27 Jahre Tarantino Experience

27 Erinnerungen
von Thomas Hemsley

Vor 27 Jahren führte eine recht eigene Interpretation von Madonnas Like A Virgin (hier #12) ein erstauntes Publikum ein in die Tarantino Experience. Seitdem hat Quentin Tarantino noch einige Szenen geschaffen, die sich in das Gedächtnis vieler Zuschauer einbrannten, teilweise sogar ins kollektive Unbewusste einzudringen vermochten. Hier eine Auswahl von 27 flüchtigen Momenten, Dialogen, Tänzen und Gewaltentladungen:

1. The Twist
Wie viele Szenen gibt es schon, die eine spürbare physische Wirkung auf die Welt hatten, die eine Million Menschen auf einer Million Partys und Tanzflächen zum Twisten brachten? So ganz ohne Gewalt, so ganz ohne Gerede über Banalitäten. Eine Szene, die nicht (nur) wegen ihrer Referenzialität oder der Songauswahl herausragt aus dem Film und dem Gesamtwerk. Irgendwas ist hier anders – und doch gibt es solche Szenen immer wieder in seinen Filmen. Szenen, die etwas Anderes bedeuten, die auf etwas anderes in Tarantino verweisen, als die Rezeption ihm normalerweise zugesteht. Warum findet man in einem coolen Zitateschatzkisten etwas so Romantisches, so Transzendentales, so Sinnliches, so Schönes, so Intimes? Thanatos‘ Werk, Eros‘ Beitrag.

2. Sicilians
Seine am besten geschriebene Szene hat er nicht selbst inzeniert. Der Kampf Gut gegen Böse in Form eines Verhörs. Unglaublich lebendige Charaktere kurz skizziert, und so früh in seiner Karriere stellt er die sonstige Dynamik auf den Kopf, der Verhörte dreht den Spieß um, der abwesende Vater opfert sich für seinen Sohn, das letzte Aufbäumen eines Gesetzeshüters. Hier zeigt sich auch das erste Mal Tarantinos Interesse an Weltgeschichte, und auch schon sein idiosynkratischer Umgang damit. Und wer meint, ihm hier die Nutzung des N-Worts vorwerfen zu müssen, der sieht nicht, dass er hier schon Rassismus mehr reflektiert hat als seine Gegner, denn der Rassist ist der Gangster Coccotti, sonst würde er sich nicht über die vermeintliche Verunreinigung seiner Blutlinie vor mehreren Jahrhunderten so erzürnen, so in Rage geraten.

3. The Commode Story
Das beste Stück reinsten Kinos, das er je gemacht hat. Diese Alchemie von Drehbuch (Charakter, Situation, Ideen, Themen, Struktur), Schauspiel, Kamera, Schnitt, Location/Production Design, Ton/Musik und Wirkung auf den Zuschauer. Wenn wir mit der Hauptstoryline anfangen, dann springen wir von da in eine Rückblende nachdem der Undercovercop die Gangsterbande infiltriert hat, von da aus an den Anfang seiner Arbeit, als ihm die Funktion und der Inhalt der Commode-Story erklärt wird von seinem Handler, dann in das Einstudieren der Geschichte und der Rolle, dann in die Feuerprobe, Mr. Oranges Vortrag vor seinem Handler – jeder Sprung ist übrigens auch ein Ortswechsel und ein Zeitsprung, wobei die Geschichte dem Zuschauer nahtlos forterzählt wird -, dann in das Erzählen vor den Gangstern, dann in die Geschichte, innerhalb dieser jetzt filmszenegewordenen Commode-Story gibt es diese unfassbare 360° Kamerafahrt um Mr. Orange, wie er die Geschichte erzählt, scheinbar jetzt den Polizisten in der Szene, dann macht er was er erzählt und die Polizisten verselbstständigen sich, einer erzählt den anderen etwas, was wir Zuschauer mitkriegen, sicherlich interessiert das so ausführlich keinen der Gangster – erzählt der Polizist etwas Wahres, schmückt er die Wahrheit aus, er will sich ja vor seinen Kollegen profilieren… und warum stellt man sich jetzt Fragen über die innerhalb der Fiktion des Films fiktiven Cops? Weil Tarantino sicherlich damit rechnet, deswegen hat er das ja geschrieben und gemacht – er will, dass die Zuschauer sich über kleine Dinge Gedanken machen. Diese paar Minuten sind narrativ übrigens komplexer als der für seine Struktur vieldiskutierte „Pulp Fiction“.

© Universum Film

4. The Gold Watch
Tarantinos größter Fetisch, größte Obsession, seine größte Liebe gilt dem Geschichtenerzählen: Weltgeschichte und Fiktion, alle Arten und Formen, Funktions- und Wirkungsweisen, der Akt an sich und in welchen Situationen. Das ist sein Leib- und Magenthema. Damit beschäftigt er sich in all seinen Filmen, durch all seine Filme auf eine fast schon akademische Art und Weise. Und seine größte Liebeserklärung an das Geschichtenerzählen ist wohl die Geschichte der goldenen Uhr: Sie vereinigt das historische mit dem persönlichen Identitätsstiftenden, sie wirkt wie ein Witz, lädt aber ein Objekt so sehr mit Bedeutung auf, dass diese Uhr zum Motivator für Butch wird, sein Leben aufs Spiel zu setzen, sie wird dadurch also zu einem narrativen Motor. Und das alles wird glaubhaft, weil Christopher Walken und die Bildgestaltung dieser Anekdote eine solche Gravitas verleihen, dass sie einem Shakespeare’schen Monolog ebenbürtig ist.

5. Jackie Brown’s Intro
Eine Einstellung. Ein Song. Eine Frau im Profil. Eine Liebeserklärung an Pam Grier, an Blaxploitation, an Frauen, an Kino.

© Universum Film

6. Foot Massage
In seinen selbst inszenierten Filmen die am besten geschriebene Szene, die wie eine trivialphilosophische Digression wirkt, aber eigentlich ein Expositionsdialog für mehrere Charaktere, diese ganze (Unter-)Welt, die Themen (u. a. Loyalität, Sinnlichkeit) des Films und sogar seine strukturelle Besonderheit (digressiv) wie nebenbei vorwegnimmt. Diese Szene alleine rechtfertigt den Drehbuch-Oscar.

7. The Tavern
Im Subtext handelt der Film nicht vom Holocaust, sondern von der (nicht nur jüdischen) Diaspora. Von Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Heimweh, den verschiedenartigen territorialen Aspekten von Krieg, also auch von Kontrolle eines bestimmten Raumes und dem Verlust dieser Kontrolle. In dieser Szene in einer Taverne im Keller wird der Subtext zum Text.

8. Vincent’s Kiss Goodbye
Der romantischste Moment der 1990er.

9. Ship’s Mast
Der beste Stunt der Filmgeschichte. Nicht der spektakulärste, gefährlichste, aufwendigste oder innovativste – aber der bedeutungsvollste. Da wäre das Verschwimmen der Grenzen zwischen Charakter und Performance (und dabei noch zwischen Schauspiel- und Stuntperformance), und damit einhergehend zwischen Filmszene, hinter-den-Kulissen und vierter Wand. Weiterhin wäre da aber auch das Strukturelle: wie sich die Szene mit der Lapdance-Szene „reimt“ und diese in vielerlei Hinsicht auf den Kopf stellt. Am wichtigsten aber ist, wie der Stunt ein Akt des weiblichen Empowerment ist und dabei auch noch (siehe Lapdance) eine sexuelle Note hat, die unabhängig vom male gaze (der hier auch eine Rolle spielt, siehe das zweite Verschwimmen) ist, bei der es rein um das Autosexuelle geht. Wichtig ist aber auch, dass es eine solidarische Sache ist, die drei Frauen teilen alles, so ist denn auch Rosario Dawsons Gesicht entscheidend, die in dieser Szene der Avatar des Publikums sein sollte – also wird die female gaze der male gaze gegenübergestellt.

© Universum Film

10. Max‘ Mind Blown
Ein Song als Leitmotiv, das für Max Cherry Jackie Brown, seine Verliebtheit, das Erwachen ruhender Gefühle (eines ruhenden Herzens) symbolisiert. Ein anderer der romantischsten Szenen der 1990er: Max Cherry kauft eine Delfonics-Kassette. Eine der bedrohlichsten Szenen in einer an bedrohlichen Szenen reichen Filmographie: Ordell hört in Max‘ Auto einen Song, für den dieser eigentlich viel zu weiß ist.

11. The Spirit of Cinema
Der Geist des Kinos ist weiblich, jüdisch, lacht Tod und Teufel ins Gesicht und ist so erhaben wie flüchtig. Hätte Tarantino doch lieber diesen Film, diese Szene allein, auf 70mm gedreht und vorgeführt und nicht „The hateful Eight“.

12. The Virgin Monolog
Tarantinos Filme sind zu Recht für ihre (größtenteils) tollen Soundtracks berühmt, und für die Rolle, die Musik intradiegetisch spielt. Aber mindestens genauso interessant sind die Hidden Tracks seiner Filme: Musik, die nicht gespielt wird, aber über die gesprochen wird, oder auf die anderweitig verwiesen wird. Gleich am Anfang der Tarantino Experience steht eine Diskussion über Madonna, vor allem Like a Virgin und True Blue. Und die Radiosendung K Billy’s Supersounds of the 70s wird schon eingeführt, speziell wird über zwei Songs gesprochen: Heartbeat – It’s a Lovebeat und vor allem The Night the lights went out in Georgia.

© Universum Film

13. Stuck in the Middle
Eine der brutalsten Szenen der Filmgeschichte, auch durch die kaltblütige Inszenierung: Tarantino weiß was für eine Wirkung er erzeugen will, und er weiß ganz genau wie er das bewerkstelligt: nicht nur durch den Schwenk ins Leere des Raums im entscheidenden Moment, Michael Madsens perverse Lässigkeit und den auch textlich teilweise passenden Song, besonders wie der Folterer kurz rausgeht, und man die Kinder spielen hört, das alles also inmitten der Alltäglichkeit, der Normalität stattfindet. Das Böse inmitten der Banalität.

14. The Jew Hunter
Tarantino ist der Hitchcock des Dialogkinos. Er schreibt und inszeniert wie kein Zweiter die (auch spezifisch filmische) Sinnlichkeit des Dialogs: den Flow der Charaktere, die Gesichter, die Gestik, das, was die Figuren nebenher machen (meist Essen und Trinken), der Raum und die Verhältnisse innerhalb des Raumes. Kein anderer hätte es gewagt und gekonnt, das Codeswitching, die Multilingualität, die Diskrepanz zwischen linguistischer Form und Bedeutung zu nutzen zur spannungssteigernden Desorientierung der Figuren und vor allem zum Aufbau von Suspense, der eines Hitchcock würdig wäre.

15. Phrenology
Der Film fängt eigentlich erst so richtig an mit Leonardo DiCaprios erschreckenden Darstellung nicht so sehr eines rassistischen Sklavenhalters, sondern gleichsam des Rassismus an sich. Die ganze Candyland-Reise hat auch etwas ähnlich Surreales und Groteskes wie „Apocalypse Now“, wie ein Gruselkabinett oder Geisterbahn oder ein Diorama der Schrecken der Sklaverei. Das Herzstück der Finsternis ist aber das Dinner bzw der Showdown zu Tisch, als Calvin Candie den Schädel eines alten Sklaven für eine Lektion über die Pseudowissenschaft der Phrenologie auspackt. Eindringlich und erschütternd.

© Sony Pictures

16. Lapdance
Tarantino hat zwei Arten von Tänzen: die schönen wie in „Pulp Fiction“ und die hässlichen wie in „Reservoir Dogs“. Der Lapdance in „Death Proof“ ist beides gleichzeitig, je nach Perspektive: Für Butterfly ist es erotischer, ausgelassener, verführerischer Spaß, für Mike ist es ein erster richtiger Kontakt mit seinen Opfern. Zum Tanz gehört unbedingt auch Kurt Russells beängstigende Annäherung an die Gruppe davor, quasi ein verbaler Tanz.

17. Stuntman Mike looks down on us
„Death Proof“ scheint ein wütender Film zu sein, von einem älteren Filmemacher, der mit der neuen Filmkultur nicht klarkommt. Und Stuntman Mike ist des Filmemachers Avatar. Als er dann auf sein erstes Opfer herabblickt, ist es als ob Nietzsches Abgrund durch die vierte Wand auf das Publikum herabblickt, voller Wut und Verachtung. Ein furchteinflößender Moment.

18. Superman vs Clark Kent
Rollenspiel/-prosa bzw. Verkleidung bzw. Doppelidentitäten sind auch Formen des Geschichtenerzählens. Und jegliche Form von Geschichte wird benutzt, um etwas über die Menschheit auszusagen. Tarantino, dem zeit seiner gesamten Karriere jegliche Substanz abgesprochen wurde, sogar jegliche Ambition zur Substanz, will seinen Kritikern, aber auch vielen seiner Fans hier vielleicht etwas sagen…

19. Hattori Hanzo
„Kill Bill“ zeugt häufig eher von einer pornographischen Geilheit auf asiatisches Actionkino und Spaghettiwestern und Rape´n`Revenge-Filme. Diese Szene ist aber eine wunderschöne Liebeserklärung: an Sonny Chiba, an japanische Schwertkunst, Samuraifilme, aber auch an die namengebende Legende, gar an japanisches Kino und Kultur, sogar die Sprache. Ach, würde die Szene doch ewig gehen.

© Studiocanal

20. Butch and Marsellus are good
Samurai meets Western meets Pulp lit and movies meets Blaxploitation meets Backwoods.

21. Butch’s Choice
Bei jedem anderen Regisseur hätte Butch sich entschlossen zu helfen und die erstbeste rumliegende “Waffe” genommen. Nur Tarantino kommt darauf, den Helden eine Waffe suchen zu lassen, um dann aber gleichsam von der Waffe auserwählt zu werden. Nicht nur ist die Szene unglaublich komisch, durch die Besetzung mit Actionstar Bruce Willis erhält sie noch eine Metaebene (auch eine Parodie auf die vielen Bewaffnungsmontagen der Actionfilmgeschichte), zumal die Waffe, die ihn auserkoren hat, natürlich die ultimative Actionheldenwaffe ist – die Katana der Samurai und Ninja.

22. Vincent shoots up
Diese Ästhetisierung des Heroinspritzens und des Rausches lässt dann die spätere Überdosis von Mia noch härter wirken.

23. Snake Dance
Tänze sind in Tarantinos Filmen ja eben nicht so kleine bedeutungslose Pausen vom brutalen Geschehen. So eine Art Tanz der sieben Schleier, geht es hier um das Einlullen der Charaktere und des Publikums, bevor die Hölle losbricht. Also irgendwie doch die tarantinoeskeste Szene des Films.

24. Butch vs Vincent
Bei ihrer ersten Begegnung wurde schon ein Antagonismus etabliert, vorweggenommen. „Planted“ nennt man das in Drehbuch-Fachjargon. Der sogenannte „Payoff“ ist ihre zweite Begegnung, die Vincent zum Verhängnis wird. Butch macht sich ein Toast. Vincent kommt vom Klo. Butch hat Vincents Waffe. Das Toast ist fertig. Er schießt. Das ist inszeniert wie eine Miniaturversion eines Leone’schen Duells – und von Sally Menke geschnitten wie die kürzeste Actionszene aller Zeiten. Und der Tod von Vincent Vega ist so banal – und traurig.

© Universum Film

25. Ordell kills Louis
Diese Szene alleine zeigt einen reflektierteren Umgang mit Gewalt als Tarantino in seinen Interviews und in seinen beiden Western, aber auch als seine Kritiker in ihrem Umgang mit Tarantinos Filmen.

26. Black Mamba Women
Tarantino ist ein absoluter Meister des nervenzerrenden Kammerspiels. Da liegt es nur nahe, dass er in seinem ersten Film, der nicht für seine Dialoge bekannt ist, sondern für reinstes Körperkino, zwei All-American-Blonde-Babes (Darryl Splash Hannah!!!) in einem Trailer in der Wüste besagten Trailer und einander schonungslos auseinandernehmen lässt. Die beste Actionszene in „Kill Bill“, weil er bei den anderen zwar gezeigt hat, dass er asiatisches Actionkino in-und auswendig kennt und bis in kleinste Details perfekt filmisch rekonstruieren kann, hier zeigt er aber, dass er auch Action à la Tarantino machen kann.

27. Mr. White Blown Out
„Reservoir Dogs“ war ein fulminantes Debüt, das schon alles enthielt, wofür er bis heute geliebt, aber auch kritisiert wird. Es hat nur keine Substanz, keinen Subtext. Bis auf das Ende. Da weist Tarantino auf etwas hin, auf ein Interesse an Menschen, einen Willen zum großen Gefühl, zum Pathos, und ja, auch Substanz. Muss nicht immer Gewalt und schwarzer Humor sein. Auch wenn er bis heute das Image einfach nicht loswird. Auf jeden Fall ist beeindruckend, wie er die Verzweiflung und den auch inneren Schmerz des von seinem vermeintlichen neuen Freund verratenen Mr. White inszeniert: Die Gewalt findet außerhalb des Bildes statt – diesmal nicht wie in der Folterszene um sie noch grausamer zu machen – und wie dann Mr. White aus dem Bild kippt, das Bild unscharf wird… viel Lärm um nichts, vielleicht ist das die Substanz – die Leere. Die Unschärfe.

Foto: © Universum Film