In einer nicht so fernen, sehr gegenwärtigen Zukunft ist die einst farbige Welt schwarzweiß geworden. Die Kontraste ihrer mal grauen, mal erdigen Töne sind jetzt zwar härter und deutlicher sichtbar, aber was zwischen ihnen liegt verliert an Kontur. In Semih Kaplanoğlus neuem, kunstvoll gestaltetem Film „Grain – Weizen“ ist der verbleibende Lebensraum in verschiedene Zonen unterschiedlicher Güte und Existenzmöglichkeiten eingeteilt. Zwischen dem Chaos der Städte, der sogenannten „unbehüteten Natur“ und den „Dead Lands“ der verbotenen Zone erstreckt sich eine unfruchtbar gewordene Ödnis, die nur noch wenige Abstufungen kennt und aus der fast alles Leben verschwunden ist. Zwischen dem Sein einer verkümmerten Natur und dem Nichts einer zerstörten Natur sind Grenzen errichtet worden, die durch tödliche Magnetfelder „gesichert“ werden. Wer sie betritt, verbrennt und stirbt einen qualvollen Flammentod.
In Kaplanoğlus parabolischer Endzeitvision sind die dystopischen Motive sehr realistisch gezeichnet: In umzäunten Flüchtlingslagern harren die Menschen aus in der Hoffnung auf ein besseres Leben, über das ein selektierender Gen-Test entscheidet; Ufos überwachen das „tote Land“, in der die verlöschende Vergangenheit des früheren Lebens eingesperrt ist; in den Straßen einer futuristischen Stadtlandschaft toben wüste Straßenkämpfe; und in den Laboren mit ihren riesigen Gewächshäusern forscht man fieberhaft an genetisch veränderten Pflanzen nach Saatgut, das vom zerstörten Lebenskreislauf nicht abgestoßen wird. Da die Nahrungsmittelversorgung mittlerweile ernsthaft bedroht ist, sucht der Wissenschaftler Erol Erin (Jean-Marc Barr), der für die Firma „Novus Vita“ arbeitet, nach einer Lösung des Problems und begibt sich dafür auf Abwege, indem er der Spur des abgetauchten Genetikers Cemil Akman (Ermin Bravo) folgt.
Der Entdecker des sogenannten „M-Partikels“ wird in der verbotenen Zone vermutet. Zusammen mit seinem Kollegen Andrei (Grigoriy Dobrygin) und mit Hilfe des weiblichen Scouts Alice (Cristina Fluter) gelingt es Erin, die Magnetschranke zu überwinden und der Spur des wissenschaftlichen Aussteigers in den „Dead Lands“ zu folgen. Mit Anklängen und Reminiszenzen an Andrei Tarkowskis Filme „Stalker“ (UdSSR 1979) und „Nostalghia“ (UdSSR/IT 1983) beginnt für den kritischen Wissenschaftler Erin eine Art innere Reise, die ihn in der Begegnung mit dem charismatischen Konvertiten Akman zunehmend stärker mit sich selbst konfrontiert und schließlich verändert. Unter dem Boden einer alten Klosterkirche kultiviert Akman nämlich fruchtbare Erde, die es zu „retten“ und auszubringen gilt. So wird Erin, der zwischen empirischem Wissen und spiritueller Sehnsucht gespalten ist, zu Akmans Schüler und Gefolgsmann.
In seiner Erforschung des „menschlichen Parikels“, das die Einheit des Ganzen in sich einschließt, beschreibt Akman nämlich das Dasein als einen ungeteilten Körper, den es vom Ego zu befreien gilt. Erin durchläuft dabei verschiedene Stadien der inneren Umkehr, der Versuchung und der Heilung, in denen Motive an Semih Kaplanoğlus früheren Film „Yumurta – Ei“ (TR 2007) anklingen, beispielsweise in der Szene mit dem Wolf, der nachts Erins Zelt umkreist und ihn gewissermaßen an den Ort „fesselt“. Darüber hinaus zitiert der türkische Regisseur in seinem bildgewaltigen, von apokalyptischen Szenerien, eindrucksvollen Schauplätzen und überraschenden, zunächst rätselhaft anmutenden Wendungen bestimmten Endzeitfilm immer wieder religiöse Motive, die sich nahtlos in die existentielle Thematik einfügen. Die ebenso naturverbundene wie spirituelle Opposition des „Bekehrten“ wird schließlich zum Korrektiv der rationalen technischen Welt. Im Wiederfinden des verloren Geglaubten erscheint schließlich die Hoffnung auf Rettung.