifswald so lange gedreht, weil die dort am weitesten sind mit der Dekontaminierung und dem Rückbau eines Kraftwerks. Dazu kann mir die französische Nuklearindustrie nicht viel sagen. Es ging uns auch gar nicht so sehr darum, die französischen Vertreter des Atomforschungszentrums und der Nuklearindustrie mit den Argumenten zu konfrontieren, die gegen Kernkraft sprechen. Der Hintergrund der Dreharbeiten dort war, dass Frankreich stellvertretend für jene europäischen Staaten steht, die überhaupt nicht vorhaben, dem deutschen Beispiel des Ausstiegs zu folgen.
Die heute auf uns unfreiwillig komisch wirkende Atom-Euphorie der eingestreuten TV-Archivaufnahmen aus Ost- wie Westdeutschland scheint ungehemmt fortzuwirken, wenn ein Manager des französischen Stromerzeugers EDF auf der Konferenz „Atoms for future“ dem heutigen Ingenieursnachwuchs attestiert: „Sie sind die Zukunft unserer Branche, lächelnde Menschen mit leuchtenden Augen und Leidenschaft.“ Wie erklären Sie sich die ungebrochene Begeisterung der französischen Nuklearingenieurselite für die Segnungen der Atomkraft?
Dass die Technik eines Atomkraftwerks beeindruckend ist, bestreiten nicht mal Atomkraftkritiker. Noch beeindruckender ist, dass die belgischen und französischen Atomkraftwerke, nach all den Pannen, die wir von ihnen kennen, uns noch nicht um die Ohren geflogen sind, das ist eine Ingenieurleistung. Ich kann die Faszination für die Technik nachvollziehen, aber nicht die Konsequenzen, auch für die eigene Zukunft auf die Nuklearindustrie zu setzen.
Im Film gibt es kein Gegenargument zur von einem Verantwortlichen vorgetragenen These, dass die Stromversorgung in der Bundesrepublik nicht gesichert wäre, wenn Kernkraft- sowie Kohlekraftwerke wegfallen. Stimmen Sie zu? Wäre die These auch tragfähig, wenn Regierungen und Ministerien auf Bundes- und Landesebene den Ausbau alternativer Energien nicht immer wieder behindert hätten?
Die Netzbetreiber argumentieren auf einer anderen Basis als die Lobbyisten der erneuerbaren Energien, ihnen geht es ausschließlich um die Stabilität des Stromnetzes. Beim notwendigen Umbau der Energiewirtschaft gibt es noch einige ungeklärte Fragen. Kein einzelner Energieträger wird unsere Probleme lösen. Diese offenen Fragen sind das Einfallstor der Nuklearindustrie, um sich zu legitimieren. Aber wir haben gar keine andere Wahl, als den Weg des Ausstiegs zu gehen, ohne eine ganz genaue Lösung zu kennen. Man muss den Leuten sagen, dass es unbequem und teurer werden wird, aber besonders vor den Wahlen hat niemand den Mut dazu. Es ist absurd, dass die EU-Kommission jetzt prüfen lässt, ob Atomkraft nicht doch eine nachhaltige Energiequelle ist.
Sie haben mit Jochen Stay von der Organisation Ausgestrahlt nur einen expliziten Anti-Atom-Aktivisten im Film, dafür deutlich mehr Atomkraftanhänger. Warum?
Jochen Stay ist einer der deutlichen Kritiker des Suchverfahrens der Bundesgesellschaft für Endlagerung, auf deren Veranstaltung wir gedreht haben; da gibt es einen inhaltlichen Bezug. Der Dokumentarfilm, wie ich ihn verstehe, ist ein beschreibendes Genre ohne eine ausgeprägt analytische Ebene. In einem Beitrag eines Politmagazins oder in einer Fernsehdoku fände ich es völlig in Ordnung, beispielsweise nach einem Argument der Atomindustrie einen Kritiker hart dagegenzuschneiden. Im Dokumentarfilm finde ich das schwierig. „Atomkraft Forever“ beschränkt sich auf die Vor- und Nachteile, die man im Rahmen eines Dokumentarfilms visuell umreißen kann – auf der einen Seite der unbestreitbare Vorteil der CO2-armen Technik, auf der anderen Seite der hohe Preis der Atomkraft, den eine Gesellschaft zu tragen hat.
Sie enthalten sich des Off-Kommentars und der expliziten Bewertung, aber die Montage spricht Bände. Und wie in Carmen Losmanns Dokumentarfilmen „Oeconomia“ und „Work Hard Play Hard“ wirken die von Ihrem Kameramann Andrzej Król eingefangenen Bilder der französischen Atomindustrie-Businesswelt, aber auch die der Führungsebene der deutschen Gesellschaft für Endlagerung, die Transparenz und Bürgerbeteiligung bei der Endlagersuche eher vorzugaukeln scheint, oft absurd und entlarvend.
Der Film ist fair, aber nicht objektiv, er ist hochsubjektiv, in der Montage, der Wahl der Drehorte, der Musik. Man kann ihm ansehen, dass ich kein ausgewiesener Freund der Atomindustrie bin. Eine Absurdität liegt schon darin, dass wir für den Müll einer Technologie nun ein Endlager suchen, das eine Million Jahre Sicherheit gewähren soll – was die Gesellschaft für Endlagerung dennoch gewissenhaft tut. Ich würde nicht sagen, dass da Mitbestimmung vorgegaukelt wird, sondern dass da unterschiedliche Auffassungen von Demokratieverständnis aufeinanderprallen. Jochen Stay sagt, es muss eine echte Mitbestimmung der Bürger geben. Die Bundesgesellschaft sagt, das muss am Ende das Parlament entscheiden.
Die Dimensionen eines Kraftwerks sind an sich schon beeindruckend, und die Vorstellung, dass nicht nur die Technik, sondern die gesamte umgebende Struktur dekontaminiert, abgerissen, freigemessen oder endgelagert werden muss – dieser Arbeits- und Zeitaufwand ist absurd. Und es ist die Aufgabe eines Dokumentarfilms, das in Bildern zu umreißen. Das haben wir versucht.
Bei den Interviews mit Ihren Protagonisten lassen Sie die improvisierte Filmklappe bewusst im Bild – um die Drehsituation transparent zu machen, als Verfremdungseffekt?
Die Klappe haben wir für den externen Ton gebraucht. Dringelassen haben wir sie, weil es zum einen eine Möglichkeit war, den Film laufen zu lassen und den Leuten einen Namen zu geben, und weil alle unterschiedlich darauf reagiert haben: Manche haben die Klappe kommentiert oder mussten lachen, manche haben nervös mit dem Kuli gespielt. Und das Dritte, was mir daran gefällt, ist, dass diese Klappe alle Protagonisten auf dieselbe Ebene setzt: die Gastwirtin aus Bayern, den ehemaligen Bürgermeister, den Direktor des Netzbetreibers, den Pressechef des Atomforschungszentrums.
Die dabei kurz aus der Rolle fallen.
Genau, es ist ein kleiner Moment, der überrascht.
Dieses Interview erschien zuerst am 15.09.2021 in: ND