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A real life – Au voleur

(F 2009, Regie: Sarah Leonor)

Ins Blaue
von Ulrich Kriest

Zu Beginn, recht aufdringlich, aber nicht ohne Charme: Rilkes „Der Panther“, vorgetragen und interpretiert in einer französischen Schulklasse. Kurz darauf: Der aus der Haft entlassene Strafgefangene erzählt seinem Freund etwas …

Zu Beginn, recht aufdringlich, aber nicht ohne Charme: Rilkes „Der Panther“, vorgetragen und interpretiert in einer französischen Schulklasse. Kurz darauf: Der aus der Haft entlassene Strafgefangene erzählt seinem Freund etwas später, wie wichtig es nach einer längeren Isolationshaft war, dass andere Menschen einem versicherten, noch am Leben zu sein. Wenig später, in der Schule, geht es darum, dass Literatur vor Augen führt, dass ein anderes Leben möglich ist. Ein anderes, kein notwendig besseres.

Vielleicht trägt die französische Filmemacherin Sarah Leonor in ihrem Spielfilmdebüt „Au voleur“ etwas zu nachdrücklich zu unmissverständlich auf, worum es ihr zu tun ist, aber dafür ist sie selbst auch konsequent. Was als Milieustudie beginnt, entwickelt sich nach einer zufälligen Begegnung zu einer eher flüchtigen Liebesgeschichte: der Dieb Bruno hatte der nach einem Unfall bewusstlosen Aushilfslehrerin Isabelle zwar geholfen, aber die Gelegenheit auch genutzt, um sie zu bestehlen. Als man sich später in einer Kneipe erneut begegnet, kommen die beiden eher mühsam ins Gespräch und gehen dann gemeinsam in ihre Wohnung. Erst später, als die Polizei Bruno auf den Fersen ist, beginnt die »Liebe auf der Flucht« – und wie die Flüchtigen biegt auch der Film einfach von der Hauptstraße auf einen Feldweg ab. Doch während der Fluchtwagen bald im Morast stecken bleibt, geht die Reise von Bruno und Isabelle weiter, erst zu Fuß, später dann zu Wasser. Plötzlich befindet sich das Paar in einer urwaldartigen Flusslandschaft; die Milieustudie wird zur Robinsonade mit unerhörten Begegnungen und einem umwerfenden Gefühl von Freiheit, untermalt von geschmackssicher ausgewählter Folk-Musik. Doch das Abstreifen der zivilisatorischen Zwänge, daran lässt Leonor keinen Zweifel, ist nicht von Dauer. Der rousseauschen Idylle ist in sentimentalischen Zeiten keine Zukunft beschieden: wenn das Boot nach langer Zeit wieder in die Stadt hineintreibt, ist die kurze Liebesgeschichte zwischen Isabelle und Bruno beendet. Aber immerhin hat das Paar zuvor noch ein ausgesprochen schönes Abenteuer erlebt.

Der Mut und die Konsequenz der Filmemacherin, ihre Genre-Geschichte unvermittelt ins Poetische umzuleiten oder sich der Magie des Poetischen anzuvertrauen, zeugt von einem Talent, das künstlerische Risiken souverän meistert, indem es sich auf die Intensität der Atmosphäre der Flusslandschaft und das packende Spiel ihrer Hauptdarsteller verlässt. Am Ende hat der Zuschauer fast vergessen, dass er es lange Zeit erwartete, es hier mit einem ganz anderen Film zu tun zu bekommen. Gesprochen werden muss noch vom männlichen Hauptdarsteller! Bruno wird gespielt von Guillaume Depardieu, der im Oktober 2008 im Alter von 37 Jahren nach einer langen Krankengeschichte gestorben ist. Wenn Bruno in „Au voleur“ »beschädigt« seine Kreise zieht, dann verleiht Depardieu, der hier wie der provokative Gegenentwurf zum barocken Vater erscheint, dieser Figur schon rein körperlich eine berückende Intensität. „Au voleur“ ist einer der letzten Filme Depardieus gewesen und man kann sich nicht sicher sein, ob der Film ästhetisch Kapital aus den körperlichen Handicaps des Schauspielers zu schlagen wusste oder ob der Schauspieler mit Hilfe des Zufalls die Gelegenheit zu einem »großen Abgang« bekam – und diese Chance nutzte. Der passende Song dazu ist jedenfalls zu hören: „Poor Wayfaring Stranger“. Da hat es den Anschein, der Film sei im Mississippi-Delta gelandet. Toll!

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Yellow Cake – Die Lüge von der sauberen Energie

(D 2010, Regie: Joachim Tschirner)

Uranerz? Nein Danke!
von Andreas Thomas

„Yellow Cake“ ist ein Film über die Geschichte und Gegenwart des Uranerzbergbaus, der hoffentlich keine absehbare Halbwertszeit besitzt und so unter die Haut zu gehen vermag, um es defätistisch zu …

„Yellow Cake“ ist ein Film über die Geschichte und Gegenwart des Uranerzbergbaus, der hoffentlich keine absehbare Halbwertszeit besitzt und so unter die Haut zu gehen vermag, um es defätistisch zu sagen, wie sein Sujet, der namensgebende gelbe Kuchen, das reine Uran, denn, wie es Regisseur Joachim Tschirner seinen im Film viel beschäftigten Erzähler Hans-Eckardt Wenzel sinngemäß schon selbst sagen lässt: Filme über die verheerenden Folgen des Uranerzbergbaus werden deshalb kaum gedreht, weil sie vom unsichtbaren Skandal handeln. „Yellow Cake“ nun versucht möglichst viel von diesem Unsichtbaren sichtbar zu machen, und darin besteht seine Leistung, der Unspektakularität seines Gegenstandes zum Trotz.

Schon in früheren Filmen hatte sich der ehemalige DEFA-Regisseur mit einem der gern unterschlagenen Topoi der DDR beschäftigt, dem Großuranprojekt WISMUT. Auch „Yellow Cake“ zeigt die Geschichte des gigantischen thüringisch-sächsischen Uranerzbergbaus, der bis zum Jahr 1990 220.000 Tonnen Uran für die Sowjetunion förderte, rein rechnerisch reichte das aus für den Bau von 32.000 Hiroshimabomben. Für jede einzelne Tonne musste das 10.000fache an Gestein aus der Erde geholt, verarbeitet und irgendwo gelagert werden. Die „Entsorgung“ dieser radioaktiv verseuchten Halden zurück in den Erdboden – ein derzeit angelaufenes Langzeitprojekt ist damit beschäftigt – kostet allein zurzeit 600 Millionen an deutschen Steuergeldern.

Weil hier Zahlen offenbar besser erschlagen als Bilder, wimmelt es im Film davon, bedeutsam vom Erzähler geraunt, sodass es günstig ist, ein Presseheft zu haben, um sich bei ihren Aufzählungen nicht zu vertun. Unter den neueren umweltkritischen und menschenfreundlichen Dokumentarfilmen (z.B. „Unser täglich Brot“, „Working Man’s Death“) ist „Yellow Cake“ einer der wortreichsten. Sicherlich kann man schlecht DDR-Fernsehaufnahmen von glücklichen und dabei unsichtbar verseuchten Helden der Arbeit in der DDR der achtziger Jahre unkommentiert stehen lassen, aber wenn Tschirner dann später zur Belegung der These der Langzeitgefährdung einen(!) ehemaligen Kumpel zum Arzt begleitet, der ihm auf dem Röntgenbild seinen schon entfernten Lungenkrebs zeigt, und nebenbei geäußert wird, dass wohl vom Rest der Kollegen nicht mehr viele am Leben sind, dann erscheint die Beweisführung der Anklage ausgerechnet an diesem zentralen Punkt doch wieder etwas lax.

Ein offenbar ähnliches Problem der Unzeigbarkeit im Namibia der Gegenwart: der boomende Wirtschaftszweig Uranindustrie führt Menschen in Arbeit und zu Brot und Anerkennung, denen sonst nicht viele Möglichkeiten geblieben wären. Selbstbewusste, gesund wirkende hübsche Namibierinnen manövrieren nahezu haushohe Kipplader mit Urangestein durch die Halden. Auf die Frage, ob sie denn weiß, wie gefährlich es ist, sich permanent einer derartigen Strahlenbelastung auszusetzen, antwortet eine Frau, dass sie sich damit nicht sehr viel auseinandergesetzt hat. Anscheinend ist sie auch ganz dankbar dafür, dass die Firmenleitung gezielt die Gefahren für die Gesundheit der Arbeiter verharmlost, denn was sollte sie mit einem kritischen Bewusstsein aber ohne diesen Job tun? Eine Lehre dieses Films: Erfolgreiche Uranerzgewinnung benötigt außer dem richtigen Standort mindestens zwei Voraussetzungen: erstens Armut und Arbeitslosigkeit in der ansässigen Bevölkerung, und zweitens eine gezielte Desinformation der Arbeiter. Eine Eingangsthese im Film, wonach eine solche Firmenpolitik der Verschleierung nur in totalitären Systemen möglich sei, die Transparenz in einer Demokratie, wie im Fall WISMUT nach der deutschen Wiedervereinigung, ein sofortiges Ende dieser verantwortungslosen Bewirtschaftung erzwingen würde, widerlegt der Film sehr bald, wenn er zeigt, dass auch in Australien oder schon seit den fünfziger Jahren in Kanada das Geschäft mit dem Uran blüht, ohne bis heute größeren Widerspruch erfahren zu haben. Uranium City heißt gar die schöne Stadt in Kanada, die, wie einst die Goldgräberstädte um die Goldminen, an den Uran-Minen entstand, als die saubere Energie der Zukunft und die Energie der Abschreckung den gleichen verheißungsvollen Namen trugen.

Um zu bemerken, dass Demokratie, Lüge, rücksichtslose Gefährdung von Menschengesundheit und eine zeitlich unabsehbare Verseuchung der Welt durchaus zusammen gehen können, solange es den Interessen der Atomkonzerne dient, dazu brauchen wir nur die täglichen Nachrichten zu sehen. Die Fortsetzung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, das hilflose Hin- und Herschieben von Atommüll sind zwei im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommene Ausprägungen einer verantwortungslosen Energiewirtschaft und der mit ihr kungelnden Regierungspolitik. Dass auch der Uranerzbergbau ein Faktor der unseligen Kette namens Kernenergie ist, dass auch er weltweite Proteste verdient, dafür will der Film „Yellow Cake“ ein Bewusstsein schaffen. Wünschen wir ihm trotz seiner etwas bedächtigen und altmodischen Wortlastigkeit eine hohe Halbwertzeit.

Drei

(D 2010, Regie: Tom Tykwer)

Unterwegs nach Utopia
von Wolfgang Nierlin

Es gibt eine Opposition in Tom Tykwers neuem Film „Drei“, in der sich die fatalistische Linearität gedachter Lebenswege mit ihren überschaubaren Wechselfällen und das weltanschauliche Modell konzentrischen Wachsens im Sinne …

Es gibt eine Opposition in Tom Tykwers neuem Film „Drei“, in der sich die fatalistische Linearität gedachter Lebenswege mit ihren überschaubaren Wechselfällen und das weltanschauliche Modell konzentrischen Wachsens im Sinne stetiger Verwandlung und Erneuerung gegenüberstehen. Übersetzt in die filmsprachliche Stilistik seines Films, treffen Parallelmontage und Multiperspektivität (etwa mittels split screen) aufeinander: Das Erzählen zufällig erscheinender Verknüpfungen überschneidet sich mit den Möglichkeitsformen der handelnden Figuren, die sich aus ihren jeweiligen Standpunkten ergeben. Daraus resultiert eine untergründige, sehr kalkulierte Spannung, die letztlich ungreifbar bleibt.

Zu dieser sehr kunstvollen Konstruktion gehört auch, dass „Drei“ als Ideenfilm funktioniert und insofern ein ganzes Arsenal von Zitaten aus Literatur, bildender Kunst, Theater, Film und Musik beinhaltet. Werke von Jeff Koons, David Bowie, Robert Wilson, Erich Fromm, Hermann Hesse, Ingeborg Bachmann, Herman Melville, Sasha Waltz und Vittorio De Sica vernetzen sich zeichenhaft zu einer Oberflächenstruktur; aber auch Orte in Berlin, die das Porträt einer Generation von Mitvierzigern in kreativen Berufen auf natürliche Weise rahmen, gliedern sich ein. Tom Tykwers filmische Organisation des Materials, zu dem auch Räume und Figuren gehören, folgt neben weltanschaulichen vor allem ästhetischen Gesichtspunkten. Damit knüpft der Regisseur nahtlos an seine früheren Filme an.

Die facettenreichste und deshalb faszinierend geheimnisvolle Figur seines aktuellen Films „Drei“ ist Adam Born (Devid Striesow), ein Stammzellenforscher mit vielen Hobbys und flirrender sexueller Identität. Sein Name ist quasi Programm einer radikalen Erneuerung; und sein Ausdruck von Stärke und souveräner Unabhängigkeit wirkt integrierend, vor allem aber katalysierend – was entfernt an den fremden Gast in Pasolinis „Teorema“ erinnert. Denn als sich die Kulturjournalistin (Sophie Rois) und der „Kunstbauer“ Simon (Sebastian Schipper), die seit zwanzig Jahren ein Paar sind, unabhängig voneinander in ihn verlieben, löst sich eine Starre, entsteht etwas Neues. Die sexuelle Grenzüberschreitung, im Film als „Abschied vom deterministischen Biologieverständnis“ apostrophiert, verdichtet Tykwer auch visuell zu einer Utopie, die den eingangs formulierten Fatalismus dann doch noch abmildert.

Link zum Interview mit Regisseur Tom Tykwer
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Wenn die Flut kommt

(F / B 2004, Regie: Yolande Moreau, Gilles Porte)

Femme banale
von Andreas Thomas

Privat macht sich die etwa fünfzigjährige Irène (Yolande Moreau) Pippi Langstrumpf-Zöpfe, auf der Bühne ist sie eher eine Art französische Marlene Jaschke, ein schräges Weibsbild, übrig geblieben aus den Fünfzigern, …

Privat macht sich die etwa fünfzigjährige Irène (Yolande Moreau) Pippi Langstrumpf-Zöpfe, auf der Bühne ist sie eher eine Art französische Marlene Jaschke, ein schräges Weibsbild, übrig geblieben aus den Fünfzigern, mit Lauchstange und Mordwaffe in der Handtasche. Eine komische femme fatale im Streifenkleid, eine Figur zwischen Kleinkunst und Comedy. Die real existierenden Bühnenauftritte der in Frankreich renommierten Moreau sind der Angelpunkt einer Liebesgeschichte der fiktiven Komödiantin Irène in „Wenn die Flut kommt“. Der Film also kreist um drei Identitäten einer Person: Die echte Moreau spielt eine Komödiantin, die wiederum die Ein-Frau-Stücke der echten Moreau spielt. Man mag gar nicht die darin enthaltene Schizophrenie zu Ende denken, deshalb empfiehlt es sich, zunächst die Geschichte unbehelligt von derartigem Kopfzerbrechen zu betrachten:

Irène tingelt durch Frankreich, dabei begegnet ihr der Belgier Dries (Wim Willaert), der ihr einmal und dann immer öfter und immer lieber bei ihren Auftritten als improvisierter, aus dem Publikum rekrutierter männlicher Gegenpart dient. Die beiden lernen sich kennen, mögen und verlieben sich, aber irgendwo in der Ferne hat Irène noch eine sich nur durch das Handy manifestierende Familie, die die Schauspielerin von etwaigen amourösen Eskapaden abhält.

Das Ganze ist ordentlich gefilmt, man bekommt schöne Bilder von der wolkenverhangenen nordfranzösischen Landschaft und ihren Menschen und die schauspielerischen Leistungen der beiden Protagonisten sind nicht übel, erfreulicherweise ist auch Olivier Gourmet, berühmt durch einige Dardenne-Filme, in einer Nebenrolle zu bewundern. Nur eines habe ich nicht begriffen, nämlich, was mir dieser Film eigentlich sagen will.

Ist es spannend, wenn sich eine verheiratete Kleinkünstlerin neu verliebt? Per se noch nicht. Besonders nicht, weil man nichts über ihre normalen Lebensumstände weiß. Es ist aber noch weniger spannend, wenn sie davor zurückschreckt, z.B. verliebte Verrücktheiten zu begehen, die etwa ihr Leben in eine Tragödie verwandeln könnten.

Wenig spannend ist es auch, der Clownin Moreau bei der Inszenierung eines / ihres privaten Ichs zu beobachten. Vielleicht ist ihr das too near to the bone. Irgendwie maskenhaft wirkt oft ihr Lächeln und distanziert ihre Ausdrucksweise. Vielleicht fehlt ihr immer dann, wenn der Film nur Film sein will, ihre Bühne, denn sobald sie wieder in ihre Theaterrolle geschlüpft ist, fällt jedwede Verkrampfung von ihr ab und sie scheint – verborgen hinter einer richtigen Maske – wieder ganz bei sich sein zu können.

„Wenn die Flut kommt“ ist ein merkwürdig unzeitgemäßer Film und in seinem Sujet, in der Feier des Lebens der Kleinkunst- und Straßenkünstler-Existenzen ist er nostalgisch. Er erinnert wehmütig an die Zeit der achtziger Jahre, als die Friedensbewegung, die Träumer und die Clowns noch kleine Nischen in unserer rauen Welt fanden. Die symphatischen, ein klein wenig verrückten aber freundlichen Unangepassten, hier begegnen sie sich noch ein letztes Mal und – vielleicht wars das, was mir der Film mitteilen wollte – sind doch schon viel zu alt und zu bürgerlich geworden für die Flut der großen Gefühle. Aber Hand aufs Herz: Waren sie das nicht schon immer irgendwie?

Die Unwertigen

(D 2009, Regie: Renate Günther-Greene )

Skandalons
von Andreas Thomas

„So waren wir … zuerst im Namen Adolf Hitlers zugrunde und tagtäglich zu Tode erzogen worden und dann nach dem Krieg im Namen von Jesus Christus, und der Nationalsozialismus hatte …

„So waren wir … zuerst im Namen Adolf Hitlers zugrunde und tagtäglich zu Tode erzogen worden und dann nach dem Krieg im Namen von Jesus Christus, und der Nationalsozialismus hatte die gleiche verheerende Wirkung auf alle diese jungen Menschen gehabt wie jetzt der Katholizismus“ – Thomas Bernhard

Die Drastik, in welcher Thomas Bernhard in seinem Buch „Die Ursache“ seine schrecklichen Kindheits- und Jugenderfahrungen in einem Salzburger Internat schilderte, fehlt dem Dokumentarfilm „Die Unwertigen“ zwar, dennoch belegen auch die Selbstzeugnisse seiner vier Protagonisten eine gewisse „pädagogische“ Kontinuität – vor und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus, in deutschen Kinderheimen und in einem Jugendkonzentrationslager:

Richard Sucker verbringt ab dem 5. Lebensjahr, nachdem er als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen wurde, seine Kindheit mit Prügel und Zwangsarbeit in einem Waisenhaus in Breslau, und nach dem Krieg schließt sich für ihn die gleiche Praxis in deutschen Kinderheimen an. Elfriede Schreyer überlebt die Zeit der „wilden Euthanasie“ im hessischen Kalmenhof, einer Durchgangsstation für die Tötungsanstalt Hadamar, wo über 600 als „schwachsinnig“ eingestufte Kinder ihr Leben lassen mussten. Sie bleibt aber auch nach Ende des Krieges unhinterfragt bis 1970 im Heim eingesperrt. Waltraud Richards Mutter wird ins KZ verbracht, sie und ihre Geschwister werden in Heime gesteckt, obwohl ihre Tante sie adoptieren will. Günter Discher kommt auf Grund seiner Leidenschaft für die Swing-Musik als „entartet“ unter Hunger und Zwangsarbeit ins Jugend-KZ Moringen, dessen Existenz bis in die Sechziger Jahre hinein noch verleugnet wurde.

Die Eckdaten der hier behandelten vier Fallbeispiele zeigen, dass es der Regisseurin Renate Günther-Greene zunächst nicht um eine allgemeine Aufarbeitung des Themas geht, vielleicht auch nicht gehen kann, weil, wie es der Film immer wieder zeigt, die Vergangenheit der Praxis deutscher Kinderheime bis in die Gegenwart hinein gedeckelt und verschwiegen wurde, eine umfassende Dokumentation also skandalöserweise noch immer schwierig sein muss. Ihr Film konzentriert sich auf die individuellen Erinnerungen der vier inzwischen betagten ehemals „Unwertigen“, deren Erzählungen manchmal eindringlich sind, manchmal leider nur noch rudimentäre Eindrücke beinhalten. Aber es gibt auch kommentierte und informative Passagen, die den persönlichen Berichten nicht immer einen passenden Rahmen geben. So entstehen ungleiche Gewichtungen, ein unheitliches und unklares Gesamtbild, nicht zuletzt, weil Günther-Greene sich offenbar nicht entschließen kann, ob sie sich ganz auf ihre (sich mehrfach im Turnus abwechselnde) Zeugen verlassen soll oder ihnen durch Off-Kommentar eine informelle Struktur vorgeben, und zum anderen, weil ihre doch unterschiedlichen Geschichten jede für sich vielleicht schon tragend genug gewesen wäre, wäre es gelungen, zum grauenhaften Kern einer einzigen zu gelangen, eine einzige dieser Geschichten angemessen plastisch zu machen. Wo aber die persönliche Erinnerung Lücken aufwiese, hätte die Recherche einsetzen müssen. Je länger der Film dauert, desto mehr Fragen lässt er unbeantwortet, je mehr den vier alten Leuten ihr fragloses Leid anzusehen ist, desto mehr wünscht man sich genauer zu wissen, was ihnen geschehen ist. Allein die präzise Schilderung eines einzigen Tagesablaufs hätte vielleicht genügt.

Es bleibt, je nach Eloquenz der befragten Person, bei wenig bis mittelprägnanten Erinnerungs-Bildern; eine nachhaltig insistierende Befragung, wie sie von Claude Lanzmann in seinen Filmen beispielhaft praktiziert wird, fehlt. Oft hat man den Eindruck, die Regisseurin setze voraus, der Zuschauer wisse schon selbst, wie es gewesen sei. Unglücklich ist auch das thematische Nebeneinander und die daher implizite Gleichsetzung von Kinderheimen, Euthanasie-Praktiken und einem Jugend-KZ. Hier wird vieles in einen Topf geworfen, verrührt und verwässert, was je für sich seinen ganz eigenen bitteren Geschmack gehabt hätte. Auch das von Beginn an im Film apostrophierte Skandalon der nach dem Krieg unverändert fortgesetzten Misshandlung von Heimkindern, was schon einen eigenen Film verdient hätte, wird dann nur flüchtig und am Rande thematisiert.

Bliebe zu sagen, dass natürlich jeder Film, der wie „Die Unwertigen“ sich mit viel zu lange totgeschwiegenen Fakten der Nazi-Zeit befasst, ein wichtiger Film ist, und wenn auch hier nicht alles rund ist, hat natürlich jede persönliche Schilderung von Opfern dieser Zeit einen hohen Stellenwert, und die schaurigen Beschreibungen, wie 'unwerte Jugendliche' mit Medikamenten und Giftspritzen umgebracht wurden, wie auf die Fenster der Strafanstalt Fuhlsbüttel geschossen wurde, sobald jemand wagte heraus zu sehen, wie zynisch nach 1945 die Kirche sein konnte, indem sie einem Mädchen, dem im Krieg beide Eltern genommen wurden, den Konfirmationsspruch gibt: 'Deine Eltern haben dich verlassen, nur Jesus Christus wird dich nie verlassen', brennnen sich ins Gedächtnis ein. Auch deshalb ist „Die Unwertigen“ ein sehenswerter Film – von dem man sich mehr erhoffen konnte.

John Rambo

(USA 2008, Regie: Sylvester Stallone)

Heroismus-Resterampe
von Sven Jachmann

Der Hype um den nunmehr vierten Rambo-Film ist ziemlich schnell der Ernüchterung gewichen: Die amerikanische Filmkritik zeigt sich verhalten, das Einspielergebnis des ersten Wochenendes blieb mit rund 19 Millionen Dollar …

Der Hype um den nunmehr vierten Rambo-Film ist ziemlich schnell der Ernüchterung gewichen: Die amerikanische Filmkritik zeigt sich verhalten, das Einspielergebnis des ersten Wochenendes blieb mit rund 19 Millionen Dollar deutlich unter den Erwartungen und seine Reputation, die sich Stallone mit dem Achtungserfolg „Rocky Balboa' (für den er zuvor bereits, wie auch im vorliegenden Fall, als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller in Personalunion fungierte) erspielte, scheint wieder im Abklang begriffen. Rambo, das war der prototypische Actioner der 1980er Jahre, eine wortkarge Kampfmaschine, zunächst ein getriebener Vietnamveteran, der sich im weiteren Verlauf der Serie zum waschechten reagonomic mit Panzerkörper mauserte und als Ein-Mann-Armee im vietnamesischen Dschungel wie in der afghanischen Wüste dem Kommunismus trotzte. So lautet zumindest die gängige, ideologiekritische Lesart, deren fortwährende Reproduktion die Figur eher in das ironisch geerdete Abteil des Olymps der Popikonen hievte. Welchen Stellvertreter-Krieg will diese Figur heute, immerhin gut 20 Jahre seit der letzten Fortsetzung und einem Kalten Krieg, der ohne Helden versiegte, noch führen?

'Taking a life is never right', spricht ein christlicher Missionar verächtlich zu Rambo, nachdem dieser die Gruppe mit tödlicher Präzision vor der Exekution einer burmesischen Piratenbande bewahrte. Ziel der Bootstour: ein kleines Dorf inmitten der Wirrungen des burmanisch-karenischen Bürgerkrieges, dessen Bewohnern die Friedensfreunde, ausgestattet mit Medikamenten und Bibeln, aber keinen Waffen, pazifistischen Beistand leisten möchten. Natürlich wird das Dorf dem Erdboden gleichgemacht, und natürlich obliegt es dem widerwilligen Rambo, zusammen mit einem Söldnertrupp, der ausgerechnet vom ansässigen Priester angeheuert wurde, die Rettung der entführten Überlebenden anzutreten. Die Frage kann nur noch lauten, wie und warum er es tut.

Nicht nur in der Überbietungslogik der zur Schau gestellten Gewalt ist „John Rambo' seinen Vorgängern turmhoch überlegen, mit ihrem fast schon hyperreal anmutenden Modus dichtet er ihr zudem eine völlig neuartige Funktion zu, die sich erst so richtig anhand der abstoßenden Drastik und ihrer gleichzeitigen Verzahnung mit dem augenscheinlichen B-Movie-Charakter des Plots erweist. Kein Element wird ausgelassen, das die Phalanx an Action-Motiven zur Dämonisierung der Gegenspieler nicht bereits reaktionär erprobt hätte: Der Feind ist gesichtslos, massenhaft und völlig sadistisch; plündernd, folternd, vergewaltigend und pädophil veranlangt schreckt er nicht mal vor grausamster Kindestötung zurück (nach wie vor ein Novum in Hollywood); und der pazifistische Missionar weiß sich im Finale nur noch im vollendeten Regress zu helfen: Mit einem Stein zertrümmert er rauschhaft im den Kopf seines Antagonisten – und dies alles geschieht auch noch auf dem Rücken eines real existierenden Konflikts.

Kein Zweifel, dieser Krieg taugt nicht mehr als augenzwinkernder Comic-Relief, als welche die Vorgänger das kollektive Gedächtnis bewohnen. Dabei wird gerne die Entwicklung der Figur Rambo übersehen: vom unerwünschten Kriegsheimkehrer, der fast schon einem Anachronismus gleich lebende Wunde und Vertreter jener zweiten Veteranengeneration zwar, die eher mit Drogenkonsum denn würdevollem Heroismus besetzt war, über den rasenden Amokläufer, der in dem schmerzvollen Verlust der einzigen Liebe und im gleichzeitigen Kampf gegen die eigene, korrupte Regierung jede Präzision und Taktik vergessen hat, bis zum in sich ruhenden Pol, der seine innere krieg- also menschgemachte Natur kontrolliert in einer gewaltdurchdrungenen Welt entlädt und dadurch geradewegs seine eigene Moral konstruiert, war es ein steiniger Weg. Seine vermeintlich patriotische Richtung fand immer wieder an der widersprüchlichen und inkonsistenten Haltung Rambos selbst ihre Grenzen.

Was wir in „John Rambo' präsentiert bekommen, ist letztlich nur noch pures Destillat der Vorläufer, und das suggeriert bereits der Titel, der den Film nicht als weitere Fortsetzung beziffert, sondern der Figur eine nun vollkommene Identität zuschreibt. 'You think you killed for your country. You killed for yourself', lautet Rambos Legitimation des erneuten Griffs zur Waffe. Die Demarkationslinie droht ständig überschritten zu werden: Nicht nur räumlich lebt er in der unmittelbaren Nähe des Krieges. Für seine Initiation braucht es keine Vaterfigur mehr, wie dereinst Colonel Trautman, sondern lediglich ein vollwertig akzeptiertes Ich. Das führt die Konturierung der Figur hinab in die Wirrungen des Nihilismus, und an dieser Stelle kommt die Gewalt ins Spiel. Das Klischee der Figur will nicht mit der Grausamkeit der Bösewichte harmonieren. Zu sorgfältig ist die Gewalt inszeniert, zu verstörend ihr Effekt, als dass sie als pures exploitatives Element bestehen könnte. So wird sie unter der Hand zum eigentlichen Thema des Films. Sie skizziert die Bösewichte nicht nur abstoßend genrekonform als völlig degenerierten Abschaum, denen jedes Leid der Welt zu wünschen ist, sondern schlägt zugleich einen Bogen zu den Vorgängern, die diese Versatzstücke erst zaghaft etablierten. Vom Heroismus bleibt nur noch das hilflose Zitat: kein von der Marter gezeichneter und schon deswegen umso erstarkter nackter Oberkörper, nur noch eine kurze Positionierung der Figur als rettende Instanz im rechten Moment unterlegt vom klassischen Musik-Thema. Die Kämpfe finden auf Distanz statt, im Schlussteil agiert Rambo fast schon im Hintergrund, und das finale Aufeinandertreffen ist keines: Hinter einem Baum versteckt stößt er das Messer blitzschnell in den Bauch seines fliehenden Kontrahenten. Entsprechend in Szene gesetzt wird dieser Akt erst, als der Kampf bereits entschieden ist. Spannung und Genugtuung fühlen sich anders an.

Die Mythologie des Actioners zerbricht an ihrer Revitalisierung, ohne irgendeine Transzendenz anzustreben: Mit dem Spaß am Heroismus ist der realen Gewalt nicht beizukommen, aber der Wunsch nach einem heroischen Vollstrecker angesichts des dargebotenen Leids trübt zugleich den Blick für die Konstitution des Leids. Hier jedenfalls ist Rambo die Antithese seiner selbst, kapituliert vor seinen Funktionen und manövriert den Heroismus aufs Abstellgleis der blindwütigen Kulturkritik.

Lornas Schweigen

(B / F / D 2008, Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne)

Dardennes Verstummen
von Andreas Thomas

Interessanterweise fällt es Teilen des Feuilletons schwer, zu akzeptieren, dass nicht jeder Film von Regisseuren, die schon ganze zwei Goldene Palmen in Cannes geerntet haben, herausragend sein muss. Nachzulesen im …

Interessanterweise fällt es Teilen des Feuilletons schwer, zu akzeptieren, dass nicht jeder Film von Regisseuren, die schon ganze zwei Goldene Palmen in Cannes geerntet haben, herausragend sein muss. Nachzulesen im Kritikenspiegel des neuen Dardenne-Brüder-Werks „Lornas Schweigen“. Zuvörderst scheint man sich einig zu sein, dass, wenn die belgischen Brüder Jean Pierre und Luc Dardenne nicht schon die inoffizielle Sieger-Obergrenze des französischen Filmfestivals erreicht hätten, mit ihrem Neuling die dritte Goldene hätten einfahren müssen. Aber „Lornas Schweigen“ beweist, dass auch Meisterregisseure nicht unfehlbar sind.

Sicherlich, schon nach wenigen Sekunden stellt sich die Dardenne-Vertrautheit ein. Auch wenn das grobkörnige 16 mm- durchs hochauflösende 35 mm-Format vertauscht wurde und die Kamera etwas distanzierter, unbeweglicher und unspontaner geworden ist, folgt sie doch konstant der Protagonistin Lorna, einer jungen Albanierin, gespielt von Arta Dobroshi, die viel Ähnlichkeit mit Emilie Dequenne, der „Rosetta“-Darstellerin besitzt. Lorna ist im Begriff, sich und ihrem Freund in Belgien eine Zukunft aufzubauen. Da aber die reicheren Länder Europas es Menschen, die aus ärmeren Ländern stammen, praktisch unmöglich machen, auf ehrliche Weise an ihrem Wohlstand zu partizipieren – und ihn durch ehrliche Arbeit fördern -, ist auch Lorna zu illegalen Mitteln gezwungen, will sie ihrer Misere entkommen. Deshalb hat sie sich auf ein „Geschäft“ eingelassen, das den Tod eines Menschen einkalkuliert. Dieser Mensch, ein armes Würstchen namens Claudy, gespielt vom intensiven, heruntergehungerten Jérémie Renier („L’enfant“), wird von Lornas Geschäftspartner Fabio (Fabrizio Rongione) mit programmatischer Entmenschlichung als „der Junkie“ bezeichnet, was er auch ist, bis ihn irgendetwas, vielleicht die Scheinehe und die daraus entstandene Zweckbeziehung mit Lorna, dazu bringt, sich das Heroin abzugewöhnen.

Dadurch, und weil Lorna hautnah erlebt, wie auch Claudy um sein Leben kämpft, entgleitet er langsam der praktischen Kategorisierung des vor sich hinvegetierenden Süchtigen, der „früher oder später sowieso daran stirbt“, weshalb sein erbärmlicher Zustand durch eine Überdosis gar gnädig beendet würde. Diese Überdosis aber ist fester Bestandteil des Plans, denn von Vornherein wartet schon der reiche Andreï, „der Russe“, auf eine schnelle Heirat mit der Neubelgierin und Witwe Lorna, eine Scheidung von Claudy würde ihm zu lange dauern.

Je mehr Mitgefühl Lorna für Claudy entwickelt, desto bedrohter ist das abzuwickelnde Geschäft, und hier sind wir auch schon bei der vielfach variierten Hauptthese der Dardenne-Filme: Die Logik des freien Marktes, der Gewinnmaximierung, an der der „kleine Mann“ nur mittels illegaler Geschäfte teilhaben kann, ist mit der Logik des Menschen, mit Menschlichkeit nicht vereinbar. Der Zynismus des Systems wird da am stärksten offenbar, wo Menschen, um ein halbwegs würdiges Leben führen zu können, augenscheinlich keine andere Wahl haben, als über Leichen zu gehen. In „La Promesse“ (1996) wurde der Tod eines Afrikaners in Kauf genommen, um den kleinen Familienbetrieb mit illegal beschäftigten Immigranten zu decken. „Rosetta“ (1999) ließ, um an seinen Job zu kommen, beinahe ihren besten Freund ertrinken. Und in „L’enfant“ (2005) veräußerte ein junger Mann fröhlich alles, was er zu Geld machen kann, auch sein neugeborenes Kind.

Das Faszinierende an den bisherigen Dardenne-Filmen war, dass sie trotz ihrer unverkennbaren gesellschaftskritischen Thematik unideologisch und in einem positiven Sinne unpolitisch waren, indem sie mittels einer Erzählung eine These abzubilden und so zu beweisen versuchten, obsessiv der Realität (von Schleusern, Arbeitslosen, Kleinkriminellen) abgeschaute individuelle Schicksale entwarfen von Figuren, deren Motive und Konflikte dem Zuschauer deutlich spürbar und verstehbar werden konnten und das ganz ohne dramatische Überzeichnungen oder Effekte. Nur mittels dieser möglichen (kritischen) Empathie zu den Akteuren und wegen des Realismus der ökonomischen Sachzwänge, denen sie unterworfen waren, und nicht zuletzt durch eine klassische dramatische Zuspitzung erschufen diese Filme funktionierende Parabeln über das Wesen unserer Gegenwart. Wahrhaftig wurden diese Parabeln aber durch ihre detaillierte und sorgfältige Beobachtung individueller Mikrokosmen, sie produzierten ein Bewusstsein für die Zeit, nicht den Beweis für eine These von der Zeit. Wenn die Dardenne-Filme funktionierten, dann gingen sie mit ihrem Abspann erst richtig los: im Kopf und im Bewusstsein der Zuschauer, als Fragen, als Einsichten, als Zorn, als Traurigkeit, gar als ein Wiederentdecken von Zärtlichkeit und Solidarität.

In „Lornas Schweigen“ ist alles genauso und doch anders. Es ist, als hätten die Dardennes versucht, einen Dardenne-Film zu drehen, aber als hätten sie darüber die konkreten Figuren vergessen, von denen ihr Film handelt. Vielleicht liegt es an der distanzierteren Kamera, vielleicht an der nicht immer überzeugenden Hauptdarstellerin, vielleicht ist es die Schwäche des Drehbuchs, das keine konsequente moralische Entwicklung für Lorna vorsieht. Es wird weder deutlich, wieso die doch sensible Lorna sich anfangs so leichtfertig auf den mörderischen Deal mit der Schieberbande eingelassen hat noch warum sie dann plötzlich Mitleid mit Claudy entwickelt. In allen anderen Dardenne-Filmen ist nachvollziehbar, wie und warum Menschen zu unmenschlichen Handlungen veranlasst werden. Gerade in dieser Plausibilität lag das Schockmoment für den sich identifizierenden Zuschauer – und im Bewusstwerden ihres Handelns das kathartische Moment für die Hauptfiguren.

Doch Lorna kann man nur halb verstehen, sie bleibt papieren und indifferent, und weil sie deshalb keinen klaren Sinneswandel vollziehen kann, bleibt auch ihre Geschichte blass. Ihre Geschäftspartner/Widersacher aber sind mit einer Bösartigkeit ausgestattet, die in ihrer Weise ebenso unbeweglich und schematisch ist wie Lornas, gelinde gesagt, wenig glaubhafte „Naivität“. Da gibt es den kaltblütigen Taxifahrer, seinen brutalen Laufburschen und schließlich die stets als „der Russe“ bezeichnete Figur des heiratswilligen Russen, die kein einziges Klischee vom skrupellosen Russen-Mafioso zu hinterfragen bereit wäre.

Die Lesart ist so offensichtlich wie in keinem anderen Dardenne-Film, es gibt am Anfang Gut und Böse und es gibt am Ende Gut und Böse, nichts hat sich verändert, auch die Seiten, wie sonst so oft bei den Dardennes, wurden nicht wirklich gewechselt oder wenigstens relativiert. Jegliche Entwicklung, Veränderung, jegliche Spannung, jegliches Aufbrechen des Konfliktes, alle Elemente, die zu einem klassischen Dramas gehören und bisher immer das Gerüst vorhergehender Dardenne-Filme bildeten, werden in „Lornas Schweigen“ exerziert, behauptet, aber nie ganz spürbar. Der Film scheitert tatsächlich daran, dass er nur als Bebilderung einer These funktioniert, aber er erreicht nicht wirklich das Herz des Zuschauers und eigentlich stellt er auch keine Fragen mehr. Die Dardennes schaffen es zum ersten Mal nicht recht, ihrer Geschichte Leben einzuhauchen, und nach dem Abspann ist diese Geschichte ganz einfach nur vorbei.

Lucy

(D 2004, Regie: Henner Winckler)

Intensive Unschärfe
von Andreas Thomas

Nichts ist manipulativ an diesem Film. Es fehlt die eingespielte Musik und es fehlt die Bedienung eingespielter Sehgewohnheiten. Dabei ist der Geschichte (Geschichte? Kann man diese Szenen einer Orientierungssuche schon …

Nichts ist manipulativ an diesem Film. Es fehlt die eingespielte Musik und es fehlt die Bedienung eingespielter Sehgewohnheiten. Dabei ist der Geschichte (Geschichte? Kann man diese Szenen einer Orientierungssuche schon so nennen?) von der 18jährigen, kürzlich Mutter gewordenen, Maggy, die selbst noch bei der eigenen (auch verhältnismäßig jungen) Mutter lebt und dann mit Baby Lucy zu ihrem neuen Freund Gordon zieht, das Vorurteil doch schon eingeschrieben: Noch so jung und schon Mutter…

Natürlich kann das nichts werden. Staunen macht, dass Maggys Probleme irgendwie doch nicht ganz unseren Erwartungen entsprechen, dass sie zudem auf ihre eigene Weise daran laboriert und wohltuend ist, Henner Wincklers Film dabei zuzusehen, wie er viele genaue, wache Bilder zeichnet, von einem Menschen und seiner sozialen Szenerie (eine ziemlich repräsentative junge Frau in einer durchaus repräsentativen wirtschaftlichen Grauzone, die geprägt ist von Arbeitslosigkeit und Single-Dasein, also auch dem Zerfall familiärer Strukturen), hier: Berlin, die Gegend um den Alexanderplatz, und heute: das erste Jahrzehnt des 3. Jahrtausends.

Mit systematischer Konsequenz vermeidet der Film alles Dramatische. Ein Beispiel: Maggy wartet seit Stunden in der Wohnung auf Gordon. Dann beschließt sie, sich am Kiosk ein Bier zu kaufen. Sie lässt das Baby in der Wohnung allein, klettert über die Fussgängerabsperrung, um schneller über die stark befahrene Straße zu gelangen, holt sich das Bier und – kommt wieder heile zu Hause an. Beispiel Zwei: Maggy hat sich seit ihrem überstürzten Auszug tagelang nicht mehr bei ihrer Mutter gemeldet, doch nun braucht sie dringend einen Babysitter. Ihre Mutter ist sofort verständnisvoll und kümmert sich um das Kind. Eine „Milieustudie“ hätte beide Szenen zur Kulmination der einschlägigen Problematik getrieben, indem sie zuerst Maggy von einem Auto anfahren hätte lassen und später dann ihre Mutter (die wahrscheinlich Alkoholprobleme hätte) entweder zu besoffen oder zu böse sein lassen, um ihre Tochter zu unterstützen.

„Lucy“ geht es nicht um die schnelle Emotion, nicht um die Katastrophe – erkennbar als Folge mieser Verhältnisse -, sondern um einen leisen, andauernden Zustand, der noch unbenannt sich im Alltäglichen und Normalen verbirgt. Selbst Begriffen wie „Alltag“ und „Normalität“ scheint der Film schon zu misstrauen, und das tut ihm gut, weil er versucht einfach nur wahrzunehmen: Gordon, der in der Disco „Matrix“ kellnert und übers Internet Computerteile verkauft, zur Entspannung fährt er Autorennen am Computer, mit Kopfhörern hört er nicht, wie das Kind schreit. Eva, Maggys alleinstehende Mutter, die gerade mit einem Russen eine neue Liebesgeschichte beginnt. Maggy, die zwischen Fläschchen und Joint noch gerne verträumt in ihrem eigenen Kinderzimmer sitzt. Gesichter, abends, im Widerschein: Der Fernseher bleibt unsichtbar, aber man hört ihn die Klassiker des Thrillers (Soundtrack: Bernhard Herrmann) und Horrorfilms (Soundtrack: John Carpenter) spielen. Christine Maiers („Nordrand“, 1999, „Grbavica“, 2006) zurückhaltende Kamera studiert Menschen, die fixiert sind inmitten ihrer Zerstreuungen: Fernseher, Computer, Party, und auf den Straßen Ströme von Autos.

Am Rand und doch im dezidierten Film-Zentrum das sprachlose, manchmal schreiende Baby, das Maggys Bedürfnisse ignoriert und häufig von Maggy ignoriert wird – und doch allgegenwärtig ist und ihr Leben bestimmt. Maggy als zweite Hauptfigur, überfordert in ihren verschiedenenen Rollen und kaum in der Lage, etwas zu geben, wenn sie nicht genug für und von sich selbst hat, jenseits einer Selbstdefinition und -Artikulierung. Wie spielt man coole Freundin, wie kann man noch Tochter bleiben und schon Mutter sein, und wie spielt man kleine, glückliche Familie?

Henner Winckler, der mit „Klassenfahrt“ (2002) ein beachtliches Film-Debüt gab, gehört neben Thomas Arslan („Der schöne Tag', 2001), Benjamin Heisenberg („Schläfer', 2005), Christoph Hochhäusler („Falscher Bekenner', 2006), Valeska Grisebach („Mein Stern', 2001, „Sehnsucht“, 2006), Ulrich Köhler („Bungalow', 2002), Jan Krüger („Unterwegs', 2004), Christian Petzold („Die innere Sicherheit', 2000), Angela Schanelec („Marseille', 2004) zu den Regisseuren der „Berliner Schule“, deren Filme unaufgeregt nach blinden Flecken in unserer soziokulturellen Selbstwahrnehmung suchen, sich mit Rissen, Unsicherheiten, Randexistenzen direkt in der Mitte unserer schönen neuen Welt beschäftigen.

Auch Wincklers „Lucy“ ist ein Film, der nicht versucht, den Zuschauer zu überwältigen (darin ist auch er ein deutlicher Antipode zum Hollywood-Kino). Gerade durch die Vemeidung von Effekt oder Affekt erreicht er seine Genauigkeit und Intensität. Deshalb ist seine Kraft vielleicht nicht augenfällig, aber umso nachhaltiger. Wincklers Film versucht, das Leben genau zu betrachten, besonders an den Stellen, wo es normalerweise unscharf bleibt. Dass sein Film nichts weiter bietet als einen geduldigen Blick, das macht ihn zu einer beileibe nicht selbstverständlichen Erfahrung. „Lucy“ nimmt den Menschen ernst, den als Sujet und den als Zuschauer.

Zur DVD:

Neben einem Interview, in welchem der (sichtbar erkältete) Regisseur Winckler Interessantes über seine zwischen Drehbuch und Improvisation changierende Arbeitsweise mit jungen (Laien-) Darstellern verrät und einem weiteren kurzen Interview mit der Hauptdarstellerin Schnitzer enthält die DVD Trailer weiterer Filme, die der „Berliner Schule' zugeordnet werden. Eine weitere Beigabe ist der schöne Kurzfilm „Baden' von Stefan Kriekhaus, der als Ko-Autor an den beiden Winckler-Filmen „Klassenfahrt' und „Lucy' beteiligt war und der in Ulrich Köhlers „Montag kommen die Fenster' (2006) in einer Nebenrolle auftaucht.

Happy Family

(D 2004, Regie: Heesook Sohn)

Patchwork Global
von Andreas Thomas

“Krieg ist gut für meine Familie“, sagt Heesook Sohn irgendwann fast nebenher in ihrem Dokumentarfilm; eine von vielen unangestrengten Notizen, die die gebürtige Südkoreanerin auf ihrem Trip in ihren „Familienroman“ …

“Krieg ist gut für meine Familie“, sagt Heesook Sohn irgendwann fast nebenher in ihrem Dokumentarfilm; eine von vielen unangestrengten Notizen, die die gebürtige Südkoreanerin auf ihrem Trip in ihren „Familienroman“ macht. Nach Los Angeles, New York, Seoul und Berlin hat es die Familie verschlagen und wie ihre Wohnorte, so zerstoben und fremd sind sich mitunter auch die Familienmitglieder. Sichtbarer Ausgangspunkt für die Rekonstruktion eines Familiengedächtnisses ist ein altes Schwarzweißfoto von der koreanischen Familie kurz vor dem Auseinanderbrechen, das Problem einer Fotoerneuerung nach über dreißig Jahren ist eben das der Familie: Schon lange hat sie eine gemeinsame Geschichte, eine Identität verloren. Was bleibt, sind Fragmente, Einzelschicksale und Einzelgänger mit gemeinsamen Spuren, Fäden, die in die Vergangenheit reichen, zurück zum koreanischen Patriarchat, zu dessen Erfolg und dessen Versagen und dessen kindlichem Trotz.

Am bereitwilligsten stand der Regisseurin ihr Vater vor der Kamera, beim Golfen im Wohnzimmer („das Parkett hat schlimme Akne“ von des Vaters Golf-Übungen), beim Nickerchen direkt nach dem Frühstück, beim Ignorieren der Diät (fetttriefendes Rindfleisch ist sein Leibgericht), bei der Selbstinszenierung (ein riesiges Porträt des Vaters als der große Boss ziert sein Wohnzimmer, jovial lächelnd).

Der ältere Bruder in Korea sieht seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Er schlingt das Essen genauso in sich hinein, und der jüngere, smartere Bruder in den USA golft im Wohnzimmer, hat das väterliche Geschäft, die Organisation der Verlegung von US-Truppenstützpunkten (die Familie ist sichtbar wohlhabend dadurch geworden) übernommen, und er nimmt seine kleine Tochter so lange in den Schwitzkasten, bis sie anfängt zu weinen. „Das ist gemein, Vater hat das auch immer mit mir gemacht“, sagt Heesook. Aber ihr Bruder meint sowieso, dass koreanische Männer Arschlöcher sind! Übrigens sei es clever von ihr, eine Banane geworden zu sein. Außen gelb und innen weiß. Korea, USA, Deutschland, die Geschichte der Familie Sohn ist auch eine Geschichte der Assimilationen, eine Frage nach Kontinenten und Identitäten.

„I’ve got a happy family“, sagt der Vater am Pool. „Meine Söhne sind erfolgreiche Geschäftsmänner geworden, und meine Töchter tüchtige Hausfrauen.' Die unablässig die Böden polierende (der Vater rutschte darauf unweigerlich aus, wenn er damals betrunken nach Hause kam) Mutter in Seoul ist inzwischen an Krebs erkrankt, aber sie muss sich um ihren Ältesten kümmern, der noch immer bei ihr lebt und der sich immer noch Geld vom Vater leihen muss, diesmal für einen repräsentativen Wagen. Er muss schließlich wohlhabend wirken, denn wie soll er sonst als Geschäftsmann ernstgenommen werden? Der Vater ist den Tränen und dem Infarkt nahe. Welche Frau will schon einen wie ihn? Die ältere Schwester, eine fast Unbekannte für Heesok, wirkt bis heute von ihrer Kindheit traumatisiert. Sie schildert, wie groß die Last der von den Eltern auferlegten Pflichten war, dass sie sich damals in Korea jeden Abend in den Schlaf geweint hatte, ob Heesook das nicht gewusst habe? Koreanisches Familienglück hat seine zwei Seiten, so scheint es. Die Glücksformel des Vaters lautet: Glück ist gleich Wohlstand, und der beruht auf Leistung und dem geduldigen Streben nach Harmonie, genauer: männlichem Ehrgeiz, männlicher Selbstherrlichkeit und weiblicher Pflichterfüllung und Entbehrung.

Heesook, das Nesthäkchen, die Filmmacherin, wird von ihrem amerikanischen Bruder gefragt: „Und wann wirst du denn endlich eine Familie gründen – oder wenigstens einen ordentlichen Beruf lernen?“ – „Vielleicht wollen diesen Film ja viele Leute sehen“, antwortet sie. – „Was aber ist, wenn niemand merkt, dass du Talent hast?“, hakt er – sehr diplomatisch und sehr ungläubig – nach.

Das wäre schade, antwortet der Filmkritiker, denn ich hab’ was dazu gelernt. Über Ost und West, deren historische Annäherung und über eine kriegerische – und für manch einen Gewinn bringende – Gegenwart. Mit ihrer Abschlussarbeit bei der Deutschen Film- und Fernsehakademie ist Heesok Sohn ein kurzweiliger, ironischer, amüsanter, intelligenter, vielschichtiger, ein bisschen trauriger und stets aufmerksamer Film gelungen. Ein Patchwork-Film über eine Patchworkfamilie, ein Familien-Bio-Pic, das beweist, dass die pure Wirklichkeit dem Kino Settings und Geschichten bietet, die viel spannender und vielsagender sein können als all deren inszenierter, kalkulierter Abklatsch aus Hollywood. Vorausgesetzt man begibt sich mitten hinein, so wie „Happy Family“ es tut.

Was will ich mehr

(I / CH 2010, Regie: Silvio Soldini)

Außerordentliche Leidenschaft
von Wolfgang Nierlin

Die unauffällige Geborgenheit in den gewohnten Abläufen des Alltags und die besänftigende Ordnung des Geregelten spannt sich wie eine unsichtbare, aber vertraute Hülle um Anna (Alba Rohrwacher) und Alessio (Giuseppe …

Die unauffällige Geborgenheit in den gewohnten Abläufen des Alltags und die besänftigende Ordnung des Geregelten spannt sich wie eine unsichtbare, aber vertraute Hülle um Anna (Alba Rohrwacher) und Alessio (Giuseppe Battiston). Das Mailänder Paar hat sich mit Arbeit, Freunden und mäßigen Vergnügungen funktionstüchtig in einer Normalität eingerichtet, die sich zumindest äußerlich einfügt ins gesellschaftliche Bild des kleinen Glücks. Um zu arbeiten, pendeln die beiden aus der tristen Peripherie ins geschäftige Zentrum; abends treffen sie sich hin und wieder mit Freunden oder sitzen vor dem Fernseher. Während Anna einen Kurs für Aquarellmalerei besucht, macht sich der praktisch veranlagte Alessio als Heimwerker nützlich. Im Leben der beiden gibt es zwischen Anspruch und Wirklichkeit kaum eine Differenz.

Silvio Soldini nimmt sich in seinem neuen Film „Was will ich mehr“ (Cosa voglio di più) viel Zeit, um das sozial-gesellschaftliche Gefüge seiner Protagonisten realistisch zu beschreiben. Zugleich infiltriert er ihren Alltag mit kleinen Störungen und subtilen Ahnungen, die einen fast unmerklichen Druck erzeugen und den Status quo in Frage stellen. So beginnt der liebevoll aufmerksame Alessio offen von einer Familie zu träumen, während die leicht unzufriedene Anna ihr geschäftiges Umfeld immer häufiger mit einer stillen Sehnsucht zu betrachten scheint, die aus einem Grundgefühl der Enge resultiert.

An einem Abend zitiert Alessio aus einer Jim Morrison-Biographie: „Manchmal reicht ein Augenblick, um das ganze Leben zu vergessen; und manchmal reicht ein ganzes Leben nicht aus, um diesen Augenblick zu vergessen.“ Zu diesem Zeitpunkt wartet Anna bereits gespannt auf eine Nachricht von Domenico (Pierfrancesco Favino) und damit auf die Erfüllung eines Begehrens, das sie in einem zufälligen Moment erfasst hat. Doch die ersten heimlichen Treffen mit dem verheirateten Familienvater aus dem Süden unterliegen inneren und äußeren Störungen, die die aufkeimende Leidenschaft dämpfen und in einen Zustand des Zögerns versetzen. So scheint es zunächst, als gebe es keinen Ort und keine Zeit für die verbotene Liebe.

Als Anna und Domenico schließlich für Stunden und Tage die grenzüberschreitende Flucht aus der Ordnung gelingt, entladen sich Unsicherheit und Anspannung in sexueller Gier, die Soldini ebenso intim wie freizügig inszeniert. Je stärker in der Folge ihre zunehmende körperliche und emotionale Abhängigkeit wird, desto schwieriger lässt sich ihre Leidenschaft in den geregelten Alltag integrieren. Um das Ungewöhnliche dem Gewöhnlichen möglichst unauffällig einzuverleiben, bedarf es immer öfters kleiner Lügen, Täuschungen und Heimlichkeiten. Gerade im Wechsel der Perspektive auf Domenico und seine Familie entwickelt Soldini dabei einen unterschwelligen Diskurs über die schmerzlichen Wechselwirkungen des Geldes und die von ihm erzeugten Abhängigkeiten. Spürbar wird das etwa, wenn die Rechnung für das Hotelzimmer der Liebenden in Relation gesetzt wird zu den Kosten einer Kinder-Impfung. Die gewöhnliche Notwendigkeit behauptet hier unausgesprochen ihr Recht gegenüber einer außerordentlichen Leidenschaft.

Requiem for a Dream

(USA 2000, Regie: Darren Aronofsky)

Ästhetik des Kollaps
von Andreas Thomas

Wo ein innovativer Regisseur sich frei austoben darf, produziert er oft herausragend gefilmte Fragwürdigkeiten, weil seinem Gestaltungstalent der Stoff fehlt, das Buch, der Autor. Regisseur Darren Aronofskys Hang zum Düster-Apokalyptischen …

Wo ein innovativer Regisseur sich frei austoben darf, produziert er oft herausragend gefilmte Fragwürdigkeiten, weil seinem Gestaltungstalent der Stoff fehlt, das Buch, der Autor. Regisseur Darren Aronofskys Hang zum Düster-Apokalyptischen und seine revolutionäre filmische Potenz werden niemandem entgangen sein, der den stilistisch viel versprechenden Film 'Pi' kennt. Ein wahrer Glücksfall aber ist sein zweites Werk 'Requiem for a Dream', weil sich Aronofskys Kraft und Ideenreichtum darin mit nichts geringerem als einer Romanvorlage (und dem Co-Drehbuch) des kompromisslosen Hubert Selby jr. ('Letzte Ausfahrt Brooklyn') (im Film in einer Nebenrolle als Gefängniswärter zu sehen), messen konnten. Ein starkes Stück Kino ist das Ergebnis dieser fruchtbaren Paarung.

Das Fernsehen ist Gott und Droge. Hier entstehen Normen und Werte, hier wird 'im doppelten Wortsinn Gesellschaft geleistet' (Jens Jessen, Die Zeit) und hier werden Träume produziert, die besser sind als die reale Welt. Wie ein Gottesdienst wird die Tappy-Tibbons-Schlankheits-TV-Show zelebriert, die (neben Pralinen) zu Sarah Goldfarbs (Ellen Burstyn) einzigem Lebensinhalt geworden ist, seit ihr Mann tot ist und ihr Sohn Harry (Jared Leto) die elterliche Wohnung auf Coney Island verlassen hat.

Harry braucht Sarahs Fernseher nur gelegentlich, und zwar, um ihn beim Pfandleiher gegen Bargeld einzutauschen, mit dem er seine Drogen finanzieren kann: Marihuana, Kokain, LSD und Heroin. Die liebende Mutter ist nachsichtig und löst das Gerät immer wieder ein.

Als Sarah aufgeregt erfährt, dass sie zur Tappy-Tibbons-Show geladen ist, stürzt sie der Umstand in Konflikt, dass ihr bestes Stück, das rote Kleid, für sie zu eng geworden,- sprich, dass sie zu dick fürs Fernsehen ist. Unfähig, eine Diät durchzuhalten, lässt sie sich von einem verantwortungslosen Arzt mit Appetitzüglern helfen, bunten Pillen, die sie nach und nach abhängig und psychisch krank machen.

Zur selben Zeit ist Harry gemeinsam mit seinem Freund Tyrone (Marlon Wayans) ins große Drogengeschäft eingestiegen. Mit gestrecktem Heroin versuchen sie innerhalb kurzer Zeit so viel Geld zu verdienen, dass sogar für Harrys Freundin Marion (Jennifer Connelly) genug abfällt, um selbständige Modedesignerin zu werden. Der große Deal scheint auch fast zu funktionieren, wäre da nicht die ständige Versuchung des 'Schusses zwischendurch'.

Der tägliche Eigenbedarf wächst im gleichen Maße, wie sich die Situation auf dem Heroinmarkt verschlechtert. Die jungen Leute werden bald mit äußerster Brutalität konfrontiert, und Marion sieht ihre einzige Chance in der Prostitution.

Spätestens ab jetzt wird der Zuschauer mit den Protagonisten kurzgeschlossen und in einem im Kino bisher unvergleichlichen Strudel der Bilder auf die Reise geschickt: Die Reise der Mutter, die ihre Umwelt bald nur noch verzerrt wahrnimmt und halluziniert, die des Sohnes und seiner Freunde, die zu allem bereit sind, um an Heroin und Geld zu gelangen. Abwärts führt die Spirale der Süchte, enger und enger werden die Kurven, kürzer und kürzer die Schnitte, im Staccato der Cuts wechseln sich vier Abstürze ab, gnadenlos folgerichtig, vom kleinen Desaster bis zur absoluten Katastrophe. Jeder ist am Schluss allein, doch für jeden führt der Weg an dasselbe Ziel,- den Ort, an dem seine Träume gestorben sind.

Der Plot von 'Requiem for a Dream' hat, unter anderem, alle Merkmale des klassischen Drogenaufklärungsfilms, wie z.B. 'Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo', dessen Botschaft lautet: Mit harten Drogen ist nicht zu spaßen. Wer meint, sie kontrollieren zu können, wird bald von ihnen kontrolliert und körperlich und seelisch zugrunde gerichtet. Aber 'Requiem for a Dream' handelt auch von der generellen Perspektivlosigkeit und Vereinzelung in einer teilnahmslosen Gesellschaft, die nicht nur die Flucht in die Droge provoziert, sondern sie sogar, im Fall der Mutter, ärztlich verordnet.

Der Automatismus des Drogenkonsums spiegelt sich wiederholt in sich gleichenden, mechanisch ablaufenden, blitzschnellen Schnittfolgen: bei Harry das Aufkochen, das Injizieren, die Pupillenerweiterung, bei Sarah das Öffnen der Tablettendose, die Tabletten in der Hand, das Schlucken, oder das Nach-der-Fernbedienung-greifen, den Power-Schalter-drücken, das Flimmern des Bildschirms. Immer sind es mechanische, halbbewusste Handgriffe zum Starten der 'stimmungsaufhellenden' Maschinerie, Angewohnheiten, die z.B. jeder Raucher bei sich selber beobachten kann. Wie Aronofsky diesen Mechanismus visuell entlarvt, das ist geniale Filmsprache. Das Getrenntsein der Menschen voneinander wird im Film häufig verdeutlicht durch eine 'Split-Screen'-Bildmontage. Selbst die beiden Liebenden beim Liebesspiel auf Heroin finden nicht aus ihrer Bildhälfte, also ihrer Abgeschlossenheit heraus und wirklich zu einander.

Jeder bleibt in seinem privaten Scheitern für sich allein, und das Ideal des amerikanischen 'Way of Life', ein glückliches, erfolgreiches Leben, ist unerreichbar. Der in der amerikanischen Verfassung verankerte Grundsatz, 'The Pursuit of Happiness', ist zum Streben nach dem Siegerlächeln im gelifteten Gesicht verkommen, zu einer dogmatisch angeordneten, idealisierten Oberfläche, die für die desorientierte Sarah die Bedrohlichkeit einer inquisitorischen, aus dem Fernseher in ihr Appartment brechenden Instanz annimmt, weil ihr leeres Leben diesem Vorbild in keiner Hinsicht entspricht oder auch nur ähnelt – so sehr sie sich es auch wünscht. Verwirrt durch diesen unauflösbaren Konflikt bleibt ihr nur die Alternative, sich selbst zum Dauergast der Fernsehshow zu halluzinieren.

Wer heroinsüchtig ist, wird nicht wie ein Kranker behandelt, sondern wie ein Krimineller. Wer verwirrt ist, wird bis zum Ich-Verlust psychiatrisch 'therapiert'. Extrem negative Auswirkungen einer inhumanen 'psychosozialen Hygiene' liegen in 'Requiem for a Dream' auf engstem Raum zusammen. Ein möglicher Grund, den Film als zu einseitig schwarzmalerisch zu empfinden. Interpretiert man aber die zweifellos bewusst verdichtete Handlung (doppelt verdichtet durch ihre immer stilsichere, ästhetisch einheitliche, aber auch grelle filmische Umsetzung) als komprimierte Konsequenz eines Missverhältnisses zwischen verlogener Fassade und bitterer Wirklichkeit der USA, beginnt man, diesen Zusammenbruch kleiner Träume auch als etwas Größeres zu begreifen, als den Kollaps des Amerikanischen Traums.

Neben der herausragenden Optik von 'Requiem' müssen auch unbedingt der großartige Soundtrack und die Soundeffekte gelobt werden, in jeder Hinsicht adäquate akustische Entsprechungen, und: Nicht nur der Film (der übrigens unverständlicherweise in Deutschland mit nur einer Kopie in die Kinos gelangte), auch die Internetseite zum Film ist absolut sehenswert – und eigentlich schon ein eigener interaktiver Film …

Schultze gets the Blues

(D 2003, Regie: Michael Schorr)

Typisch
von Andreas Thomas

Der Bergarbeiter Schultze (Horst Krause) und zwei seiner Kollegen aus einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt werden in den Vorruhestand entlassen. Außer Polkaspielen auf dem Akkordeon, Kneipe und Angeln bleibt dem …

Der Bergarbeiter Schultze (Horst Krause) und zwei seiner Kollegen aus einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt werden in den Vorruhestand entlassen. Außer Polkaspielen auf dem Akkordeon, Kneipe und Angeln bleibt dem anspruchslosen und ruhigen Junggesellen Schultze nicht mehr viel. Doch als er zufällig im Radio ein louisianisches Cajun-Stück hört, kommt neues Leben in ihn. Er wendet sich von der Polka ab, der Südstaatenmusik zu und sein Traum, doch einmal in die USA zu reisen, wird tatsächlich wahr.

Kugel mit Hut und Quetschkommode, das sind die Markenzeichen von Schultze – auch dass er keinen Vornamen hat, ist typisch für einen wie ihn: Schultze ist ein Original, ein „liebenswerter Kauz“, eine Type eben. Je weniger er spricht, desto mehr Type ist er, ganz wie die urigen Typen aus den lustigen Aki-Kaurismäki-Filmen – die je uriger sie wurden, manchmal umso peinlicher waren.

Ganz ähnlich wie in den ernsten Kaurismäki-Filmen ist die Situation: Das Land ist öd und leer und Arbeit gibt es nicht, nur das gezapfte Helle und die (typisch deutsche?) kleinkarierte Polka-Spießigkeit. Wären da nicht Menschen, die anderen Lebensmut machen: Die lebenslustige Rentnerin, die Schultze am hellichten Tage zu 10 Jahre altem Whiskey verführt (welcher Whiskey übrigens ist zehn Jahre alt? Ich kenne nur die Altersstufen 6, 12, 24 Jahre): „Nun trink doch mal, Schultze!“, die neue Kneipenbedienung, ein Rasseweib, dass against all odds eine heiße Sohle auf den Kneipentisch legt, und selbst der Doktor, der Schultze beruhigt: Südstaatenmusik zu lieben ist keine Krankheit.

Bald schon stellen wir fest: Das Gute ist außerhalb deutscher Grenzen und irgendwo innerhalb unserer Herzen, so wir uns unser Jungsein und unsere Neugier erhalten. Schultzes besondere Chance liegt gerade in seiner Schlichtheit, die ihn vor dem Bösen bewahrt. Dargereichtes Fazit für uns alle: Ein bisschen Schultze kann uns allen nicht schaden. Ein bisschen Abhaun auch nicht. Dann wird es schon alles irgendwie gehen. Und Arbeitslosigkeit ist so gut wie vergessen.

„Schultze gets the Blues“ ist auffallend ästhetisch gefilmt. Statische Bilder, die wunderbar durchkomponiert sind, stilsichere Farbkombinationen, vieles, was man ähnlich auch bei Jarmusch oder Kaurismäki gesehen hat. In den besten Augenblicken, und die sind eindeutig zu Beginn des Films, fallen Ästhetik und Inhalt zusammen und ergeben eine spröde melancholische Schönheit. Anhaltinische Einöde, bittere Heimat der Wortkargen. Hier stimmt zunächst alles: Zurückgenommene Landschaft und zurückgenommene Leute.

Auseinander fallen Form und Geschichte, wenn uns via Schultze Lebensfreude suggeriert wird, und als er in den USA ankommt, hat Schultze nicht nur Deutschland, sondern auch die Zuschauer verlassen. Seltsam fern bleibt ihm die Kamera, beeindruckt von den breiten amerikanischen Ansichten und ihren Möglichkeiten gerinnt der Film zu einer Fotoausstellung und er vergisst Schultze.

Aber wer war das eigentlich, Schultze? Und wie sieht er aus, der Schultze, den wir nur in uns selbst finden brauchen? Wie eine Kugel mit Hut und Quetschkommode eben. Wie der zu einer „Type“ zurechtgeschrumpfte Versuch, Wege aus einer ausweglosen Gegenwart aufzuzeigen, unheiteren Verhältnissen heitere Seiten abzuringen, wie ein falscher Versuch, weil er versucht, uns mit Unversöhnlichem zu versöhnen.

The Guys

(USA 2002, Regie: Jim Simpson)

Nationaleigentum Trauer
von Andreas Thomas

Ein Feuerwehrcaptain (Anthony LaPaglia) aus dem New York nach dem 11. September 2001: Verstört, aufgewühlt, ins Mark getroffen: 14 seiner Leute des NYFD sind von ihrem Einsatz in den zwei …

Ein Feuerwehrcaptain (Anthony LaPaglia) aus dem New York nach dem 11. September 2001: Verstört, aufgewühlt, ins Mark getroffen: 14 seiner Leute des NYFD sind von ihrem Einsatz in den zwei Türmen nicht mehr zurückgekehrt. Er muss eine Trauerrede halten, aber er weiß nicht, wie er seine Gefühle in Worte fassen kann, denn er ist ja auch ein Mann der Tat, einer dieser unauffälligen Helden des Alltags, die – weil zwei Flugzeuge in zwei Häuser flogen – zu Märtyrern wurden, und zu Stars, die der Präsident auf den Trümmern der Türme in den Arm schloss, für die und deren Hinterbliebenen andere Stars Wohltätigkeitskonzerte gaben.

Der Captain wendet sich an eine Professionelle, eine Journalistin (Sigourney Weaver), ihm seine Trauerrede zu schreiben. Sie, die bisher mit der Distanz der Intellektuellen auf die Katastrophe sah, lässt ihn erzählen, notiert sich Stichwörter, um diffusen Schmerz in professionelle Worte umzuwandeln. Sie erfährt, wie diese Männer waren, technisch einfallsreich, witzig, Anführertypen, verschroben, Heißsporne, Kochkünstler, ein „toller Haufen von Typen“, die „den besten Job machten, den es gibt“ – „heute würde ich sagen, den wichtigsten Job“, korrigiert er sich, und sie schaut ihm in die irischen (oder italienischen? jedenfalls amerikanischen) Feuerwehr-Augen (die meisten der „Guys“ sind irischer Abstammung) und stellt fest: was ich hier mache, ist keine professionelle Auftragsarbeit, und dieser Mann ist nicht nur Feuerwehrmann, sondern ein Mensch, ein einfacher Mann des Volkes, dieses unseren Volkes, und sie stellt fest: unser New York und unser Land ist voll mit unauffälligen, einfachen Menschen, die ihre Arbeit tun für unser Land, die selbstlos in den Tod gehen für die anderen einfachen Menschen in unserem Land. Und da, endlich, mitten im professionellen Vortrag ihres professionellen Textes, bricht sie in Tränen aus. Die Message, ihre eigene, ist bei ihr selbst angekommen, das Klischee vom einfachen Mann, das in keinem professionellen Nachruf fehlen darf, funktioniert so gut, dass die Promoterin der Trauer selbst drauf reinfällt.

„The Guys“ gibt vor, den Schmerz über an die 3000 Tote in einen Schmerz über echte Individuen, hier herausgegriffen nur vier oder fünf Feuerwehrmänner, echte Menschen, zu verwandeln und so vom Abstrakten zum Begreifbaren zu gelangen. Aber, und das ist das wirklich Traurige, eben das tut Jim Simpsons Film nicht. Er ruft zwar Bilder individuell verschiedener Menschen wach, aber diese Bilder gehen dabei kein einziges Mal über das hinaus, was man nicht schon aus dem Kino kannte, aus Feuerwehr-Filmen wie „Backdraft – Männer, die durchs Feuer gehen“. Diese schmerzlich vermissten Menschen sind nicht mehr als Typen, eben „Guys“, wie es der Filmtitel unfreiwillig schon verrät, Feuerwehrtypen, auch schon vor dem 11. September mit dem Heldenmythos behaftet, und wie man sieht: hinterher erst recht. Nicht als Menschen sind sie gestorben, sondern als Menschen, die Feuerwehrmänner waren, als Volks-Helden, und deshalb darf auch sinnvoll geweint werden.

Die diffuse, bodenlose individuelle Trauer über den unerklärbaren Tod unzähliger Individuen wird in „The Guys“ in eine sinnhafte, öffentliche, nationale Trauer kanalisiert, und so ist „The Guys“ nicht Trauerarbeit, sondern Propaganda für eine Politisierung des Privatesten, Okkupation des Privatesten durch das Öffentliche. Bestenfalls eine Flucht aus der Unfähigkeit zum Trauern, schlimmstenfalls das Einstimmen auf den Krieg. Wenn Trauer über den Tod eine explizit amerikanische Eigenschaft ist, – und die Trauer in „The Guys“ ist eben in erster Linie ein nationales Ereignis – dann ist vielleicht die Trauer über den Bombentod von Babys in Bagdad eine andere Art von Trauer, vielleicht auch traurig, aber ist sie vergleichbar?

Sigourney Weaver sagt im Film: „Nach dem 11. September ist der Jazz aus dieser Stadt verschwunden.“ Irgendwie wirkt sie dabei, als fände sie das nicht nur schrecklich …

KZ

(GB 2005, Regie: Rex Bloomstein)

'Nett' reimt sich auf 'KZ'
von Andreas Thomas

Wenn Auschwitz in Deutschland als leiser, kaum hörbarer Ton täglich vorhanden ist, wie der Regisseur Andres Veiel es einmal ausdrückte, dann existiert das KZ Mauthausen in der Kleinstadt Mauthausen, Oberösterreich, …

Wenn Auschwitz in Deutschland als leiser, kaum hörbarer Ton täglich vorhanden ist, wie der Regisseur Andres Veiel es einmal ausdrückte, dann existiert das KZ Mauthausen in der Kleinstadt Mauthausen, Oberösterreich, heute sowohl als Gedenkstätte als auch als unüberhörbare Kakophonie der Gleichzeitigkeit von Ignoranz und Erinnerungsarbeit.

Der Regisseur Rex Bloomstein stammt vom Cinema Verité. Das ist auch seinem Dokumentarfilm 'KZ' anzusehen, der völlig ohne Off-Kommentare, historische Filmaufnahmen, Fotografien oder Hintergrundsmusik auskommt. 'KZ' ist ein Film über die Gegenwart. Über die Gegenwart angesichts eines früheren KZs, in dem zwischen 1938 und 1945 von etwa 200 000 Menschen etwa 100 000 ermordet, das heißt, entweder programmatisch „durch Arbeit vernichtet“, durch menschenunwürdige Behandlungen (z.B. zynische medizinische „Versuche“) starben oder in einer Gaskammer vergast und in Öfen verbrannt wurden – vor Ort gedreht auf dem Gelände der Lageranlagen und nebenan, im befremdlich gemütlichen Mauthausen, wo sich in einem Lokal, das früher SS-Offiziersschänke war, die Folklore-Buam heute wie damals beim Glaserl Wein auf die Schenkel klopfen und dazu singen: „Die Moststub’n heroben beim KZ, die ist wirklich herrlich und nett…“

Drei Gruppen kommen in 'KZ' zu Worte: Bewohner von Mauthausen, Angestellte, die Führungen durch das Lager anbieten und Reisegruppen und Touristen, die sich über das KZ informieren wollen. Wo die einen versuchen, die Erinnerung wach zu halten, wie ein Angestellter, der in seinen über zehn Jahren Arbeit seine psychische Gesundheit verloren hat, von Psychopharmaka abhängig und Alkoholiker geworden ist, wie er offen erzählt, da verstehen die anderen ganz gut, dass die alten Mauthausener nicht mehr gerne über die Vergangenheit reden wollen. Da gibt es eine durch die Geschichte ungetrübte Verbundenheit mit dem Ort, ja, Heimat-Stolz, am frappierendsten verkörpert durch eine Frau, die erzählt, wie sie beim Besuch eines Mahnmals in Israel, beim Anblick des Schriftzugs „Mauthausen“ am liebsten freudig und laut ausgerufen hätte, dass sie selbst Mauthausenerin ist, nicht realisierend, warum ihr israelischer Reiseleiter sie daran hindern wollte.

Wo die einen detailliert von den unmenschlichen Qualen berichten, die den Lagerinsassen widerfuhren, da findet es ein junges Ehepaar überhaupt nicht ungemütlich, ein ehemaliges SS-Offiziers-Wohnhaus bezogen zu haben, denn „zur Arbeit“ sind die SS-Leute ja ins KZ gegangen, hier haben sie „doch nur gewohnt“.

Bloomsteins Absicht, zu zeigen, „wie die Vergangenheit in die Gegenwart eindringt, und schließlich auch in die Zukunft“, gelingt nachhaltig. Nicht zuletzt deshalb, weil er an einem Ort, an dem die Verdrängung und Verharmlosung der NS-Gräuel besonders gut zu funktionieren scheint – Österreich sieht sich, aufgrund des „Zwangsanschlusses ans Dritte Reich“ offenbar bis heute nur in der Opfer – nicht in einer Täterrolle -, er einfach die Vergangenheit sprechen lässt. Z.B. aus dem Mund eines jungen Zivildienstleistenden mit kahlgeschorenen Kopf, der einer Gruppe genau und nüchtern beschreibt, wie lange der Todeskampf in der Gaskammer gedauert hat. Aber auch die Reaktionen der Besucher auf die schonungslosen Berichte sind ambivalent. Ein Mädchen wird blass, sie fällt beinahe in Ohnmacht, eine Frau sagt, dass sie das alles „kein zweites Mal“ hören wolle, ein männlicher Besucher aber freut sich, dass das Lager so gut erhalten ist, und er möchte gleich im Anschluss eine Tournee zu allen übrigen ehemaligen KZs unternehmen. Und irgendjemand hat auf eine Gedenktafel in der Gaskammer ein Hakenkreuz geritzt.

'KZ – Willkommen in Mauthausen' zeigt auf erschreckende Weise, wie bedroht die Erinnerung an das Grauenhafte ist, selbst für die, die sich als geschichtsbewusst empfinden und bei denen sich doch schon stereotype Dritte-Reich-Klischees eingeschlichen haben, die die konkreten Ereignisse und Geschichten immer mehr verdrängen, zeigt anhand der Gesichter von Menschen, die sich ihr vorbehaltlos aussetzen (in der Vorgehensweise mit Claude Lanzmans Dokumentarfilm „Shoah“ vergleichbar), mit welch niederschmetternder Wucht die Vergangenheit hier und heute wirksam ist. Vielleicht tut sie es aber deshalb umso mehr, weil am gleichen Ort das Erschreckendste koexistiert: Menschen, die gerne hier leben, die nicht einmal wissen, woran sie sich hier stören könnten. Ein kultivierter Gedächtnisverlust, eine totale soziale Amnesie.

Napoleon Dynamite

(USA 2004, Regie: Jared Hess)

Ein paar abfällige Einfälle zu einem Un-Film
von Andreas Thomas

Ich will niemanden mit dem Inhalt langweilen. Dieser Film ist so, als würde man einem toten Fisch beim Vergammeln zusehen. Er wird nicht besser. Er sieht aus wie einer dieser …

Ich will niemanden mit dem Inhalt langweilen. Dieser Film ist so, als würde man einem toten Fisch beim Vergammeln zusehen. Er wird nicht besser. Er sieht aus wie einer dieser MTV-Eigenwerbeclips, in denen es lustig sein soll, wenn Idioten sich an die Waden pinkeln. Er will uns weismachen, dass es irrsinnig komisch ist, ein Nerd zu sein, oder (er tut so, als ob es wäre) gar irrsinnig menschlich ein Nerd zu sein, dabei handelt der Film überhaupt nicht von einem oder zweien oder vielen Nerds, sondern von einer MTV-Version des Nerdigen, und das ist wieder nur eine Anhäufung von Klischees (ein offen stehender Mund, halb geöffnete Lider, ein ausgesucht hässliches 80er Jahre T-Shirt, eine Riesenbrille, eine Zahnspange etc. pp). Zum Menschen Nerd fällt dem Film nichts ein, weil der Film eigentlich auch keinen Nerd kennt und vermutlich auch nicht kennen will, es ist im MTV-Zeitalter nur so irrsinnig cool, einen abgefahrenen, danebenen Film über Klischees von tumben Idioten zu sehen, und deshalb muss man einen solchen Film auch drehen, wenn man Geld verdienen (also Kult produzieren) will.

Weil der Film sich nur an der Oberfläche eines Nerd-Stylings entlang hangelt, keinen Schimmer von der Materie hat, die er in Augenschein nimmt, produziert er auch keinerlei Pointen und keinen Witz. Ich weiß nicht, was meinen werten Kollegen Knörer an dieser Totgeburt von einem Film bestochen hat, er entdeckte in dieser Abwesenheit von Humor tatsächlich ein stilistisches System. Dabei hatte er bei Wes Andersons „The Royal Tenenbaums“, der sich genauso ausbeuterisch und gleichgültig an der Leere seiner maskenhaften Protagonisten delektierte, den Finger deutlich auf die Wunde gelegt, so dass der Film Aua sagen musste.

Zwei Gegenbeispiele, um zu erklären, was ich meine: „Willkommen im Tollhaus“ und „American Splendor“. Beides sind Nerd-Filme, also Filme über Außenseiter, Loser, ewig Gehänselte, und beide Filme beziehen ihre Stärke daraus, dass sie ihr Metier gründlich kennen. Entweder liegt ihnen das Buch eines solchen Verlierers zugrunde (Harvey Pekar, „American Splendor“), oder der Regisseur und Autor ist selbst einer (gewesen) (Todd Solondz, „Willkommen im Tollhaus“). Diese Filme sind stark, weil sie die Innensicht von Außenseitern wiedergeben und die ist peinlich in jeder Beziehung des Wortes, weil sie immer auch von den Qualen handelt, die ein „Nerd“ erleidet.

Aber „Napoleon Dynamite“ dient nur zur Selbstbestätigung der Klientel, die höchstens mal ab und zu Angst hat, Nerd zu sein, und nun feststellen darf, dass sie doch viel cooler sind. Übrigens findet auch die Erettung der Protagonisten in „Napoleon Dynamite“ via MTV-Ikonographie statt: Napoleon hat gelernt zu tanzen und sein Bruder mutiert mit Hilfe einer sexy Rapper-Braut zu einem lächerlichen Hip-Hopper und beide haben ihre Daseinsberechtigung erworben. Sie sind welttauglich, weil sie MTV-tauglich (natürlich nur scheinbar, aber das ist ja auch ein Scherz, den die MTV-Kiddies verstehen) geworden sind. Es ist überhaupt kein Wunder, dass MTV diesen Film koproduziert hat.

Man glotzt also anderthalb Stunden auf den geöffneten Mund einer armseligen, weder psychologisch noch satirisch definierten Filmfigur (übrigens kann von schauspielerischem Talent in diesem Film keine Rede sein), die von ein wenig altmodischer Innenarchitektur und ein paar bunt-skurrilen Accessoires eingerahmt ist, wartet vergeblich darauf, dass nur irgend etwas passiert, und man soll diesen seinen eigenen Zustand offenbar für Amusement halten – der doch an eine fortschreitende Lebensmittelvergiftung erinnert.

Man macht sich einfach nicht über Minderheiten lustig, auch wenn das gerade trendy zu sein scheint – außer man ist selber eine. Aber die spießigen Cheerleader-Blondies und ihre rüpeligen Streberfreunde kommen in „Napoleon Dynamite“ auffallend ungeschoren davon. Dabei sind sie die Gesellschaft, die Nerds produziert, weil sie sie nötig haben, um sich selbst aufzuwerten. Ich werde den üblen Verdacht nicht los, dass die auch die Zielgruppe dieses Films sind. Nerd-Würg!

Die Zeit die bleibt

(F 2005, Regie: François Ozon)

Tod im Weichzeicher
von Andreas Thomas

Zwei liebgewordene Eric-Rohmer-Helden treffen sich in „Die Zeit die bleibt“, Melvil Poupaud und Marie Riviére. Die Protagonisten seiner beiden schönsten Sommer-Filme „Sommer“ (1996) und „Das grüne Leuchten“ (1985). Im Rohmer-Universum …

Zwei liebgewordene Eric-Rohmer-Helden treffen sich in „Die Zeit die bleibt“, Melvil Poupaud und Marie Riviére. Die Protagonisten seiner beiden schönsten Sommer-Filme „Sommer“ (1996) und „Das grüne Leuchten“ (1985). Im Rohmer-Universum sind sie zeitlos jung geblieben, könnten sie Geschwister sein, bei François Ozon sind sie plötzlich zu Mutter und Sohn geworden. Eine Reminiszenz vielleicht an den großen menschenfreundlichen Regisseur und an Dekaden seiner Filme, welche unermüdlich von der Jugend und ihren Optionen berichteten (während ihr Regisseur unweigerlich ergraute) und vielleicht ein Hinweis auf das Verstreichen von Zeit, auf die Endlichkeit, die doch bei Rohmer stets eine untergeordnete Rolle spielt und spielte.

Das Sujet von „Die Zeit die bleibt“ aber ist die Physis des schönen, zynischen 31-jährigen Modefotografen Romain (zweite Reminiszenz: „Blow Up“ von Michelangelo Antonioni), die ganz plötzlich und ganz unerwartet vor dem endgültigen Verlöschen steht. Die Diagnose lautet Krebs mit einer Prognose von maximal drei Monaten Restlebenszeit.

Was bleibt zu tun? Der Vater wird – vielleicht zum ersten und zum letzten Mal bewusst – umarmt. Der ausgehaltene, jüngere Geliebte wird hinausgeworfen. (War die Beziehung nicht sowieso nur noch oberflächlich?) Die Großmutter (Jeanne Moreau) wird besucht, weil sie ihm ähnlich ist, denn auch sie wird bald sterben (dritte Reminiszenz: Fallls irgendeine Frau für die Nouvelle Vague stehen könnte, dann doch wohl sie. Aber die Moreau sieht hier wirklich verdammt alt aus. Was wird sein, wenn sie stirbt? Dann ist nicht nur die Nouvelle Vague sondern auch ein letzter prägnanter physischer Nachweis von ihr verschwunden.)

Und wer trägt gelassen die neueste französische Welle zu Grabe? Der Wellenschläger selbst. Der talentierte Tausendsassa François Ozon, Kenner des alten und die Hoffnung des neuen französischen Kino, der Fassbinder- und Hitchcock- und Horrorfilm-Epigone, der doch mit seinen Filmen immer wieder neue Verstörungen und neue cineastische Verweise erfand und der nun schon mindestens den zweiten Film gedreht hat, welcher nichts Interessanteres zu sagen hat, als dass die Zeit (die Biologie, die Biografie) des Menschen ärgster Feind ist.

Mit abgeklärtem Fatalismus und weichgezeichnet zeigte zuletzt „5 x 2“ die Vergeblichkeit institutioneller Liebe und nun müssen wir Romain dabei zusehen, wie er in milder Ergebenheit dem eigenen Ende entgegen siecht. Nach „Unter dem Sand“ aus dem Jahr 2000 ist „Die Zeit die bleibt“ der zweite Teil von Ozons „Trilogie über den Tod“. Gerade im Vergleich dieser beiden Filme zeichnet sich ab, wohin sich die Filme Ozons in den letzten Jahren entwickelt haben. „Unter dem Sand“ bezog seine Kraft aus seiner Vielschichtigkeit, seiner Rätselhaftigkeit, aus seiner Kunst Unsagbares zu sagen und offene Fragen stehen und wirken zu lassen. „Die Zeit die bleibt“, und das ist die größte Enttäuschung, scheint von der Wirklichkeit des Todes irgendwie überfordert zu sein und ist immer wieder bemüht, denkbare existentielle Abgründigkeiten mit Sinngebungen auf Frauenzeitungsniveau zu verkleistern: Das Sterben bedeutet für Romain Umkehr, Einkehr, und einen Versuch der Rückkehr zur Freundlichkeit. Er versucht eine Aussöhnung mit der von ihm zuvor unverständlicherweise grob und unfair behandelten Schwester, ein letztes versöhnliches Gespräch mit dem rüde verstoßenen Geliebten und er realisiert, dass (hohl, wie seine oberflächliche Existenz ja bisher war) er in seinem Leben nichts Bleibendes geschaffen hat. Ein Glück, dass ihm Valeria Bruni-Tedeschi (wieder einmal mit einer schauspielerischen Glanzleistung) über den Weg läuft und er mit ihr und ihrem zeugungsunfähigen Mann in einem (merkwürdig magischen) Dreier-Akt Nachwuchs produzieren kann.

Es gibt auch eine weitere magische Szene: Als Romain mitten in der Nacht das Wäldchen seiner Kindheit aufsucht, so wie er da im bläulichen Dunkel steht, da entsteht ein Bild seiner Leere und Verlassenheit. Doch leider mag Ozon auch diesen starken, dunklen Moment nicht wirken lassen und muss farbenfrohe Kindheitserinnerungen als Gegengift anwenden. Dass Romain hin und wieder seinem kindlichen Alter Ego begegnet, dem herzigen Lockenkopf, der mal scherzhaft ins Weihwasser pinkelt, mal ihm, dem Sterbenden, den blauen Ball zukickt, (Reminiszenz Nummer Vier: Die Erde, der blaue Planet?), treibt ihm die Tränen der Rührung in die Augen, aber eben diese Rührmomente trivialisieren den Film immer an den Stellen, wo er am stärksten hätte sein können.

Immerhin faszinierend ist das Zehren am offensichtlich fastenden Schauspielerkörper, schön auch die undramatisch angedeuteten Leidensmomente beim Kotzen, beim Schmerzpilleneinwerfen, beim sinnlosen Starren auf die weißen Füße im Sand des sommerlichen Badeortes. Eine Überantwortung des kleinen Egos an das ewige Sein. Und die Rückkehr des Rohmer-Darstellers zur ewigen Rohmer-Kulisse Sandstrand – und die Auflösung darin – inmitten betuchter Urlaubskleinfamilien, die alles ignorieren, was nicht käuflich ist oder Sport betreibt (Fünfte Reminiszenz: Robert Aldrichs 'Was geschah wirklich mit Baby Jane?“). Romain bleibt allein zurück. Hinter ihm sinkt die Sonne ins Meer.

Doch Moment mal. Gab es nicht schon in „5 x 2“ diese dominierenden Sonnenuntergänge? Und wie versteht Ozon das Sterben? Als den etwas ernsteren Ausklang eines Urlaubstages? Das sei dahingestellt, aber festgestellt sei auch, dass Ozon immer mehr dazu tendiert, Groteskes durch Pittoreskes zu ersetzen. Spannender werden seine Filme dadurch nicht. Irgend jemand sollte ihm bitte mal die Wattebäuschchen aus den Ohren, den Augen und den Nasenlöchern entfernen, damit ein halbtotes Regietalent endlich wieder zu uns Lebenden zurückkehren kann!

P.S. Und wer bitte hat sich erlaubt, bei der Filmbetitelung die Kommaregeln zu missachten?

Crossfire

(F 2008, Regie: Claude-Michel Rome)

Fakten schaffen ohne Waffen
von Oliver Nöding

Die Sonne brennt unbarmherzig auf verdörrtes Land, die Luft flirrt, liegt wie heiße Folie über allem und selbst die türkisfarbene Oberfläche der nahe gelegenen Bucht scheint von der Hitze wie …

Die Sonne brennt unbarmherzig auf verdörrtes Land, die Luft flirrt, liegt wie heiße Folie über allem und selbst die türkisfarbene Oberfläche der nahe gelegenen Bucht scheint von der Hitze wie gelähmt, so regungslos glitzert sie im gleißenden Licht. Die Polizeistation, ein verwittertes Provisorium, erinnert an einen gestrandeten Schiffscontainer inmitten einer industriellen Brachlandschaft und in dem Ort, für den sie zuständig ist, herrschen illegale Einwanderer und maghrebinische Gangs wie in einer Wildweststadt. Die verbliebenen Polizeibeamten führen ein nur noch halbherziges Rückzugsgefecht gegen das Verbrechen, das diese entlegene Region an der Südküste Frankreichs für sich erobert hat. Bis der schweigsame Polizist Vincent Drieu (Richard Berry) in die Stadt kommt …

Wie der US-amerikanische Western oder der Kriegsfilm konnte sich auch der französische Polizei- und Crimefilm durch die Jahrzehnte behaupten. Trends und Wellen und die mit diesen einhergehenden Modernisierungs- und Dekonstruktionsversuche hinterließen zwar ihre Spuren, doch konnten sie seiner Essenz letztlich nichts anhaben – wie der Flic seinen Einsatz zwar mit körperlichen und seelischen Narben bezahlt, aber aus seinen Gefechten zumindest als ideeller Sieger hervorgeht. Auch „Crossfire“ (der in den Opening Credits merkwürdigerweise mit „Unter Beschuss“ betitelt wird) führt über den Umweg über Michael Mann – die eröffnende Actionsequenz erinnert in ihrer zupackenden Inszenierung frappierend an die Straßenschlacht in „Heat“ – und John Carpenters „Das Ende“ – von dem er das vor der Schließung stehende Polizeirevier inmitten des Feindgebiets als Haupthandlungsort sowie die finale Belagerungssituation übernimmt – weit in die Vergangenheit zu George Stevens „Mein großer Freund Shane“, in dem möglicherweise zum ersten Mal ein tapferer Fremder mit dunkler Biografie den Guten im Kampf gegen die Bösen zur Hilfe eilte. Eine Situation, in der beide nur gewinnen können: Die auf verlorenem Posten Kämpfenden, weil sie ganz direkt von der Erfahrung des Neuankömmlings profitieren und in dessen Glanz auch selbst etwas heller leuchten, und der Neue, weil er Abbitte für vergangene Sünden leisten und so den Wiedereinstieg in die menschliche Gemeinschaft finden kann.

Schauspielveteran Richard Berry verleiht diesem Vincent Drieu nicht nur die kantigen, ausgemergelten und asketischen Gesichtszüge, die sowohl von der Härte eines entbehrungsreichen Polizistenlebens als auch von der Besessenheit, mit der dieses gelebt wird, künden, sondern auch die wortkarge, fast greifbare Autorität, die ihn in jeder Situation zum Zentrum des Geschehens macht. „Sie sind ein Mann, den man nicht duzen kann“, sagt seine junge Kollegin und bringt es auf den Punkt: Drieu ist nicht so sehr Individuum, Person, Charakter als vielmehr abstraktes Ordnungsprinzip, Verkörperung eines instinktiv verstandenen Gerechtigkeitsbegriffs. Er hat kaum seinen neuen Arbeitsplatz betreten, da haben sich die bestehenden Hierarchien bereits zu seinen Gunsten verkehrt: Seine Vorgesetzte Vasseur (Zabou Breitman), die verantwortlich für den nur noch zurückhaltend versehenen „Dienst nach Vorschrift“ ist, kann seiner Energie nichts entgegensetzen, die schleichende Meuterei ihrer Untergebenen schon nicht mehr verhindern. Wenn Drieu das Wachbuch und die Misserfolgsbilanz seiner Kollegen studiert, macht er das nicht aus denunziatorischem Eifer, sondern weil er seinen Job wie eine Wissenschaft betreibt. Und wie der Mad Scientist sich in sein Labor oder der Mönch in seine Klause zurückzieht, so hat er sein karg eingerichtetes Hotelzimmer, in dem ihn nur die Anrufe einer unbekannt bleibenden Frau aus seiner Vergangenheit für ein paar Minuten am Tag davon abhalten, weiter über seinem Fall zu brüten. Dass er keine Dienstwaffe bei sich trägt, erklärt das Drehbuch zwar als Ausdruck eines auf Schuldgefühlen beruhenden Bedürfnisses nach Selbstkasteiung und einer gewissen Lebensmüdigkeit, aber noch mehr unterstreicht dieser Verzicht seine fast messianischen Fähigkeiten: Drieu braucht so etwas Profanes nicht.

Regisseur Claude-Michel Rome inszeniert „Crossfire“ offen als Kreuzung aus sonnengegerbtem Western und urbanem Polizeifilm mit feinem Gespür für spannungsreichen Szenen- und Bildaufbau und die kleinen Details, die die schablonenhaften Figuren für den Zuschauer glaubwürdig machen. Der Brückenschlag zwischen den beiden Genres äußert sich vor allem in der Diskrepanz zwischen visueller Gestaltung, die dank moderner Kamera- und Schnitttechnik und den Möglichkeiten der digitalen Nachbearbeitung alles in Bewegung setzt, zum Fließen bringt, und dem moralischen Rigorismus, mit dem Gut ganz eindeutig von Böse geschieden wird. Es ist Drieu, der die Klarheit zurückbringt und dafür den Dank der Bekehrten erntet: Am Ende sammeln sie sich um ihn wie die Jünger um den Propheten. Seine Mission ist damit beendet, er kann seine wenigen Habseligkeiten einpacken und in den Zug steigen, der ihn an einen anderen Ort bringen wird, dahin, wo man seine Hilfe braucht …

Der Untergang

(D 2004, Regie: Oliver Hirschbiegel)

Die durch die Deutschen sehen
von Sven Jachmann

Es wird gemenschelt im Führerbunker. Pünktlich zum Jubiläum schafft es Produzent Eichinger, den Diskurs um Vergangenheitsbewältigung und Opferklärung mit jener Gestalt heim ins Reich zu holen, die es den Deutschen …

Es wird gemenschelt im Führerbunker. Pünktlich zum Jubiläum schafft es Produzent Eichinger, den Diskurs um Vergangenheitsbewältigung und Opferklärung mit jener Gestalt heim ins Reich zu holen, die es den Deutschen heute noch so schwer macht, mal Klartext zu filmen.

Die Retrofabrikatur ist im vollen Gange: 'Das Wunder von Bern', Rammstein, Martin Walser, 'Wir sind wir', Mia, Norman Finkelstein, Heuschrecken überall, Jürgen Möllemann, Botho Strauß, 'Speer und Er', Guido Knopp, Aggro Berlin, Deutschlandqoute, Heinz Rudolf Kunze, 'Nie wieder Auschwitz' im Kosovo, Ernst Nolte, Wehrmachtsausstellung, die Goldhagendebatte und immer wieder Dresden. Erst die Vergangenheit domestizieren, dann lässt sich endlich wieder ein selbstbewusstes Wir rauskrächzen, wenn in irgendeinem Schrebergarten die drei Farben gehisst werden. So etwas kann man selbst immer noch am besten: 'Meine Albtraum-Vorstellung war ein Film aus Hollywood, der uns per Import zeigt, wie es bei uns zugegangen ist', röhrt es aus dem Bernd. Erst das Volk der Dichter und Denker ins Schicksal Vertreibung bomben und ihnen dann auch noch ihren Lieblingspopanz madig machen? So nicht! Schlimm genug, dass der Ami beim Endsieg schon ein Wörtchen mitzureden hatte. Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Retro ist chic. Die entspannte Vereinnahmung vergangener Epochen muss schließlich nicht in den 70ern stehen bleiben. Eine Ikonographie des Vergessens bricht sich Bahn. Der Führer, mal wutschnaubend und unbeherrscht, dann aber wieder fast zärtlich und fürsorglich. Hundeliebhaber, Frauenversteher, Kinderfreund. Nehmen wir unsere KZ-Opfer bei den Händen und wollen nun laut sagen: Ja, wir alle sind nur Menschen, niemand ist perfekt. Die falschen Entscheidungen können schmerzvoll sein. Das muss sich auch Traudl Junge, das Zeitzeugensignifikat des 12-Tage-Melodrams, eingestehen. So ist das halt, wenn man jung ist. Naiv, aber eine kruppstahlharte Lust auf Glauben.

Und das Volk? Verraten und verkauft. Verängstigt eilt es durch Berlins zerbombte Straßen, um noch eines entlegenen Versteckes habhaft zu werden, und eine ganze Reihe an Einzelschicksalen ruft nochmal nachhaltig ins Gedächtnis, dass Krieg wirklich keine schöne Sache ist, insbesondere wenn man auf der Verliererseite steht. Allein gelassen von ihrem fantastischen und fanatischen Führer wird ihnen die Rolle zugewiesen, die sie auch heute noch voller Selbstbewusstsein beherrschen: Opfer spielen. Wenn dann der rote Mob als bedrohliche Masse gesichtsloser Pflichterfüller in Berlin einmarschiert und unsere Protagonisten sich der Frage zuwenden, ob denen nun mit Widerstand, Aufgabe oder Suizid entgegenzukommen sei, während unsere Jungdarstellerin mit ihrem Bengel im unschuldigen Grün der Demokratie entgegenradelt, dann dürfte in etwa das Moment erfasst sein, welches Eichinger dem findigen Hollywood-Produzenten nicht zutrauen mag. Fehlt nur noch eines: Auszeichnungen und Prädikate. Das offizielle Siegel lautet: Dieser Film ist besonders wertvoll. Weil wir es uns wert sein wollen.

Trapped Ashes

(USA / CAN / J 2006, Regie: Joe Dante, Ken Russell, Sean S. Cunningham, Monte Hellman, John Gaeta)

Chronik einer Lustlosigkeit
von Sven Jachmann

„Was mich an diesem Projekt besonders interessierte, waren die 50.000 Dollar Gage“, sagt Ken Russell im Making of, und angesichts seines Beitrags zu diesem vier Epsioden umfassenden Anthologiefilm, dessen Rahmenhandlung …

„Was mich an diesem Projekt besonders interessierte, waren die 50.000 Dollar Gage“, sagt Ken Russell im Making of, und angesichts seines Beitrags zu diesem vier Epsioden umfassenden Anthologiefilm, dessen Rahmenhandlung (die Teilnehmer einer Filmparkbesichtigung geraten in die Falle eines Geisterhauses und werden im weiteren Verlauf vom Parkführer dazu animiert, von ihren schlimmsten Erlebnissen zu berichten) recht ungehalten die Erzählungen miteinander verbindet, mag man ihn auch gerne beim Wort nehmen. Neben Russell wurden vier weitere Regisseure für die Gestaltung einer Episode beauftragt, darunter renommierte Genre-Namen wie Joe Dante und Sean S. Cunningham.

Dass keiner von ihnen ein befriedigendes Ergebnis präsentiert, mag vielleicht auch daran liegen, dass einzig Dennis Bartok für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Seine Geschichten wollen vor allem von allem etwas zu viel: Die Rahmenhandlung verbeugt sich vor den altgediegenen Vertretern der Hammer- und Amicus-Schmiede, begeistert aber vornehmlich durch eine karikatureske Figurenzeichnung. Eine relative Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit voraussetztend – schließlich werden alle Geschichten verbal vorgetragen – mag die Bereitschaft der semi-erfolgreichen Schauspielerin zunächst nur verwundern, als erste so vorschnell von ihrer missglückten Brustimplantation zu berichten, deren Resultat ein hunriges Paar fleischgewordener Vampirbrüste sind. Russell suhlt sich hier lieblos im Trash: Overacting an allen Enden, grelle Farben, dümmliche Dialoge und natürlich eine absurde Story, die die bisher rationalistisch geerdete Zuhörerschaft nicht davon abhält, nach 25 Minuten bereits die ersten gruppeninternen Konflikte zu provozieren. Vor dem Eklat wollen aber noch drei weitere Geschichten erzählt sein:

Cunningham führt ein Pärchen in die Kulisse eines japanischen Friedhofs, wo der Mann gezwungen ist, seine Frau aus den Tiefen der Hölle zu retten und so die monoton geratene Liebe wieder aufzufrischen. In Hellmanns Episode zerbricht die Freundschaft zweier Filmregisseure, von denen einer unschwer als Stanley Kubrick gezeichnet ist, an der gemeinsamen, obsessiven Liebe zu einer Frau, die sich später als „Liebesvampir“ entpuppen wird. John Graetas Beitrag nun versucht durch gelegentlichen Rückgriff auf die Mittel des Experimentalfilms und des Videoclips der Story um ein Mädchen, das als Ungeborenes ihren Platz im Mutterleib mit einem Bandwurm teilen musste und nach ihrer Geburt diesen fortwährend als bösen Zwilling bei sich weiß, etwas ästhetischen Mehrwert anzugedeihen. Schließlich muss die Gruppe im obligatorischen Schlussgag erfahren, dass niemand von ihnen die eigene Geschichte überlebt hat, was dann noch den Stil der „Tales from the Crypt'-Reihe einbindet, um den disparaten Stileklektizismus der vorangegangenen Episoden zu komplettieren. Und das gilt nicht bloß für die Anordnung der einzelnen Episoden: Plötzlich wandelt sich die Hölle in eine mangaeske Zeichentrickwelt, obgleich sich das Interesse des Pärchens eigentlich auf japanische Malerei konzentrierte; warum ausgerechnet Stanley Kubrick eine Ménage-à-trois antreten muss, erklärt sich wohl dadurch, dass seit „Scream' eine verstärkte Selbstreferenzialität im Horrorfilm zu beobachten ist; dass sich das Haunted House-Motiv der Rahmenhandlung in der Falle mit den expressionistischen Elementen eines Dr.Caligari vermengt, eingebettet in den Gothic-Stil der Hammer-Filme, wirft ein rechtes Licht auf die Kohärenz der narrativischen und ästhetischen Motivationen: Es gibt sie einfach nicht, aber weil es Motive in Horrorfilmen nunmal gibt, gibt es sie auch hier, und wirft man die ein wenig zusammen, sollte doch wenigstens ein kurzweiliges Augenzwinkern möglich sein. Bleibt zu wünschen, dass die Gagen auch ausgezahlt wurden.

Zur DVD:

Neben den editorischen Standards (korrektes Bildformat, englische Tonspur) bildet das gut 50-minütige Making Of das Kernstück dieser DVD-Premiere, in dem die Beteiligten vornehmlich ihre gemeinsame Arbeit gegenseitig wertschätzen (einzige Ausnahme: Ken Russell, der dies bereits in Eigenregie erledigt).

Hwal – Der Bogen

(KR 2005, Regie: Kim Ki-Duk)

Überspannt
von Andreas Thomas

Irgendwo zwischen alten asiatischen Mythen und Chiffren für die westliche geprägte Moderne sind die Film-Parabeln des Koreaners Kim Ki-Duk angesiedelt. Gewalt, Sex und Genuss sind in seinen Filmen oftmals die …

Irgendwo zwischen alten asiatischen Mythen und Chiffren für die westliche geprägte Moderne sind die Film-Parabeln des Koreaners Kim Ki-Duk angesiedelt. Gewalt, Sex und Genuss sind in seinen Filmen oftmals die Widersacher der Unschuld – für Kim gleichbedeutend mit einer metaphysischen Reinheit, die nach dem unvermeidlichen Sündenfall stets erneut errungen werden muss.

Kims neues Werk 'Hwal – Der Bogen' nun lässt den Allegorismus uneingeschränkt über alles Profane walten, scheint es geradezu ignorieren zu wollen. Ein überdeutliches Arrangement: der kleine Kahn inmitten des unendlichen Meeres, darauf der namenlose alte Mann, die namenlose junge Frau, vereint in wortlos-mystischer Verbundenheit, versus deren latente Gefährdung durch Weltlichkeit und Hedonismus in Gestalt junger Angler mit Markenklamotten und MP3-Player, denen der Alte das Hochseeangeln auf seinem Schiff ermöglicht.

Last but not least der titelgebende, magische Bogen, das Sinnbild und das Instrument der Strenge, für die Wahrsagerei und für die Kunst der Musik – allesamt Domänen des Patriarchen. Ist selbiger gut aufgelegt (und das ist er stets in der Vorfeude auf den 17. Geburtstag des Mädchens, der Tag, an dem er sie zu „ehelichen“ gedenkt) verwendet er den Bogen als Streichinstrument für esoterische Weisen (in Studioqualität), möchte jemand seine Zukunft erfahren, schießt er damit Pfeile haarscharf an dem schaukelnden Mädchen vorbei auf die bemalte Schiffswand (ein aggressives, sexuell aufgeladenes Orakel), stört ihn aber die Konkurrenz der unmoralischen Angelgäste (die es ausnahmslos auf die versonnen lächelnde Kindfrau abgesehen haben) weist er sie mit gezielten Warnschüssen in ihre Schranken. Doch selbst Rückkehrer mit Pfeilen in ihren Beinen schrecken niemanden auf dem unsichtbaren Festland davon ab, munter weiter den Kahn zu mieten.

In der realen Welt hätte der Alte seinen Broterweb verloren, doch was scherts Kim Ki-Duk und seinen poetischen Symbolismus? Freunde der Logik werden bei 'Hwal – Der Bogen' längere Durststrecken hinnehmen müssen, aber auch Mystiker und Code-Knacker werden sich unterfordert fühlen, denn die gar nicht so sehr verschlüsselte Message des Films ist gerade für diesen Regisseur ungewöhnlich straight: Einen alternden, bärbeißigen Patriarchen verlangt es nach knospender Jungfräulichkeit. Sein Begehr, das Mädchen mit Gewalt an sich zu binden, lädt kaum zur Empathie ein und obendrein ist es mädchenfeindlich. Da nützt auch die philosophische Metaebene nichts: Allzu unreflektierte Altherrenphantasien werden nicht dadurch unpeinlicher, wenn sie uns als Konflikt zwischen archaischer Tradition und modernem Werteverlust verkauft werden.

Leider scheint den Regisseur aber auch sein sonst so ausgeprägtes Gespür für seine poetische Bildsprache verlassen zu haben. Über weite Strecken erleidet das Auge den Mangel an visueller Opulenz, dafür wird das Ohr über Gebühr mit „Weltmusik“ eingelullt. Immerhin hat wohl die Kritik an der Tierquälerei in früheren Kim-Filmen den Regisseur dazu bewegt, diesmal keine Tiere exzessiv zu behelligen – mit Ausnahme eines gefesselten Hahns. Er symbolisiert den Alten, und ein Junge gibt ihm ein paar kräftige, symbolische Watschen. Das kommt von zuviel Allegorien: Am Ende trifft es immer den Falschen.

1/2 Miete

(D 2002, Regie: Marc Ottiker)

Fremdduschen
von Andreas Thomas

Sympathisch sei Peter gar nicht angelegt, sagt Regisseur Ottiker im DVD-Off-Kommentar über seine Hauptfigur – eher widersprüchlich und mit Brüchen; dadurch würde er interessant. Und dann fällt der Name, auf …

Sympathisch sei Peter gar nicht angelegt, sagt Regisseur Ottiker im DVD-Off-Kommentar über seine Hauptfigur – eher widersprüchlich und mit Brüchen; dadurch würde er interessant. Und dann fällt der Name, auf den man sich dabei bezogen habe: Antonioni z.B. habe das auch so gemacht.

„½ Miete' ist meinetwegen deswegen ein bisschen Antonioni, weil Peter (Stephan Kampwirth), der Computerhacker, wirklich ein Unsympath ist. Wenns denn sein muss. Aber sonst kein bisschen. Es geht schon mit hektischer Kamera (und hektischem Schnitt) los, die – man mag es ja schon nicht mehr schreiben, geschweige denn sehen – offenbar auf dokumentarische Authentizität aus ist und wohl meint, sie käme den Seelen des gezeigten Gruselkabinetts je näher, je näher sie an die Gesichter und Körper heranführe. Unruhe und Effekthascherei, die keinen Effekt auslassen mag, sind das Ergebnis. Beides ist unkonstruktiv, weil der Erzählfluss dadurch ständig gestört wird. Nun aber zunächst zu dem Erzählten – das Antonioni nicht mal als schlechten Scherz bezeichnen würde.

Peter ist besessen vom Hacken. In Berlin spioniert er via Computer Betriebsgeheimnisse aus, die er gewinnbringend an die Konkurrenz verkauft. Seiner paranoiden Freundin (Natascha Bub) macht das so wenig Spaß, dass sie sich in der Wanne eine Überdosis Psychopharmaka gibt. Als Peter die Wasserleiche findet, schafft er es noch, den Notarzt zu rufen, verlässt dann jedoch schleunigst mit Laptop und Skateboard unterm Arm das hübsch auf Siebziger gestylte Plattenbauappartement am Alexanderplatz.

Stylish rollt er zum Bahnhof um sich da uncool in einen ICE zu setzen und – noch uncooler – sich von der Reisebegleiterin, die ihm 100 Euro (einer dieser typischen Deutsche-Bahn-AG-Phantasiepreise) abknöpft, vorschreiben zu lassen, wo er spätestens auszusteigen habe, nämlich in Köln. Viel zu affirmativ dieser Filmheld und dieser Plot; Roadmovies jedenfalls gehen anders los. Aber wie wir sehen werden, und wie der Name ja schon verrät, ist '½ Miete' ein Wohnungs- und kein Straßenfilm. In Köln angekommen, wirkt Peter ein wenig desorientiert, was sich z.B. darin äußert, dass er in ein eher parkendes, denn fahrendes Auto hinein skatet. Das musste aber sein, denn sonst hätte der Anti-Held ja nicht die Anti-Heldin und Fahrzeughalterin getroffen. Einer der billigsten Tricks der Filmgeschichte: Sollen sich zwei kennen lernen, lasse sie kollidieren! Damit nun ist also auch das weibliche Pendant gefunden und eingeführt. Während Peter zunächst weiterhin irritiert durch die Kölner Straßen skatet, dürfen wir sie nun ein wenig in ihrem Sekretärinnen- und Karierte-Röcke-Alltag beobachten. Da die Sekretärin (Doris Schretzmayer) Ordnungs-und Sicherheitsfanatikerin ist, kann sie zwar mit einem Tischstaubsauger aber nicht mit einem Mann zusammen leben. Ihr Nachbar (der in „Sonnenallee' gefallende, hier aber leider verunglückende Alexander Beyer), bei aller (nicht nachvollziehbarer) Sympathie, ist ihr zu chaotisch und er müffelt auch ein bisschen.

Und Peter? Stellt fest, dass er aus emotionalen Gründen nicht in einer Pension wohnen kann. Gleich in der ersten Nacht wird er dort von diabolischen Erinnerungen an die Verblichene heimgesucht. Die Konsequenz: In fremde, aber bewohnte, Wohnungen muss er eindringen, parasitär, um inneren Frieden zu finden, ähnlich – und da sind wir schon beim tiefschürfend philosophischen Gesamtkonzept – wie zuvor in fremde Computer! Aha!

Und weil die Menschheit ihre Wohnungsschlüssel ja immer unter der Fußmatte oder im Sicherheitskasten versteckt, dringt er ein: In die Arbeitswohnung eines stagnierenden TV-Drehbuchautors (Kampwirth wird völlig an die Wand gespielt vom im ganzen Film allein auf weiter Flur glänzenden Thomas Kapielski (auch sonst Autor)), zum Schlafen in die Wohnhöhle eines alleinstehenden Schichtarbeiters, er benutzt die Dusche eines Türken im rosa Joggingdress, und schließlich sieht er auch – von weitem – die Sekretärin wieder. Aber ihre Wohnung benutzt er dann schon ganz selbstlos, denn eine wunderbare Wandlung ist mit Peter geschehen: Wir wissen nicht warum, aber er hat plötzlich erkannt, dass er ein schlechter Mensch war. Weil wir es sonst wahrscheinlich nicht glauben würden, sagt er es uns extra als inneren Monolog (sonst wird im Film darauf verzichtet) mitten während einer geschäftlichen Transaktion: „Wegen Typen wie uns wird irgendwann alles zugrunde gehen. Jetzt versteh ich das, und ich hab’ das so lange mitgemacht …“

Denkt es und wirft zuerst die dreckigen Daten und gleich danach den bösen Laptop in den Rhein (der Rhein ist übrigens das einzige, was in diesem Köln noch an Köln erinnert). Brüskiert den extra angereisten Geschäftspartner, indem er ihn stehen lässt, und wendet sich seiner anderen Form des Hackens zu: Ordnet die Stichwortzettel des Autors neu, damit das Drehbuch termingerecht fertig werden kann, kauft dem Malocher Schweinshaxe, damit er endlich mal satt wird, und klebt der Sekretärin lila Notizzettel in bestimmte Seiten ihrer umfangreichen Bibliothek (einschlägige Werke von Fritz Riemann und Sigmund Freud), damit sie endlich merkt, dass sie ein Zwangscharakter ist. Bei Edgar Allen Poe wird die Erzählung „Liebe auf den ersten Blick“ markiert, damit sie weiß, dass der unbekannte Einbrecher der Dieb ihres Herzens ist.

Leider merkt niemand, weder Peter noch die Sekretärin, noch der Schriftsteller, noch Regisseur und Buchautor Ottiker, dass Peter am Ende noch mehr nervt als am Anfang. Peters Wandlung ist eine Wandlung zum Schlechten. Hand aufs Herz: Wenn er vorher Industriedaten geklaut und verkauft hat, hat er damit immer auch jemand getroffen, der es irgendwie verdient hat, zumindest jemanden, der versichert war. Die Sicherheit, vor allem die innere, dieser neuen Opfer aber ist rettungslos dahin. Was haben unschuldige Privatleute falsch gemacht, dass man sich buchstäblich in ihrem Leben breitmachen darf und sich dreist in ihre inneren Angelegenheiten einmischt? Und dann auch noch so besserwisserisch?

Es ist die Psychologie von „½ Miete', die nicht funktioniert, denn niemand wird allen Ernstes sich darüber freuen, wenn seine Wohnung wiederholt von Unbekannten besucht wird. Aber die Leute im Film freuen sich und danken dafür. Weil einer solchen Konstellation jede Plausibilität fehlt, so meine Vermutung, tun sich die Darsteller auch so schwer, glaubwürdig und überzeugend ihre Rollen auszufüllen. Denn es geht einfach nicht. Industriespionage und das Schnüffeln in fremder Leut‘ Privatestem ist definitiv nicht kompatibel. Es ist bereits die Grundidee von „½ Miete', die den Film scheitern lässt.

Howl – Das Geheul

(USA 2010, Regie: Robert Epstein, Jeffrey Friedman)

Aufheulende Jugend
von Dietrich Kuhlbrodt

“Howl“, der neue Dokuspielfilm von Rob Epstein und Jeffrey Friedman („Wer war Harvey Milk?', 1984; „Paragraph 175', 2000) erinnert an das legendäre Gedicht, mit dessen Geheul Allen Ginsberg 1957 die …

“Howl“, der neue Dokuspielfilm von Rob Epstein und Jeffrey Friedman („Wer war Harvey Milk?', 1984; „Paragraph 175', 2000) erinnert an das legendäre Gedicht, mit dessen Geheul Allen Ginsberg 1957 die Beatnik-Zeit einleitete. Von Ginsberg in kleinem Kreis vorgetragen und dann in einer Miniauflage gedruckt, wurde 'Howl' sehr schnell zum allgemein interessierenden Justizfall. Ein Text mit Outing-Sätzen wie “… who let themselves be fucked in the ass by saintly motorcyclists, and screamed with joy“, – gehörte der nicht verboten?

Ja, “Howl” ist zu einem Teil ein Gerichtsfilm. Wird der Richter verbieten? Wird er die Kunstfreiheit respektieren? Spannung – in Grenzen. Bekanntlich siegte zur Blütezeit der US-amerikanischen Prüderie überraschend die Freiheit der Kunst. Und damit wurden die drei Freunde – Jack Kerouacs „On the Road“ erschien Monate später, 1959 dann „Naked Lunch“ von William S. Burroughs – die Drei also wurden zum Kult einer Bewegung, die sich bewusst sozial abgrenzte, autonom und frei sein wollte. Die Beat Generation.
Soweit die Informationen, vom Film pädagogisch korrekt vermittelt.

Auf einer anderen Schiene versucht der Film den Geist, das Gefühl und die Haltung dieser aufheulenden Jugend zu vermitteln. Zwar ein historischer Vorgang, wenn in einem fiktiven Rückblick alte Herren dieser Zeit gedenken, jaja – ein eher peinlicher Vorgang, wenn in einer Wiederbelebung (reenactment) die Zeit von 1957 nachgespielt wird. Interessanter, wenn auf einer weiteren Schiene Animationen durchs Bild laufen, basierend auf Illustrationen des Ginsberg-Mitarbeiters Eric Drooker. Im Ergebnis aber ziehen die Montage und der Schnitt, die eigene Sprache von Epstein und Friedman, in den Bann, und nach einigem Anlauf lässt man sich auf den Filmrhythmus ein, der der „Sprache“ des Bebop folgt (der musikalisch die Führung übernimmt).

Das Geheul-Gedicht rezitiert im Film James Franco für den jungen Ginsberg. 30 Jahre war der damals alt – und der Anti-Traum Amerikas: Sohn einer aktiven Kommunistin, ein jüdischer homosexueller Kosmopolit, der sich vernehmbar machte. Der Traum der hebräisch-sozialistischen Revolution ist nicht vergessen. Wer singt die Internationale gegen den Nationalfaschismus?
Okay, Ginsberg hat mit „Howl“ eine Bewegung angestoßen. Die Verständigung lief aber eher über Leidenschaft und Wortgestus als über Argumentation. Verbunden waren die Beatniks durch gemeinsame Anschauung, körpersprachlich und poetisch vermittelt, und im Ergebnis gelingt auch das poetische Experiment dieses Films.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2011

Eine weitere Kritik finden Sie unter diesem Link.

In the Bedroom

(USA 2001, Regie: Todd Field)

Prekärer Plot
von Andreas Thomas

Der junge Frank Fowler wird erschossen. Ein Eifersuchtsdelikt. Weil die Eltern des Täters reich genug sind, werden statt „Mord“ „Totschlag“, statt „Lebenslänglich“ „höchstens 5 Jahre“ ausgehandelt und die Untersuchungshaft gegen …

Der junge Frank Fowler wird erschossen. Ein Eifersuchtsdelikt. Weil die Eltern des Täters reich genug sind, werden statt „Mord“ „Totschlag“, statt „Lebenslänglich“ „höchstens 5 Jahre“ ausgehandelt und die Untersuchungshaft gegen Kaution ausgesetzt. Der Delinquent ist bis zum Beginn der Verhandlung auf freiem Fuß. Und das kann noch ein Jahr dauern. Selbst wenn Ruth und Matt Fowler, die Eltern des Opfers, die Stadt wechseln würden, könnten sie diese Situation nicht ertragen. Aber nun muss Ruth den Mörder ihres Sohnes sogar täglich beim Einkaufen sehen. Kaum jemand im Bekanntenkreis, der ihre Verzweiflung nicht versteht. Wo die Justiz versagt, muss der Einzelne das Recht selbst in die Hand nehmen, und so greift Vater Matt zur Pistole, Richard Strout zu bestrafen. Die Ordnung ist wieder hergestellt…

Auf den ersten Blick ist dieser Plot etwas für kleine Charles Bronsons, für Leute, die sich noch trauen, die Welt – ohne liberales WischiWaschi – in Gut und Böse, in richtig und falsch einzuteilen. Nur wird voraussichtlich keiner dieser letzten Gerechten länger als die Hälfte von „In the Bedroom“ durchhalten, entweder, weil er sich – durch den Titel irregeführt – in einem „Erotikfilm“ wähnte, oder weil er sich schnell langweilt, denn der Film lässt sich immens viel Zeit, sorgfältig seine actionfreien, alltäglichen Handlungsfäden zu spinnen.

So unspektakulär wie sein Schauplatz, ein neuenglisches Fischerstädtchen im US-Staat Maine, ist seine Erzählweise. Ein aufmerksames Publikum ist gefordert, eines das genau verfolgt und hinterfragt, das sich nicht mit vordergründigen Attraktionen oder Gemeinplätzen abspeisen lässt. Die Kamera nähert sich respektvoll, fast diskret den genau gezeichneten Angehörigen einer gutbürgerlichen Mittelschicht,- so genau, dass deren Leben bis in kleinste Verästelungen einem wahren Leben gleicht. Die Grillfeste, der Hummerfang, die Herrenpokerrunde, der Mädchenchor unter der Leitung der Mutter, der Vater, ein praktischer Arzt, der einzige Sohn kurz vor dem Studium der Architektur, und seine nicht ganz standesgemäße aktuelle Freundin Natalie, eine Verkäuferin, etwas älter als er und Mutter zweier Kinder. „Sie ist nur so ein Sommerding“, sagt Sonnyboy Frank beschwichtigend zur argwöhnischen Mutter, aber wir sehen, dass sie mehr für ihn ist.

Vielleicht die größte Stärke des Films: Was seine Protagonisten auch sagen, ihr Verhalten, ihre Gesten verraten ihre Wahrheiten, oft nur angedeutet, immer unterschwellig, nie plakativ. Wir sollen genau hingucken.

Die Bedrohung durch Strout, Natalies Ehemann, der sich nicht mit der Trennung von Frau und Kindern abfinden kann, schleicht sich unauffällig in das geregelte Leben der Fowlers. Langsam wird Strout zu einem Problem, das man gerne verdrängt. Der Film tut es den Fowlers gleich und stellt ihn so lange nicht in den Mittelpunkt, bis er das Schreckliche getan hat und Frank mit zerschossenem Gesicht am Boden liegt.

Nie setzt der Film auf dramatische Effekte. Wir sehen nicht die Tat, wir hören nur die Schüsse. Wir sehen auch nicht, wie der Vater der Mutter die Todesnachricht überbringt. Wir sehen ihn nur vorher in der Tür, und sie noch in ihre Arbeit vertieft. Vor ihm das Unerträgliche. Und statt des Voyeurismus im entscheidenden Moment: die diskrete Schwarzblende.

Wenn ein paar Tage später die Arzthelferin den über Unterlagen gebeugten Matt fragt: „Ist alles in Ordnung?“ und er antwortet: „Ja, natürlich.“ dann weiss die Kamera/der Zuschauer, wie schlimm es um ihn steht.

Auch Ruth, die vorher betont freundliche Mutter, hat sich verändert. Kettenrauchend, verschlossen sitzt sie nur noch vor dem Fernseher, ihrem Mann unerreichbar. Der Tod des Sohnes reißt ein Loch in die Ehe und ist nicht kommunizierbar. Eine gemeinsame Trauer ist nicht praktikabel, weil unausgesprochene Vorwürfe zu fatalen Schuldzuweisungen angewachsen sind.

Der Druck steigt, und ein aufbrechender Streit – der einzige Moment, in dem punktuell artikuliert wird, was latent schwelt, – bringt dem Paar statt einer Klärung nur erschreckende Einblicke in alte, festgefahrene Ressentiments, die in einer geordneten, gutbürgerlichen Ehe eben nicht thematisiert werden. Unmöglich, das alles hier und jetzt aufzuarbeiten. Und so entschuldigt sich Matt dafür, dass er Ruth Gefühllosigkeit vorgeworfen hat. Er will sie nicht verlieren, und sie will nicht mehr dem Mörder ihres Sohnes begegnen. Draußen ist der Feind.

Mit einer meisterlichen, an Bergman oder Cassavetes erinnernden Präzision und Komplexität sind die Fowlers gezeichnet. Das ist auch Tom Wilkinson und Sissy Spacek zu verdanken, aber nicht denkbar ohne die souveräne und genaue Arbeit des Regieerstlings und bisher Nur-Schauspielers Todd Field (bekannt als Pianist in „Eyes Wide Shut“). Unaufdringlich aber deutlich zeigt der Film neben der „offiziellen“ immer auch die innere, psychische Beschaffenheit. Selbst Nebenfiguren sind frei von Klischees, wirken wie real existierende Personen, auch wenn sie nur kurz die Geschichte streifen.

Mit einer Ausnahme. So überzeugend Richard Strout, der Täter und Nochehemann von Natalie durch William Mapother verkörpert wird: Als einziger bleibt jener, der das Unheil bringt, und der es am Ende wieder auf sich zieht, eindimensional. Strout ist zu Beginn krankhaft eifersüchtig, rücksichtslos egozentrisch, und er ist es am Schluss. Das Grinsen in seinem unschönen Gesicht ist die einzige Maske, hinter die uns kein Blick gewährt wird. Und weil er sich offenbar nicht ändert, nichts bereut (wann könnte er auch, wenn er bis zu seiner Exekution annähernd von der Leinwand verschwunden ist?), er, im Gegenteil, mit seiner latenten Brutalität – kaum freigelassen – schon wieder eine andere Frau belästigt, empfinden wir eine klammheimliche Genugtuung angesichts Matt Fowlers Akt der Selbstjustiz. Unter vorgehaltener Pistole versucht Strout devot seine Tat zu rechtfertigen: „Ihr Sohn hat schliesslich meine Frau gefickt, Dr. Fowler“. Irgendwie kann man verstehen, wenn Fowler außerplanmässig zu früh abdrückt, und sagt: „Ich konnte einfach nicht länger warten!“

Wir sehen: Ein empfindsamer Mensch wie Matt Fowler ist durch seine Tat für immer gezeichnet, sein Leben womöglich zerstört. Das schwer Ertragbare aber ist, dass wir am Ende mit ihm mehr Mitleid haben (müssen), als mit seinem Opfer. Und dass es keinen Augenblick gibt, in welchem Strout als Mensch gezeigt wird, der das gleiche Recht zu leben hat, wie der von ihm Erschossene. Der Film zeigt: Die Fowlers haben sicherlich keinen legitimen Anspruch auf ihre verzweifelte Rache, aber nachvollziehbar ist sie doch zu sehr. Um diese Nachvollziehbarkeit zu erreichen, wendet der Film eine ungeheure Sensibilität auf, die er der anderen Seite, der Person Strout, vorenthält.

Hier beginnt der Film unangenehm zu wirken. Wer behauptet, die gelungensten Erzählungen, seien sie auf Papier oder Zelluloid, wären frei von der Absicht moralischer Aussagen, der irrt. Selbst die Verkünder des Nihilismus sind Moralisten, selbst die distanziertesten Beobachter diffizilster Verhältnisse wollen uns etwas zeigen, weil sie aufklären wollen, weil sie meinen, uns wichtige Wahrheiten vermitteln zu können, über die Gesellschaft und das Individuum. Stets ist der gewählte Ausschnitt, mag er noch so wahrhaftig sein, immer auch ein Standpunkt, ein Urteil, weil er zwangsläufig einen anderen Ausschnitt eliminieren muss. Wenn aber ein Stoff von Schuld und Schuldzuweisung, Sühne und Bestrafung handelt, sollte sein maßgebliches Kriterium Ausgewogenheit sein. Die aber liefert der Film explizit nicht. Die Beantwortung der Frage, ob es die literarische Vorlage „The Killings“ von Andre Dubus tut, sei der Literatur-Kritik überlassen.

So gelungen sich der Film auch um die Freiheit von Klischees bemüht, gerade der zentralen Figur wird sie zu wenig gewährt – und das ist mehr als ein Faux-Pas. Es ist tendenziös. Einem Cassavetes, einem Bergman wäre eben das nicht passiert.

„In the Bedroom“ rechtfertigt keine Selbstjustiz, aber er macht sie emotional nachvollziehbar. Das allein wäre kein Fehler. Doch wenn Field das Bild eines gewissenlosen Mörders unwiderlegt lässt, und das komplexe Portrait eines sensiblen und deshalb „guten“ Mörders dagegen stellt, wird’s bedenklich. So wird der Film nämlich zu einer Rehabilitierung des richtenden Bürgers mit Herz, dem – wie wir sehen – die Vollstreckung nicht zumutbar ist, und deshalb vielleicht sogar zu einer sehr subtilen Befürwortung des Mordes, der „Todesstrafe“ genannt wird.

Gerade wegen seiner Subtilität aber ist „In the Bedroom“ eine Seltenheit im zeitgenössischen Film, eine Gratwanderung auf allerhöchstem Niveau, mit der Option zum Absturz ins Reaktionäre. Gleichwohl mag mancher Unbestechliche die Balance halten können, und wer sich nicht zu vorschnellen Urteilen hin(ab)reissen lässt, wird in „In the Bedroom“ trotz seiner Interpretierbarkeit ein Werk von höchster Qualität erkennen. Ist nicht doch der von seiner Rache zurückgekehrte, verstummte Vater Fowler das überzeugendste Argument gegen das schlechthinnige Töten, das wir seit langem im Kino gesehen haben? Wenn es einen Film gibt, über den man nicht aufhören kann, zu diskutieren und zu grübeln, dann dieser. Das ist es, – in jedem Fall – wie Kino sein sollte.

Als prämiierter Independent-Film angetreten, war „In the Bedroom“ mehrfach für den Oscar nominiert, erhalten hat er keinen. Vielleicht aber ist in jener besonderen Aufmerksamkeit, die seinem prekären Stoff zuteil wurde, ein Widerhall hörbar,- nicht nur einer US-amerikanischen Stimmungslage, auch einer US–Außenpolitik nach dem 11. September 2001.

Independence Day

(USA 1995, Regie: Roland Emmerich)

'Alle abknallen – alle!'
von Dietrich Kuhlbrodt

Gell, jetzt staunen auch die Amerikaner, wie sparsam Schwaben wirtschaften können. Emmerichs US-patriotischer Trick- und Effekte-Film kam mit einem Drittel der dort sonst üblichen Produktionskosten aus. Da funkelten & glänzten …

Gell, jetzt staunen auch die Amerikaner, wie sparsam Schwaben wirtschaften können. Emmerichs US-patriotischer Trick- und Effekte-Film kam mit einem Drittel der dort sonst üblichen Produktionskosten aus. Da funkelten & glänzten die Augen der Betriebswirte und Filmmanager. Emmerich avancierte zum Star des Film-Business und verbuchte gleich vier neue Aufträge für preisgünstige Filmgroßproduktionen. Geschmeichelt meldeten die deutschen Nachrichtenmagazine nationales Interesse an der Weltgeltung an, die deutscher Geschäftstüchtigkeit nun zukomme. Diese Berichte fügten sich wunderbar in die Mega-Werbekampagne ein, die zum Konsum des Filmwerks animieren soll. Ein Drittel der Produktionskosten geht bekanntlich in die Publizität. Anders ausgedrückt: Wir werden in das Patriotenwerk hineingeprügelt. Emmerich ist kein US-Patriot, aber er huldigt mit seinem Film zum amerikanischen Nationalfeiertag allen Vaterlandsgläubigen, die in erhebenden Momenten die Hand aufs Herz legen, und das bis zum Gehtnichtmehr. Bei uns aber, bei den Aliens, dürfte der patriotische Schmarren zum Abkotzen einladen. Vergessen wir nicht, dass im amerikanischen Sprachgebrauch Aliens in erster Linie und ganz normal Ausländer sind, Andersartige, Fremde, eben Unamerikaner. Die deutsche Synchronisation macht es wie immer falsch, wenn sie das Wort 'alien' nicht übersetzt. Denn für die braven amerikanischen Bürgerkinder ist es natürlich kein Fremdwort, wenn sie patriotisch korrekt spielen: 'Daddy, ich erschieß Ausländer!' Entschlösse sich die Synchronisation zur Übersetzung, würde es auch plausibler, warum Emmerich dem amerikanischen Volk aus dem Herzen spricht, wenn er auf dem Höhepunkt seines Werks – es ist der siegreiche Atomschlag – seinen Helden hetzen lässt (ungeschönte Übersetzung): 'Ihr Ausländer-Arschlöcher!' Was soll der Zuschauer von diesem Fremdenhasser halten? Das Drehbuch (Emmerich) rät: 'Du kannst stolz auf ihn sein!' Damit ist auch schon die Handlung erzählt. Sie ist einfältig. Ausländer im Anmarsch. Eine Katastrophe! Der Präsident, gespielt vom unfähigsten Schauspieler Hollywoods, spricht zur Nation: 'Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!' Unvermittelt besinnt er sich auf seine Kenntnisse als Kampfflieger im Vietnamkrieg, und ebenso unvermittelt kippt der Katastrophenfilm um in eine Militärklamotte. Selten so gelacht, Kamerad! Der Atomschlag geht in ein wunderschönes Feuerwerk über, das den Abend des Nationalfeiertags krönt. Alle erheben sich von den Sitzen und applaudieren. Die Welt ist gerettet, und uns wird gesagt, dass die ganze Welt, Irak inklusive, fortan den Independence Day feiern wird.

Der neue Kaiser von Amerika, dem gehuldigt wird, ist selbstredend Emmerich selbst, jedenfalls soweit es die Filmwirtschaft angeht. Das Drehbuch, das er zu diesem Behufe verfasst hat, gibt jeder Dumpfbacke recht. Es zahlt sich eben nicht aus, wenn die USA 1969 auf dem Mond verkünden: 'We came in Peace'. Alles Gefühlsduselei. Denn das Fremde, das die Erde besucht, kommt aus dem Reich des Bösen. Bloß das langmähnige Studentenpack sieht das anders. Emmerich schickt dies verblendete und abgedrehte Volk hoch auf das Dach der Wolkenkratzer, obwohl doch der unfähige Präsident das Aufsuchen der Schutzräume angeordnet hatte. Woodstockbunt, verzückt, unpatriotisch, landesverräterisch halten die Studis den anreisenden Ausländischen Transparente entgegen, auf denen sinngemäß so etwas steht wie 'Bitte nehmt uns mit nach drüben!'

In Emmerichs Film sind sie wieder da, die Bilder von den Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen auf dem Campus. Wer sich damals gewünscht hatte: 'Alle abknallen – alle!', der kommt, freilich sehr verspätet, in 'Independence Day' voll auf seine Kosten. Denn die Sympathisanten der fremden Macht werden umgelegt, alle, und zwar von den Bösen, die aus der Fremde kamen. Klammheimlicher kann die Freude an der Bestrafungsaktion gar nicht sein. Recht so! Das war längst fällig! Ist es nicht so, dass Südkorea völlig recht hatte, vor ein paar Wochen den Studenten, die für die Einigung mit dem doch völlig fremdartigen Nordkorea demonstrierten, mit Waffengewalt mores zu lehren? 'Aus dem Weg! Feuer frei!', das ist der kernige Befehlston des Filmdialogs. Wer sinniert, ist völlig unfähig. Der amerikanische Präsident: 'Im Golfkrieg wussten wir, was wir zu tun hatten. Heute ist es nicht mehr so einfach. Helfe uns Gott!' Natürlich ist das eine Clinton-Karikatur. Der Film ist in seinem katastrophalen ersten Teil eindeutig erzrepublikanisch. 'Wir wollten einen Helden und bekamen einen Feigling', murrt es drohend auf der Dialogliste. Zu retten ist der Clinton-Klon erst, nachdem dieser im Klamottenteil des Films zu einer Reinkarnation von Jagdflieger Moelders mutiert. Den Schlips gelockert, den Steuerknüppel in der Hand – wenn nicht Gott, so hilft doch das Militär in Not und Gefahr. Viel Glück, Kamerad, und sagt meinen Kindern, dass ich sie sehr sehr lieb habe. Ab in den Tod für Volk & Vaterland. – Das Filmbild füllt sich bis zum Bersten mit Uniformen-mit-ganz-viel-Orden-dran. In 'Independence Day' hat das Militär die Macht ergriffen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/1996

Manche mögen’s heiß

(USA 1959, Regie: Billy Wilder)

Geile Rentner
von Dietrich Kuhlbrodt

'Nobody is perfect' und dazu dieses fette Lachen aus dem Unterleib heraus: Der finale Spruch in 'Manche mögen’s heiß' ist längst Kult. Hatte Tony Curtis, voll im Fummel, sich nicht …

'Nobody is perfect' und dazu dieses fette Lachen aus dem Unterleib heraus: Der finale Spruch in 'Manche mögen’s heiß' ist längst Kult. Hatte Tony Curtis, voll im Fummel, sich nicht einen Satz vorher geoutet: 'Ich bin keine Frau'? – Während wir jahrzehntelang von Vollakademikern auf die Suche nach unserer Identität geschickt worden waren, hatte Billy Wilder schon 1959 den hilfreichen und sogar überlebenswichtigen Ratschlag gegeben, die passende Identität nicht zu finden, sondern zu erfinden, am besten gleich mehrere davon. Das ist eine Fertigkeit, die Spaß macht, aber auch pure Notwendigkeit, wenn man den anderen, von denen man abhängt, gefallen möchte oder sonst fremde Projektionen bedient. Jack Lemmon hat dann dieses servile Lächeln auf den Lippen, wenn er grade in das Massaker vom Valentinstag reingerät. Überhaupt liegt unter der perfekten Komödie von 'Manche mögen’s heiß' ein tieftrauriger Untergrund. Keine Arbeit, kein Zuhause, kein Geld, im Schneetreiben der Wintermantel verzockt, Kriminalität auf den Straßen, Marilyn Monroe eine Alkoholikerin, Florida voll von geilen Rentnern. Wer überleben will, muß kunstfertig sein und die Lüge wahrhaftig machen, statt am miesen Leben zu leiden. Keiner, der nicht kuriert, wenn auch eventuell kaputtgelacht aus dem Kino rausgeht. Prima, dass der Film dort jetzt nach vierzig Jahren wieder anläuft.

Das ist meine Chance, hier zu revidieren, wie wir damals in unserer unkonformistischen Zeitschrift 'Filmkritik' 'Manche mögen’s heiß' verrissen haben. Was ich heute für die Stärken des Films halte, waren damals in der Kritik von Ulrich Gregor die Schwächen: 'die Neigung zur Künstlichkeit, zur Klischeehaftigkeit; die unverbindliche Situationskomik'. Kein guter Film, nein, allenfalls ein Punkt: 'annehmbar'. In den Standardwerken der sechziger Jahre (Geschichte des Films und Geschichte des modernen Films) werfen Gregor und Patalas Wilder darüber hinaus eine 'konsequent zynische Perspektive' basierend auf einer 'denkbar pessimistischen Prämisse' vor; auch knüpfe er nicht an das deutsche Melodram an.

Heute ist auch die FSK gefordert. Damals hatte sie den Film für Besucher unter 18 Jahren verboten, auch durfte 'Manche mögen’s heiß' niemals an Feiertagen gezeigt werden. Der katholische Filmdienst hatte 'manche Derbheiten' entdeckt. Aber schon in den siebziger Jahren wurde konzediert, dass der Film ein kommerzieller Erfolg geworden war – trotz 'Marilyn Monroe mit ihrem undisziplinierten Verhalten' (Rororo Filmlexikon). Billy Wilder ist tot. In seinen Filmen ist er präsent. Ob’s stimmt oder nicht, man glaubt ihnen die Details, autobiographische Unikate.

Ich war 27, Jurastudent, und streng drauf, wie es bei überzeugten Studis noch heute der Fall ist. In meiner 'Manche mögen’s heiß'-Bewertung schwang ich mich damals zu zwei Punkten auf und nicht zu einem 'überragend'. – Es ist Zeit, Abbitte zu tun. Der Dünkel des Studierenden über einen wie Billy Wilder, der Mensch war und arbeitete. Wilder, der sein Wiener Jurastudium gleich nach dem ersten Semester abgebrochen hatte, arbeitete in Wien als Reporter. Aus seiner Interviewtechnik sollte er den berühmten Dialogstil entwickeln: Nichts wird behauptet, alles wird aufs Detail genau beschrieben. 1926, zwanzig Jahre alt, kam er als Medienberater der Paul-Whiteman-Band nach Berlin und wurde hier genau. Das geht am besten autobiographisch. Über seine Arbeit als Eintänzer respektive Gigolo im Hotel Eden schrieb er in der 'B.Z. am Mittag' die legendäre Serie 'Herr Ober, bitte einen Tänzer'. Und er schrieb Drehbücher. In der DDR-Standard-Filmgeschichte der frühen sechziger Jahre kritisierte Horst Knietzsch 'Menschen am Sonntag' von 1930 als 'sehr unverbindlich – sonntägliche Liebesromanzen von Angestellten – , … doch vermittelt er einen kleinen Einblick in die geistige Leere des deutschen Kleinbürgers'. Richtig, es fehlt die Ursachenforschung; Wilders Einblicke mögen gar zynisch sein. In zwei Sätzen entlarvt er einen schleimigen US-Urmythos als Völkermord. Einen Tag nach dem Reichstagsbrand flieht er vor den Nazis. Der erste Film, den er in den Staaten inszeniert, beginnt mit folgenden Worten: 'Im Jahre 1726 kauften die Holländer den Indianern Manhattan ab. Im Mai 1941 war kein Indianer mehr da, der das bedauerte' ('Der Major und das Mädchen', 1941).

Wilder war mit 'Manche mögen’s heiß', seinem größten Erfolg, ganz oben. Die US-Filmwirtschaft hofierte ihn. Wir wollen in diesem Moment daran erinnern, wie er persönlich, 1945, ganz unten war. In Deutschland. Wilder war als Colonel der US Army hierher gekommen. In den KZs waren seine Verwandten umgebracht worden. Jetzt leitete er den Schnitt der KZ-Dokumentation 'Die Todesmühlen' (1945). Leichenberge zu montieren – wie schlägt sich das in den Filmen nieder, die er in den folgenden Jahren drehte? 'Eine auswärtige Affäre' (1948) ist erstens ein Berlinfilm, zweitens ein Trümmerfilm, drittens eine Satire und viertens eine Hommage an deutsche Überlebenskunst. Noch 1961 ist Berlin in 'Eins, zwei, drei' eine Stadt der Läuterung, jedenfalls für den amerikanischen Besucher und jedenfalls nachdem Horst Buchholz (Otto Ludwig Piffl) sich in einen tüchtigen Businessman verwandelt hat. Man kann das auch anders ausdrücken und sagen, dass Horst Buchholz käuflich ist. Das ist korrekt. Solche Art Prostitution ist Thema von Wilder-Filmen wie 'Boulevard der Dämmerung' (1950). Die abgetakelte Stummfilmdiva Gloria Swanson kauft sich einen knackigen Hollywood-Drehbuchschreiber (William Holden). Logisch, dass das Geschäft blüht. Denn für Wilder dominiert beim Filmemachen das Drehbuch. Ästhetische und technische Raffinessen verabscheut er: 'Die große Technik ist, wenn man die Technik vergisst. Herr Rubinstein spielt Chopin so wunderbar, weil wir nichts von Technik bemerken, wir hören nur Chopin. Wenn aber jemand sagt: Mein Gott, schau dir das an, diese Einstellung! Ist das nicht großartig? Dann ist das schon schlecht, weil er realisiert hat, dass es da ein Team gab, Technik, und dass da kalkuliert wurde. Einfachheit kann nicht übertroffen werden.'

Wen also hasst Wilder als Regiekollegen am meisten? Jean-Luc Godard, den 'Fälscher', notorisches Opfer seiner bösesten Witze. Wilder wünscht sich den aktiven Zuschauer, einen, 'der die Handlung immer mit den Augen eines der Charaktere sieht'. Ein solcher Kinobesucher lässt sich nicht die Ohren volldröhnen mit vorgeblich objektiven Gewissheiten, mit vorgeblich unwiderleglichem Zahlenmaterial, er merkt von selbst, dass er manipuliert werden soll, er nimmt den belehrenden Off-Kommentar als Parodie. Wilder also ist das genaue Gegenteil unserer TV-Ideologie, die den Dümmsten wie den Klügsten belehrt, was er zu diesem oder jenem zu denken hat. Ohne pädagogisierenden Moderator oder mahnende Off-Stimme läuft in der Glotze bekanntlich nichts. Aber bei Wilder, so sagt er selbst und das mit Recht, 'schreiben die Zuschauer den Film selbst zu Ende'.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2002

Scream 3

(USA 2000, Regie: Wes Craven)

Partyschreckartikel
von Dietrich Kuhlbrodt

Wes Cravens „Scream“-Filme 1 + 2 sind inzwischen Medienwirklichkeit geworden; die kurvige Killermaske geisterte als Partyschreckartikel durch den Alltag der Slasher-Genre-Generation; Merchandising und serielle Produktion waren die Basis für die …

Wes Cravens „Scream“-Filme 1 + 2 sind inzwischen Medienwirklichkeit geworden; die kurvige Killermaske geisterte als Partyschreckartikel durch den Alltag der Slasher-Genre-Generation; Merchandising und serielle Produktion waren die Basis für die solide „Scream“-Film-Produktion gewesen. Welch schöner Einfall nun, die Produktion selbst zum Gegenstand eines Films zu machen („Scream 3“). Wir sind in einem Hollywood-Studio und sehen Dreharbeiten zu einem Film, der sich mit den „Scream“-Greueltaten befasst, die immer noch im Provinznest Woodsboro lähmendes Entsetzen verbreiten. Titel des Film-im-Film: „Stab 3: Return to Woodsboro“. Was im Tempel der Fiktion inszeniert wird, hebt die seriellen Morde in Teil 1 und 2 nachträglich in den Rang des Dokumentarischen. Das geht so: Sidney Prescott und die Darsteller von 1 und 2 werden in Teil 3 zu Dargestellten. Die einen spielen, die anderen werden gespielt. Da schauen sie einander an, und der Blick geht stumm herum, während in einer Gegenbewegung der „Scream“-Killer wie ein Virus ins Programm der Dreharbeiten schlüpft. Aufgepasst, wenn dann der finale Schnitt erbeten wird: Der Final cut ist scharf.

Vom stab, dem großen Messer, liegt gleich eine Serie auf den Tischen der Requisite, und das Masken-Kostüm hängt auf Kleiderständern wie in der Kaufhauskonfektion. Freilich schreien wir vorher auf, weil die Erkenntnis wie immer zu spät kommt. „Scream 3“ treibt seinen Spott mit dem Publikum der „Scream“-Filme, und es verarscht das ganze Genre – mit Bedacht. Denn albern wird es dann doch nicht. Es ist etwas dran, wenn das Killen Sinn macht; es geht um Fassaden und Karrieren und das Kosten/Nutzen-Verhältnis. Wer im Woodsboro-Haus hinten eine Tür öffnet und im Studio ins Leere fällt, hat sich im Realitäts-Level vertan. Und dass die grauenhaft ermordete „Scream“-Mutter in Teil 3 wiederkehrt, ist unbewältigter Vergangenheit geschuldet. Wie war das noch mit dem Porn acting? Aus Geldnot? Hatte Wes Craven selbst nicht seine Regielaufbahn mit einem Pornofilm angebahnt („Together“), um Kohle für Freddy Krueger, seinen populären Kinderschreck, zu haben („A Nightmare On Elm Street“)?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2000

Star Trek – Der erste Kontakt

(USA 1996, Regie: Jonathan Frakes)

Wir haben es seit 30 Jahren gewusst!
von Dietrich Kuhlbrodt

In Großaufnahme die Pupille des Enterprise-Kommandanten Jean-Luc Picard (Patrick Stewart) und dann 50 Meter Fahrt retour, dabei den Zoom bis zum Anschlag zurückgedreht: Trotzdem reicht die Totale nicht, alle 25 …

In Großaufnahme die Pupille des Enterprise-Kommandanten Jean-Luc Picard (Patrick Stewart) und dann 50 Meter Fahrt retour, dabei den Zoom bis zum Anschlag zurückgedreht: Trotzdem reicht die Totale nicht, alle 25 Decks des Raumschiffs zu zeigen. Immerhin ist es bekanntlich 300 Meter lang. Das Kommandanten-Auge ist nicht mehr auszumachen. Doch wir wissen (und wir haben es seit 30 Jahren gewusst), dass das Technikmonstrum eine menschliche Seele hat – die Autorität eines fürsorgenden Vaters. Dem wir vertrauen dürfen. Patrick Stewart, der große Shakespearemime, ruft jetzt, im achten Star-Trek-Film, die Jugend der Welt, nämlich alle Trekkies, zu folgendem auf: Leistet Widerstand! Nämlich denen, die euch einreden, Widerstand sei

a) zwecklos (und zwar gegen die Borg, Feinde der Menschheit, halb Mensch, halb Maschine, zum Fürchten), und

b) verboten (und das sind jetzt die eigenen Vorgesetzten des Starfleet Command, des Hauptquartiers der Sternenflotte).

Auf der Kommandobrücke der Enterprise E stimmt die Mannschaft ab und beschließt einstimmig: Gegenangriff nach draußen, Befehlsverweigerung nach innen. – Verantwortung übernehmen, wenn schon nicht zum Wohle der ganzen Menschheit, dann doch zum Wohle geplagter Minderheiten: Das ist die Botschaft, die die unterschiedlichsten US-Filme eint. Wir dürfen nicht vergessen, dass Patrick Stewart den alt-neuen Werten, die er seit zehn Jahren als Enterprise-Kommandant pflegt, fast wortgleich, aber mit dem Gewicht seiner 'Star Trek'-Autorität, in der Schwulen-Tragikomödie 'Jeffrey' (1996) zur Geltung verhilft. In einer Aids-Love-Story. Der Star-Trek-Virus ('Der erste Kontakt') steckt jetzt mittlerweile überall, wollte ich damit sagen. Und das ist gut so. Insbesondere, da nach dreißig Jahren 'Star Trek'-Serien und zehn Jahre seit Beginn der Comeback-Serie 'Star Trek: Die nächste Generation' mit den new ethics wünschenswerte Korrekturen am Feindbild vorgenommen worden sind.

Der Feind, das war die Mensch/Maschinenrasse, die nur im Kollektiv denken und handeln kann, aber neuerdings leidet sie darunter; drum hatte sie sich dankbar humane Bio-Masse inkl. Cpt. Picard einverleibt. Und der, jetzt wieder im Amt, kann dies sehr wohl nachfühlen. Ein Mindestmaß an Verständnis für die Bedauernswerten, die das brauchen: sich Individualität einzuverleiben. Neu! ambivalent! ist auch die Königin der Borg – eine attraktiv-verführerische Fantasy-Kreation (Alice Krige), deren Reizen zu erliegen nicht nur dem emotionschipgesteuerten Lieutenant Commander Data (Brent Spiner) ein Genuss ist.

Die Entscheidungen sind schwieriger geworden. Die Menschheit dürstet nach Ein-, Weit- und Aussicht – sie 'denkt so eng, so dreidimensional' (Filmdialog). Die Enterprise E, inzwischen ein energiesparendes und ein wenig verkleinertes Modell, muss eine unvermutete Zeitspalte nutzen, um unter vollem Einsatz des warp drives vom 24. zurück ins hilfebedürftige 21. Jahrhundert zu gelangen (Neu! Zeitsprung!). Am 4. April 2063 geht es für das Universum ganz entscheidend darum, dem Alki und Erfinder Zefram Cochrane (James Cromwell) zum Glauben an die Zukunft zu verhelfen. Und das bedeutet nichts anderes als zum Glauben an den technischen Fortschritt: die überlebenswichtige Raketentechnologie. Wie wird er sich entscheiden? Wagt er den Entzug? – Wir müssen in diesem hypermoralischen Zukunftsfilm mitzittern.

Den Star-Trek-Optimismus, den unerschütterlichen Glauben an die Verbesserung der Zivilisation und den Sieg der humanen Werte – dieses Weltbild haben sich mit dem Star-Trek-Universum angeblich mehr als 40 Prozent aller US-Amerikaner einverleibt, plus TV-Konsumenten in hundert Ländern. Voll Siegeszuversicht investieren die Star-Trek-Kapitalisten in unerschütterlichem Glauben an die Zukunft der Star-Trek-Botschaften in das 'Star Trek: The Experience'-Projekt in Las Vegas. Ab Frühjahr 1997 werden dort im Enterprise-Vergnügungspark Fahrten durch das Star-Trek-Universum simuliert. Von der Brücke der Enterprise, und jeder kann mitmachen. Wenn heute schon zehn Millionen Menschen pro Jahr die Star-Trek-Ausstellung im Smithsonian Air and Space Museum in Washington besuchen, dann darf man sicher sein: Spätestens am 4. April 2063 wird der Star-Trek-Borg noch die letzte menschliche Individualität assimiliert haben. Dann herrscht auf Erden endgültig das Star-Trek-Kollektiv.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/1997

Plein Sud – Auf dem Weg nach Süden

(F 2009, Regie: Sébastien Lifshitz)

Körperkult und Westernstimmung
von Sven Jachmann

Die Gegenwart bedeutet Stillstand, den Sam (Yannick Renier) durchbrechen will. Drum begibt er sich auf eine Mission: seine Mutter (Nicole Garcia) töten. Der Film ist ein Roadmovie. Von Frankreich bis …

Die Gegenwart bedeutet Stillstand, den Sam (Yannick Renier) durchbrechen will. Drum begibt er sich auf eine Mission: seine Mutter (Nicole Garcia) töten. Der Film ist ein Roadmovie. Von Frankreich bis in eine spanische Kleinstadt muss die Reise gehen. Dort hat sich die Mutter nach einem Nervenzusammenbruch niedergelassen, weil sich ihr Mann vor 20 Jahren mitten während eines Streits im Auto erschoss. Deswegen kamen Sam und sein Bruder in Pflegefamilien. Das Trauma hat ihn verhärtet, innerlich wie äußerlich. Aber das gilt für sämtliche Figuren der Erzählung.

Sam hat das Geschwisterpaar Léa (Léa Seydoux) und Mathieu (Théo Frilet) per Anhalter mitgenommen. Beide sind scharf auf den unnahbaren, einsamen Wolf. Es gibt nicht viel zu sagen, und das ändert sich auch nicht, nachdem Léa in einem Kaufhaus den prolligen wie feurigen Jeremie (Pierre Perrier) aufgegabelt hat, der das Quartett im Auto komplettiert. Der innere Stillstand bleibt, gegenseitige Ignoranz ist das Bindeglied der versprengten Existenzen. Sozialrealismus will das aber nicht sein. Auch kein Update desillusionierter Befindlichkeit im Adoleszenzwahn. Die Kamera ist zwar nah dran an den Akteuren, ihren Gesichtern und Körpern, besonders wenn sie mit den Augen Mathieus schaut, der jede Handlung mit seiner Videokamera protokolliert. Dadurch hält sie sich die Akteure jedoch auf Distanz und lässt als Gegenpol die offenen Räume für die Figuren sprechen. Die menschenleeren Straßen, das Postkartenidyll der Strände erzählen von Isolation und der Rotation des Begehrens und transferieren Sam als Karikatur des Westerners in eine untaugliche Gegenwart. Unbestechlich folgt er seiner Mission, durchquert das Land mit charismatischem Antlitz für die unumstößliche Rache, im Gepäck jene Pistole, die sein Vater einst für den Selbstmord nutzte. Weder die Poesie der Welt noch das arglose Treiben der jugendlichen Weggefährten um ihn herum können Sam umstimmen. Es gibt einen Moment des Zweifels: Da kehrt er zum Strand zurück, an dem er zuvor das feiernde Trio zurückließ, und lässt sich von Mathieu verführen. Am nächsten Morgen gibt es sogar Tränen und ein kurzes Bekenntnis, der Showdown mit der Mutter jedoch ist trotzdem vorprogrammiert.

So wirklich kühl und distanziert bleibt dies alles nicht. Die Rückblenden zu Sams trauriger Kindheit sind die kausalen Stolpersteine der ansonsten reinen Typologisierung der Psychen und setzen den Kontrapunkt zum ungelebten Leben in der Gegenwart. Was heute hart ist, war früher verletzlich. Mit dieser Binsenweisheit im Anschlag zelebriert Regisseur Sébastien Lifshitz den Stillstand seiner Figuren völlig ironiefrei als Ästhetizismus und Videoclip der schönen, teils schwulen Körper. Dabei fing alles wirklich schön an. Die erste Einstellung gilt der maschinellen Visualisierung des abstrakten Lebens, eines Körpers und einer Identität in spe: dem Ultraschallbild von Léas Baby. Das Gespräch zwischen ihr und der Ärztin außerhalb des Bilds wirkt teilnahmslos. Im Vorspann tanzt Léa dann anzüglich vor ihrem Bruder und dem sichtlich unbeeindruckten Sam. Anstatt diese Leere nun mit der Ikonographie des Westerns aufzuladen und seine archaischen Muster in einen schwulen Clash der Bildproduktionen zu übersetzen, so wie es die Sam-Figur samt ihrer verzweifelten Odyssee verspricht, degradiert der Kamerablick die Körper zum Design letztlich gar nicht mehr so leerer Leidenschaften. Immerhin wollen alle etwas: Léa ihre Schwangerschaft verdrängen, Mathieu ein wenig Liebe und Sam die Vergeltung seines Traumas. Ihr asoziales und undurchsichtiges Verhalten wird lesbar durch die Rückblenden, die alles kausalisieren, historisch aufladen und den Fatalismus der Handlungen zum Schicksal verdichten. Mit dem Western als stilistischen Mehrwert ergibt das nicht die Neucodierung verführerischer Bilder verlogener Geschichten, sondern eine Dissonanz der Erzählstränge mit einem Schuss regressiver Identitätspolitik. Auch schöne Menschen können leiden und werden von ihrer Vergangenheit gequält, aber wenigstens glänzen sie nicht so fettig, wenn man in den Dünen ihre Körper von der Sonne bräunen lässt.

Das finale Duell ist dann der Schock der Einsicht. Die Mutter hat einen neuen Kerl, an Mord ist nicht mehr zu denken, ans Verzeihen ebenso wenig. Wo der verpönte Sozialrealismus nun die Psychiatrie diktiert hätte, folgt im Arthauskitsch die große Geste: Sam entkleidet sich, springt ins Wasser und wäscht sich endlich rein. Narzissmus folgt nun mal anderen Gesetzen.

Moebius Redux – Das Leben von Jean Giraud

(D / CAN 2007, Regie: Hasko Baumann)

Grenzenlose Mutterliebe
von Sven Jachmann

Ziemlich früh spricht Moebius davon, dass ihm die Nouvelle Vague in den fünfziger Jahren schnell zur Religion wurde, und weil das Abhaken biographischer Eckdaten, wie es in diesem Dokumentarilm Prinzip …

Ziemlich früh spricht Moebius davon, dass ihm die Nouvelle Vague in den fünfziger Jahren schnell zur Religion wurde, und weil das Abhaken biographischer Eckdaten, wie es in diesem Dokumentarilm Prinzip ist, immer auch lineare Verzahnung suggeriert, war es vielleicht nur folgerichtig, dass er selbst rund 20 Jahre später für eine kleine Revolution im europäischen Comic mitverantwortlich sein sollte. Nachdem sich über Jahre Teile der Zeichnergarde mit ihren wechselnden Herausgebern (darunter auch der schwer gebeutelte René Goscinny) der französischen Jugendzeitschrift Pilote endgültig überwarfen, gründete man 1975 quasi als Gegenentwurf das Magazin Métal Hurlant. Als Mitherausgeber fungierte auch Jean Giraud alias Gir, seit 1963 Zeichner der überaus erfolgreichen und äußerst naturalistischen Western-Serie Blueberry, der nun endgültig seine zweite Künstleridentität Moebius forcieren sollte. Der schmutzigere Tuschestil wich linienbetonenden Federzeichnungen; die Schraffurtechnik erzeugte eine Dreidimensionalität, die sich dem Sog archaischer Traumwelten verschrieb; das Korsett des Genres wurde zur ans Absurde grenzenden Assoziation; die Seite war nicht mehr bloß Träger sequentieller Erzähleinheiten, sondern wuchs zum eigens komponierten Element; aus erzählerischer Geradlinigkeit entsprang eine hybride Programmatik aus Science Fiction, Mystik und Traumlogik – wortlos in „Arzach“, delirierend in „Die hermetische Garage“ oder „Der Incal“ und meist nur wenige Schritte von der Esoterik entfernt. Automatisches Zeichnen, Abkehr von der begrenzten Seitenzahl des klassischen Albums, sexuell aufgeladene Sci Fi-Settings und das Primat des (alb-)traumhaften Fabulierens, die Introspektion der Künstleridentität vor jeder Verständlichkeit hatte es in dieser episch-avancierten Form noch nicht gegeben. Für den europäischen Comic war dies ein qualitativer Quantensprung, den Moebius wie kein zweiter verkörpert. Er selbst wurde zum internationalen Star, der fortan für manch intermedialen Flirt zu haben war: als Verantwortlicher für Storyboard, Kostüme oder Produktionsdesign u.a. in der abgebrochenen „Dune“-Verfilmung von Alejandro Jodorowsky (der später für Moebius mehrere Szenarien schreiben wird), „Alien“, „Tron“ und „Das fünfte Element“.

So schillernd Moebius‘ dargebotener künstlerischer Werdegang auch ist – der fernab vom voyeuristischen Eifer eben auch werksrelevante Details wie das Experimentieren mit psychedelischen Pilzen in den Wüsten Mexikos oder seinen fünfjährigen Aufenthalt in der IOS-Sekte von Jean-Paul Appel-Guery berücksichtigt -, der Film bleibt in kultischer Manier seiner Person verschrieben. Ziemlich eilig wird seine Karriere abgehandelt, und es dürfte den Fördertöpfen dieser Arte-Produktion geschuldet sein, dass unter den talking heads einige Gesprächsteilnehmer vertreten sind, Jim Lee beispielsweise oder „Hellboy“-Erfinder Mike Mignola, deren einzige Legitimation anscheinend ihre Prominenz war. Und es kommen, neben Moebius, zahlreiche frühere Wegbegleiter zu Wort: Métal Hurlant-Mitbegründer Philippe Druillet, der unvermeidliche Stan Lee, der Schweizer Künstler HR Giger, „Alien“-Drehbuchautor Dan O’Bannon, Alejandro Jodorowsky als Vaterfigur wider Willen, ganz kurz auch Enki Bilal – eine illustre Runde, aber ihre Aussagen bleiben überschaubar. Die Leere wird durch stimmungsvolle Bilder und Animationen gefüllt, beschallt vom Synthie-Score des früheren Kraftwerk-Mitglieds Karl Bartos: Dann steht Moebius dreifach gesplittet vor den Fenstern der Bibliothèque nationale de France, im Anschlag bescheidene Weisheiten, die die Montage zu Aphorismen erhöht. Es ist ein Herantasten, das keinen Zweifel an seinen Gegenstand aufkommen lassen will. Widersprüche bleiben rückblickend ein Baustein zur Reife. Moebius spricht: „Ich bin natürlich in der Lage die Universen in Sekundenschnelle zu wechseln – durch meine Arbeit. Ich habe es getestet. Es ist eine Gabe Gottes.“ Die Gabe endet bei der IOS-Sekte Appel-Guerys. Warum? Jodorowsky: „Er hatte nie einen richtigen Vater. Ich konnte das nicht sein, also hat er sich diesen Guru rausgesucht, einen Verrückten.“ Druillet zeigt sich angewidert von dessen manipulativen Methoden. Moebius entschuldigt sich: „Sagen wir politisch korrekt: Da war ein manipulatives Wesen im Zentrum, das alle betrogen hat. Aber so einfach ist es nicht.“ Es ging um sexuelle Experimente, trotzdem: „Einige Dinge waren am Limit.“ Jodorowsky resümiert: „Eine katastrophale Erfahrung, aber gut für ihn.“ Schnitt in die Wüste und Schnitt zur Unteransicht einer vorbeiziehenden Palmenallee – zurück in Amerika geht es 1988 frisch emanzipiert weiter mit der Marvel-Zusammenarbeit am Silver Surfer. So funktioniert der Erzählrhythmus – für eine kohärente Erzählung, die die Biographie verspricht, muss das Bild glätten, was ihrer Linearität widerspricht. Was Künstler ist, soll nun mal Genie werden.

Nach dieser katastrophalen Erfahrung sehnt es Moebius nach der „Erschaffung einer neuen familiären Welt“, sagt er ziemlich zum Schluss. Also sieht man ihn durch die Straßen direkt in die Galerie seiner neuen Frau spazieren. Jodorowsky erklärt: „Zeichner sind Kinder. Sie verbringen Stunden mit Zeichnen. Also brauchen sie eine starke Mama.“ Es ist eben nicht nur blinde Mutterliebe, die durch rastlose Idolisierung ihre eigenen Kinder verkennt.

Ein Mann von Welt

(NOR 2010, Regie: Hans Petter Moland)

Im Gefängnis des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Welt ist ein Gefängnis, weshalb es auch nicht sicher ist, ob Ulrik (Stellan Skarsgård) ein „neuer, besserer Mensch“ werden kann. Bei seiner tatsächlichen Entlassung aus einem realen Gefängnis, wo …

Die Welt ist ein Gefängnis, weshalb es auch nicht sicher ist, ob Ulrik (Stellan Skarsgård) ein „neuer, besserer Mensch“ werden kann. Bei seiner tatsächlichen Entlassung aus einem realen Gefängnis, wo der schweigsame Kleinkriminelle wegen eines Mordes aus Eifersucht für zwölf Jahre einsaß, wünscht ihm der Wächter jedenfalls „Glück für den Rest des Lebens“. Er solle nicht zurück, sondern „voraus blicken“, hört Ulrik ihn noch sagen, während sein Blick in eine kalte, öde Schneelandschaft fällt, an deren Horizont Autos hin und her fahren. Im frostigen Winter seines Lebens bekommt der gelernte Automechaniker eine zweite Chance.

Zu diesem wenig aussichtsreichen Neubeginn gehören selbstgedrehte Zigaretten, Kaffee, ein paar Habseligkeiten von früher und ein dunkles Kellerloch, wo Ulrik Quartier bezieht. Das Essen, das ihm seine ruppig resolute Wirtin abends vorsetzt, muss er mit derbem Rammel-Sex abgleichen. Daneben entwickelt er in der Werkstatt, wo er jetzt arbeitet, eine schwerfällige Zuneigung zur Sekretärin, die von ihrem Mann misshandelt wird. Emotional verstockt verläuft auch das Wiedersehen mit seinem mittlerweile erwachsenen Sohn. Und dann begegnet er auch noch seinen alten Gangsterkumpels, die Ulrik in einen dilettantischen Racheplan einbinden wollen.

In Hans Petter Molands skurriler Komödie „Ein Mann von Welt“ sind die coolen Verbrecher-Posen allerdings nur Zitat für eine schwarzhumorige Gangster-Parodie. Stilsicher und im lakonischen Tonfall seines finnischen Kollegen Aki Kaurismäki inszeniert Moland die nordische Steifheit seiner stoischen Figuren, die ihre Gefühle hinter absurden, teils stumpfsinnigen Dialogen verstecken. Dabei kennzeichnen graue Wohnsiedlungen, schlechter Geschmack, polnisches Fernsehen und schneller Sex ein Milieu, aus dem es kein Entrinnen gibt. Trotzdem sind in Molands Film die ausgleichenden Beharrungskräfte des Lebens stärker als der Tod, weshalb am Ende des winterlichen Films der Frühling Einzug hält.

Final Fantasy: Die Mächte in Dir

(J / USA 2001, Regie: Hironobu Sakaguchi )

... ordentlich was geraucht
von Dietrich Kuhlbrodt

Am Anfang war das Wort. Und das kommt in diesem Film so lecture-mäßig daher, dass es eine Freude ist, jedenfalls für den, der die Originalfassung sieht und sich an den …

Am Anfang war das Wort. Und das kommt in diesem Film so lecture-mäßig daher, dass es eine Freude ist, jedenfalls für den, der die Originalfassung sieht und sich an den Stimmen von Alec Baldwin, Donald Sutherland und Steve Buscemi erfreuen will. Am Anfang der Produktionsgeschichte der 'Final Fantasy' also war das Hörspiel. Erst später wurde visualisiert, computergeneriert, gerendert und mode geshaded. Drum hören wir die Botschaft wohl, allein es fehlt der Glaube – ans Visuelle. Und das ist gut so. 'Final Fantasy' ist das bessere Computerspiel; bloß müssen die 33 Millionen interaktiven Serienkäufer im Kino inaktiv bleiben.

'Tomb Raider' hatte noch damit genervt, die Spielfigur Lara Croft durch einen dieser realen Filmstars zu ersetzen. 'Final Fantasy' verpasst dagegen der Computergrafik einen fotorealistischen Look beziehungsweise der Heldin Aki 60.000 einzeln bewegliche Haare auf dem Kopf. Das wird auch Frau Schröder-Köpf gefallen, denn so wie in 'Final Fantasy' muss sie aussehen, die Frau, die die drei fernöstlichen Tugenden von Mut, Hingabe und Liebe verkörpert.

Aki wird die Erde erlösen: von Alien-Geistern, die böse ökologische Schäden angerichtet haben. Ihr gelingt das, weil sie selbst von einem Geist infiziert ist und weiß, was gesungen wird. Titelsong: 'The Dreams Within'. General Hein hält sie folgerichtig für eine Landesverräterin; er zieht das finale Geisterschießen vor. Da die Heldin wie immer überlebt, haben wir ein befriedigendes Ergebnis und gleichzeitig ein ausgewogenes Nebeneinander von Comic-Mysterienspiel und Videospielgeballere. 'Final Fantasy'-Leser wie -Nutzer werden vom Spielfilm bestens bedient. Zu Hause gibt’s das nicht, dass der Boden vibriert, wenn im Kino die Bässe dröhnen.

Das Gewese, das die Promotion macht, wie toll realistisch die Computergrafik-Figuren agieren, ist im Ergebnis o.k., aber falsch begründet. Weil es zum Realistischen stets eine hübsche und plausible Differenz gibt. Aki und die anderen bewegen sich um eine Spur zu weich, zu verträumt, zu verzögert, wenn Sie sich erinnern, wie es ist, wenn Sie ordentlich was geraucht haben. Passt! Wir haben Kontakt! Jede Bioform hat ihren Geist, sagen sowohl Film wie Mystik. Und am Ende können auch wir glauben, hypnotisiert von Akis Fließbewegungen und infiziert von der expliziten Audio-Botschaft. Wir sind sogar programmiert worden, uns mit Akis futuristischer Uhr vor Ungemach schützen zu wollen. Seiko Deutschland rät, den toll gestylten Zeitmesser (limitierte Auflage!) im führenden Fachhandel zu kaufen. Jetzt!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2001

Full Metal Jacket

(USA / GB 1987, Regie: Stanley Kubrick)

Das Vietnam in uns
von Dietrich Kuhlbrodt

'Full Metal Jacket', Stanley Kubricks Vietnamfilm, ist kein Film bloß über den Vietnamkrieg. Jedenfalls bleibt er nicht dabei stehen, sondern verfolgt das Thema Vietnam weiter bis in die heil geglaubten …

'Full Metal Jacket', Stanley Kubricks Vietnamfilm, ist kein Film bloß über den Vietnamkrieg. Jedenfalls bleibt er nicht dabei stehen, sondern verfolgt das Thema Vietnam weiter bis in die heil geglaubten Welten der US-Rock-&-Pop-Kultur

Hart wie Kruppstahl hatte sich der Führer die Jugend gewünscht, durchschlagend wie ein Stahlmantelgeschoss der Marines-Ausbilder in Stanley Kubricks neuem Film 'Full Metal Jacket'. Gunnery Sergeant Hartman (Lee Ermey) ist freilich das erste Opfer der Tötungsmaschinen, zu denen er die Marinerekruten abgerichtet hat. Im Camp Parris Island, South Carolina, auf dem peinlich desinfizierten Massenklo, glubscht ihn Private Pyle (Vincent D’Onofrio) von unten her an, die Augen verdreht, ganz Tücke, entmenschlicht, man kennt die Großaufnahme von (Kubricks) 'Clockwork Orange', und dann kriegt der Drillmeister ein Stahlmantelgeschoss in den Kopf, dass das Gehirn an die sanitären Kacheln platscht und ein Blutstrahl in den Abort schießt, so sehr Blut, so sehr Strahl, so abartig, wie es noch keine Filmeinstellung zuwege gebracht hat. / Schnitt / Und direkt dran hört man Nancy Sinatra mit ihrem Oldierunner 'These Boots are made for Walkin‘ ', wobei die Schuhe eine Jungprostituierte anhat, Vietnamesin, 1968 in Hue, die Tet-Offensive kommt erst noch, die Marines sind voll drauf: 'Ich bin so geil', sagt das Mädchen, und Nancy Sinatras Boots sind für den Strich gemacht.

'Full Metal Jacket' setzt den mörderischen Exzess neben das Liebvertraute, was zu dem Resultat führt, dass man Nancy Sinatras Songs, was man schon längst hätte tun sollen, fortan mit Grauen hört. Andererseits erscheinen uns die Kriegsgreuel in Vietnam dank der Sechziger-Jahre-Musik gar nicht mehr so fremdartig, nämlich als das Ding, mit dem man wirklich nichts zu tun hat. Denn die Musik macht die Kriegsbilder zu Greuel-Oldies und Vietnam-Pop, und das müssen alle Oldies- und Pop-Fans selbst verantworten. Da Bild und Musik sich im Film tückisch gegenseitig infizieren, sind wir unversehens emotional Beteiligte, auf ambivalente Weise gleichermaßen mitschuldig wie mitentlastet, überführt und euphorisch verschubt.

Ja, es ist schon richtig, Kubricks neuer Film ist nicht sauber durchzuanalysieren; dem aufgeklärten Spießer gönnt er die Ruhe nicht und nicht den Frieden, dass Freund und Feind beizeiten sortiert sind und man sich zurückziehen kann vom garstigen Geschäft des Botschaftenverdauens. Stattdessen gibt es abenteuerliche bis wahnsinnige Montagen, geradezu schizophrene Ausbrüche. Nie und nimmer wird man den Showdown zwischen dem vietnamesischen Flintenweib und dem Trupp Marines-Helden akzeptieren. Eine full-metal-jacketed bullett im Bauch fleht die tapfere Feindin die US-Kämpfer um Sterbehilfe an. Die wird auch gewährt, gnädig und nach Überwindung der fälligen Skrupel. – Eine empörende, verlogene Szene, die richtig wütend macht. Sie schlägt auf unbegreifliche Weise nicht auf den Film zurück, sondern macht das starke Gefühl, wenn der Bauch sich mit Wut füllt oder wenn The Trashmen zu Kampf- und Massakerbildern mit 'Surfin‘ Bird' in den Körper dröhnen.

Wo also ist Vietnam in Kubricks neuem Film? Mitten in 'Surfin‘ Bird' und infolgedessen mitten in der US-Rock-&-Pop-Kultur, mitten unter uns, zumindest mitten unter den Oldie-Fans. Und was uns fremd wird, ist nicht mehr der Krieg fern in Vietnam, sondern die vertraute Melodie am heimischen Herd oder wie man sonst den Ort nennen will, wo man ungefragt seinen Tagesbedarf reinzieht.

'Full Metal Jacket' hat all den Vietnamfilmen, die seit einigen Jahren in Mode geraten sind, voraus, dass er sich nicht damit zufrieden gibt, etwas zum Vietnamkrieg zu sagen, sondern dass er, wenn auch nicht explizit, so doch nachhaltig, zum Vietnam-in-uns vordringt. Mit anderen Worten: 'Full Metal Jacket' ist der beste aller Vietnam-Filme auch und grade, weil man zu viele Worte braucht, um dies zu begründen. Wer in anderen Kubrickfilmen mitgehört hat, wird sich erinnern, dass ein einzelnes, populäres Musikstück, hineinversetzt in eine andere Welt, mehr und Eindringlicheres zu sagen hatte als die längste Argumentation. 'Try a Little Tenderness' begleitete 'Dr. Strangelove' auf dem Flug, auf dem er gelernt hatte, die Bombe zu lieben. Und die 'Schöne blaue Donau' war es, ausgerechnet, die dem Flug von '2001, Odyssee im Weltraum' zur Euphorie der Schwerelosigkeit verhalf. In 'Full Metal Jacket' kommt Johnny Wright mit dem schulterklopfenden 'Hello Vietnam' daher. Sam the Sham and the Pharaos törnen mit 'Wooly Bully' zu etwas an, das, so vertraut es ist, widerlich wird. Und 'I Like It Like That' von Chris Kenner verleidet in diesem Film die sechziger Jahre, die sonst endgültig nostalgisch verklärt erschienen. Aber, dass wir’s nicht vergessen: andererseits hören wir die Oldies gern, nichtsdestotrotz. Damit muss jeder selbst fertigwerden. Man kann die Ambivalenz lieben, man kann sich ein wenig spalten, man muss ja nicht nur ein und dieselbe Identität haben, jedenfalls hält einen der Film noch für ein Weilchen beschäftigt.

Wem zu Ehren zogen die Amerikaner in den Krieg? Dem Schlusslied zu glauben ist es die hochverehrte, stets belachte, eng und lang vertraute Mickey Mouse Herself. Mit diesem Lied auf den Lippen fliegen die Marines in die Heimat zurück. Eine gemütliche Regression. Und ein ungemütliches, zynisches Bild, das Kubrick in seinem Film entwirft. Welche Art von Gesetzlichkeit ist das, die zum Vietnamkrieg geführt hat? Dem Film zufolge hilft uns der politische Diskurs nicht recht weiter, jedoch eher schon die Sensibilität für eine populäre und durchaus aktuelle Kultur, in der auch wir drinstecken, nicht nur politisch Verbündete des Marines-Staates. Hören wir auf die Musik in diesem Film.

Achja, die Handlung. Zunächst einmal ist der Film dramaturgisch risikoreich in zwei Teile gespalten. Teil 1: Rekrutendrill auf Parris Island. Teil 2: Straßenkampf in Hue, Vietnam. Im Einzelnen: Rituale der Entmenschlichung und des Untergangs der Individualität in einer Gesellschaft der Gewalt und des Zynismus. Der Ausweg ist Mord, Wahnsinn und die bewusste Spaltung. Sehr plakativ hat sich Private Joker (Matthew Modine) 'Born To Kill' auf den Helm gemalt, einerseits. Und andererseits hat er sich an seine Uniform das Runenzeichen der Friedensbewegung gesteckt, und er lässt sich das von keinem Chef wegnehmen.

Das Zeichen, das die diversen Feinde lähmen und bannen soll, ist nicht mehr das christliche Kreuz, sondern das Grafitto und der Button der Popkultur. Was mit 'Born To Kill' beschworen werden soll, hat in den USA seine Tradition. Die Männer hatten ihren Spruch drauf, wenn sie von der wasserstoffsuperoxidblonden Busenfrau sprachen, die wie eine Bombe einschlug. 'Born for men': so wird Jean Harlow in einem sehr populären Film von 1933 angepriesen. Sein Titel: 'Blonde Bombshell'.

Das Friedenszeichen als Pop-Button – da inszeniert der G.I., dressed to kill, seine propere Gesinnung, und jeder weiß auch heute, was das ist: praktizierender Anhänger der Button-Kultur zu sein; auch wenn sie ein wenig außer Mode gekommen ist; denn die aktuellen Styling-Rituale eröffnen vielfältigere Möglichkeiten. Da also heute alle bestens Bescheid darüber wissen, wie die Verständigung über die Selbst-Inszenierung läuft (und schon viel weniger darüber, wie die Kommunikation über den Diskurs zu bewerkstelligen ist), halte ich es für eine sehr geschickte und effektive Strategie, die ich dem guten alten Kubrick gar nicht mehr zugetraut hätte, mit dem Thema Vietnam sozusagen in der eigenen Etappe zu operieren. Weg sind die klaren Fronten, nämlich: wo ist der Freund? Wo der Feind?

Involviert wird mit dieser Inzenierungstechnik stattdessen das aktuelle real existierende, d.h. postmoderne Publikum, das auf Signale zu reagieren geübt ist. Womit gesagt sein soll, dass der Film am besten und ganz vorzüglich und völlig überraschend und buchstäblich entwaffnend auf die Art und Weise funktioniert, wie er was signalisiert. Wir könnten also sagen, dass es der Stil und die Ästhetik des Films selbst sind, die etwas zu sagen haben. Da diese Wörter jedoch negativ besetzt sind, und da wir uns die Mühe der Argumentation ersparen wollen, dass Stil nicht mit Schöngeistigem und Prätentiösem gleichzusetzen sei, bleiben wir gleich beim Angelsächsischen und loben das eindeutig positiv besetzte Styling des Films, ein böses, zynisches, unverschämtes Styling, pervers und genau. Je grotesker und pointierter, desto näher ist die Inszenierung der Realität eines Zeitgeistes – auch wenn man ihn damals, zur Vietnam-Zeit, nicht so nannte – , der auch heute grässlich vertraut erscheint, nur das modische Outfit ist leicht verändert. 'Full Metal Jacket' begnügt sich nicht mit der Abbildung der äußeren Realität (des Camps, des Kriegs), und er beschränkt sich nicht auf die biedere Rolle, pädagogisches Vehikel für den Transport von Botschaften zu sein. 'Full Metal Jacket' ist bösartiger Sado-Pop im ersten Akt (Ausbildungslager), zynischer Gruftie-Look in den Kriegs- und Massaker-Nummern des zweiten Akts. Attraktiv; abstoßend; ambivalent; das Lachen gefriert. Fallen öffnen sich für beifälliges Grienen. Die Stimmung schwankt und wird in Steil- und Sturzflügen strapaziert. Ein Kriegsfilm wie 'Der steinerne Garten' (Coppola) bietet daneben nicht mehr, als auf den Bildern zu sehen ist: Friedhofsruhe.

Unruhe, Reizauslöser und Signale dagegen in Kubricks Film. Das große Vietnam-Feeling als Grafitti ('Born To Kill'), als Button, als Mickey Mouse, als Rolling Stones (in der 'Paint It Black'-Nummer). Die Comic-Helden sind in 'Full Metal Jacket' präsent: Bugs Bunny, der Quasselhase der bekannten Brutalostrips, sitzt rosarot und dick und plüschig in einer Ruine der Stadt Hue, zum Zugreifen. Endlich was Bekanntes, Heimatliches! (Und wie soll man das Trauma Vietnam loswerden, wenn man – und keiner weiß da ein Rezept – die Comic-Monster nicht loswird). Halt, Kubrick wusste ein Rezept. In seinem Film greift ein U.S.-Soldat zum Witztier, unbesehen, und löst damit einen Sprengsatz aus. Bugs Bunny und Soldier in tausend Stücken. Wenn das nicht bitterböse und groteskkomisch ist.

Weiteres Signal für alle Kinorezipienten: Schnobkram. Wer isst den jelly doughnut? Ein qualliger Rekrut, der Private Pyle. Und es ist, was jedem Konsumenten sauer aufstoßen wird, ein Strafessen in einer besonders üblen Schikaneszene; man kann die Schikane besonders gut nachvollziehen, nicht weil einem der Typ leid tut, sondern weil einem diese allseits geschätzte Leckerei vergällt wird. Außerdem: da 'jelly' mit dem Wort 'Qualle' verbunden ist und 'doughnut', wie man weiß, ein populärer Ausdruck für den U.S. infantryman ist, verspeist Quallen-Pyle seine Kameraden, einen nach den andern. Das ist augenfällig, denn Kubrick hat die Szene choreographisch arrangiert: die Rekruten liegen schon am Boden – im Liegestütz, vom Schinder-Sergeant Hartman kannibalistisch kommandiert. Einen Happs für Qualle, ein Pumpen für die anderen, die ersten liegen schon entseelt da, verzehrt sozusagen.

Die Doughnut-Szene braucht ebensowenig einen Kommentar wie die Kurzgeschichte, die in einem Song erzählt wird. Freilich gibt es Schwierigkeiten bei der Synchronisation. Die macht die doughnuts zum deutschen Pfannengebäck: zu Berlinern. O.k., gegessen. Aber zum Kameradenfraß taugen sie nicht, weil Berliner nicht Rekruten in Parris Island sind, jedenfalls soweit ich weiß. Und wer den Film deutsch hört / sieht, wird niemals vollziehen, warum die Rekruten so besonders grausam sich an Kamerad Pyle rächen werden.

Sgt. Hartman stilisiert sich selbst – im Drill der Rekruten. Sein Wahnsinn, seine Perversion finden eine Form im Einüben eines militäreigenen Tanz-Lauf-Marschier-Schrittes. Die Kommandos werden normal, Ballettstunde, Ritual. Ich krieg es nicht mehr aus dem Kopf raus, wie er zum Laufschritt seiner Rekruten skandiert: 'One – Two – Three – Four / U – S – Marine – Corps'. Oder: 'One – Two – Three – Four / I – love – Marine – Corps'. Und so weiter. Unerschöpflich. Ein Ritual, das alle anderen Gedanken ausschließt. – Die Kamera, wie immer in diesem Film, unterstreicht die Styling-Szene. Affirmativ, läuft sie vor dem Marsch-Körper her, guckt zurück und macht ihn zum grandiosen Organismus, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl, die Jungs. Aber sie ist überaffirmativ, hemmungslos. Die Stilisierung macht es, dass die Ausbildungsbilder gewalttätig werden, gefährlich, entmenscht, unbeeinflussbar. – Kubrick verstopfte sorgfältig die Fluchtwege. Zum Beispiel bietet er so gut wie gar nicht die sonst grade im amerikanischen Film üblichen individual-psychologischen Erklärungsmuster an, an die sich zu halten der Kinogänger sonst geübt ist. Schuld hat der böse Vater, die böse Mutter, die böse Ehe? Nichts davon in 'Full Metal Jacket'. Wir sind als Rezipienten und Konsumenten des Spiels direkt angesprochen.

Kubrick stellt uns nicht Menschen vor, mit denen man immerhin noch versuchen könnte, ins Gespräch zu kommen, sondern Artisten: Künstler, die ihr Fach verstehen und die man nicht mitten in der Vorstellung unterbricht. Wie das Publikum im Kino – auch das ein Rezeptionsmuster, das in die Filmstruktur eingegangen ist – , sind die Rekruten auf dem Kasernenhof gebannt, wenn Sgt. Hartman, der Spieß, seine Fäkalarien erklingen lässt, eine kunstvolle Litanei auf den Grundtönen Votze, Arsch und Ficken. Lee Ermey spielt die Rolle, und er spielt sie perfekt. Er ist Meister seines Fachs, und ich glaube es sofort, dass Ermey selbst mit 17 Jahren ins US-Marine-Corps eintrat, selbst Ausbilder war und seine reichen Erfahrungen für die Vietnam-Filme 'Apocalypse Now', 'The Boys in Company C' und 'Purple Hearts' ('Einmal Hölle und zurück') nutzbar machte. In 'Full Metal Jacket' wird Lee Ermey zum Kunstwerk, unzugänglich, unangreifbar und umso gefährlicher. Wieder setzt die Kamera eins drauf. Sie fährt ihm in den Rachen, das Zäpfchen füllt die Großaufnahme. Hinter ihm die geschorenen Rekruten, jeder auf einem kleinen Podest, einheitlich kostümiert, die Hände vorgestreckt zum Sauberkeitsappell: das ist wieder die klinisch saubere Choreographie, kurz vorm – bitterbösen – Musical. – Im Kino gibt es zur verbalen Scheiß-Ästhetik Lee Ermeys falsche Lacher. Während er – im Film – die Rekruten zur Sau macht, lässt er – im Kino – die Sau los. Grade das meine ich damit, dass der Film mit Fleiß und Nutzen die gängigen Rezeptionsmuster aktiviert. Übrigens werden die Lacher allmählich dünner, schließlich bleiben sie im Hals stecken. Das ging denn doch zu weit: die Welt als Veranstaltung der Marine.

Was haben wir am Massenmörder Charles Whitman und am Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald zu loben? Nun, beide waren Marinesoldaten, und 'sie haben bewiesen, was ein einziger Marine und sein Gewehr vollbringen können'. – Rekruten-Sex? Das Gewehr kommt ins Bett, das Geschlecht bleibt ungewiss. – Wozu ist Weihnachten da? 'Der Pastor erzählt Euch, wie die freie Welt die Kommis besiegt: mit Gottes Hilfe und ein paar Marines'. – Sprüche, die zelebriert werden, jedes Stück ein Clip für sich, so perfekt, dass nirgendwo Platz für Widerspruch bleibt. Wohin mit der Wut? Ab in den Bauch.

Zweiter Akt. Auch der Straßenkampf in Hue wird meisterhaft zelebriert. Ich habe in der Vorstellung, in der ich war, zwar keinen Beifall gehört. Aber sicher waren alle viel zu ergriffen, nachdem die Pyrotechnik Flammen noch in die kleinste Fensterhöhle gesetzt hatte. – Wieder liegt es mir fern, mich darüber zu mokieren. Denn das Artifizielle macht Sinn. Endlich einmal ist Vietnam nicht in den fernen exotischen Urwald verlegt. Kampf in einer Stadt, in einem Industrieviertel wie überall, wie in unserer Stadt. Wir sind dicht beim Thema 'Vietnam in uns'. – Gedreht hat Kubrick den zweiten Teil des Films auf dem Abbruchgelände von British Gas PLC North Thames. Die Palmen waren aus Spanien herangeflogen und die angeblich 100 000 künstlichen Tropenpflanzen aus Hongkong. Der Art Director machte die Industrieanlagen während der zwei Monate Drehzeit mit der Abrissbirne allmählich dem Erdboden gleich.

Abriss-Ästhetik, Open-Air-Performance, Son-et-lumière-Spektakel: der Vietnamkrieg rückt nah, er wird produzierbar, wiederholbar, Service-Angebot. Es fehlen noch die Manager. – Die Ästhetisierung des Kriegs und der Massaker, die bei jedem andern in die Unverbindlichkeit geführt hätten, wird bei Kubrick zum Thema. Wer sagt, dass es heute keine Kriegs-Konsumenten gäbe, die das Spektakel als Performance genössen oder als Service nutzten? Private Joker, Reporter der Marine-Zeitung 'Stars and Stripes', fliegt in einem Militärhubschrauber übers Land. Neben ihm, an der offenen Tür, sitzt ein Typ in totaler Euphorie, happy, schwitzend, und feuert nach draußen, tacktacktack: 'Äi Mann! Schon 157 Schlitzaugen umgelegt und 50 Wasserbüffel!' – Die Kamera schwenkt nach draußen: Frauen und Kinder stieben auseinander, auf der Suche nach dem nächsten Wassergraben. – Das Bild, das noch besser gepasst hätte, wäre allerdings der häusliche Monitor gewesen und von der Diskette ein tolles Programm mit Laufwerk. Wer killt in welcher Zeit die meisten gooks? Desaktivieren macht Spaß!

Oder so: Popkultur aktivieren ist geil! Wer veranstaltet den nächsten Krieg? Spätestens wenn sofort an dieser Stelle 'Wooly Bully' reindröhnt, der alte Titel von Sam the Sham and the Pharaos, kriegt man Angst vor der Antwort. – Für wen ist der Krieg willkommenes Ereignis? In einer besonders zynischen Sequenz lässt Kubrick Kamerateams der US-Fernsehstationen durch die Schlacht fahren, die Soldaten unterbrechen ihr blutiges Geschäft, um routiniert in die Kamera zu grinsen und das zu sagen, was das Publikum hören will. Kubrick gelingt es, dies so zu bringen, dass uns die Lust vergangen ist, die Bilder zu sehen, die die Realität abbilden sollen: Sie sind von vornherein falsch.

Richtig sind die aggressiven Inszenierungen und Zuspitzungen vor den Prospekten – oder sagen wir: umstellt vor den Wänden – der eigenen Geschichte. In Hue inszenieren sich die Marines wie in einem Tollhaus. Bist Du John Wayne? – Wo ist General Custer? – Und wo bleibt der Show down? 'Stell den Nigger hintern Drücker', sagt ein Schwarzer von sich, stolz, jetzt wirklich, endlich befreit, echt und Ehrenwort, und dann haut wieder ein Stahlmantelgeschoss in einen Body: eine Blutfontäne schießt diagonal übers Bild, schwer und satt, sie scheint stehenzubleiben und das Bild durchzustreichen, nämlich den Film anzuhalten und den Genuss zu intensivieren. Nichts ist bewältigt. 'Full Metal Jacket' hakt das Thema Vietnam nicht ab. Im Gegenteil, Vietnam verfolgt uns in die so heil geglaubten Welten der Popkultur. Bugs Bunny ist das erste Opfer. Wann ist die Mickey Mouse dran? Wann Mick Jagger?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/1987

Feuerherz – Die Reise der jungen Awet

(D / A 2007, Regie: Luigi Falorni)

... bar jeden Afrikas
von Dietrich Kuhlbrodt

Jetzt gibt’s den Film. Das Buch ist schon 600.000mal verkauft. Und es gibt den großen Streit, ob alles wahr ist oder manches geflunkert, das die Sängerin und Autorin Senait Mehari …

Jetzt gibt’s den Film. Das Buch ist schon 600.000mal verkauft. Und es gibt den großen Streit, ob alles wahr ist oder manches geflunkert, das die Sängerin und Autorin Senait Mehari als ihr Erleben beschreibt. War sie in Eritrea als Kindersoldatin eingesetzt, oder ist sie dort nur zur Schule gegangen? War eine Schulkameradin eine brutale Kommandeuse, oder wurde die Autorin wegen übler Nachrede verurteilt (sie wurde nicht, weil sie 2008 in Berlin 1000 Euro Buße zahlte)? – Hallo? Interessiert das ein Schwein? Wer ins Kino gehen und alles für wahr halten will, was ihm vorgesetzt wird, hat selber Schuld. Wer dazu Stellung nehmen möchte, ob eine Schule, die mangels anderer Strukturen vom Militär (der Eriträischen Befreiungsfront) betrieben wird, per UN-Definition ein Kindersoldatenlager ist, sitzt sowieso im falschen Film.

Denn „Feuerherz“ ist ein erbauliches Traktat mit frommen Nonnen, die Feuerherzen als Talisman verschenken, und bösen Vätern, die Kinder züchtigen. Gleichwohl vermisst die zwölfjährige Heldin im gar nicht so üblen Lager den Familienzusammenhalt. Sie entlädt heimlich Waffen der erwachsenen Soldaten und wird abgemahnt. Heimlich schließt sie sich einer Kamelkarawane an und entkommt in die Sandwüste.

Die märchenhaften Landschaftsaufnahmen, in Kenia gedreht, bringen vom Gedanken ab, etwas für bare Münze zu nehmen. Auch die aufgekratzte Laienschar der Kinder, von der Handkamera verfolgt, gemahnt eher an ein Krippenspiel als an bittere Realität. Von Regisseur Luigi Falorni („Die Geschichte vom weinenden Kamel“, 2003) hätte man Besseres erwarten können. Vielleicht ist es ja auch da, verkleistert vom Musikgedönse, wie aus unseren TV-Liebesfilmen bekannt, und überdröhnt von einer Sprache, die, wieder tv-mäßig, bar jeder afrikanischen Atmosphäre, zwischen glasklaren Merksätzen (sechs Fernsehredakteure zählen zum Stab) und schmusigem Herz-Schmerz changiert (Co-Autorin Gabriele Kister schrieb fürs ZDF zuletzt das Drehbuch für „Wer Liebe verspricht“, „Sieg der Liebe“, „Das Haus der Harmonie“, „Traumzeit“, und für SAT 1 „Der Bergdoktor“, 1993-1997).

Ich denke, „Feuerherz“ findet nicht im fernen Afrika, sondern im häuslichen Fernseher seine wahre Heimat. Lieber nicht ins Kino gehen! Quote wird im TV gemacht! Und ferngesehen hatte die Printbuchautorin, um deren Geschichte es ging, schon seit Anfang der neunziger Jahre in Hamburg. Beim Vater, dem Emigranten, der sie hierher hatte nachkommen lassen. Sie ist eine von uns. Sie hat Erfolg. Und den wollen wir ihr nicht neiden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2009

Geheime Staatsaffären

(F / D 2005, Regie: Claude Chabrol)

Ja, ich bin Isabelle Huppert
von Dietrich Kuhlbrodt

Der deutsche Titel ist bescheuert. Das Original (L’ivresse du pouvoir) ließe sich mit Machtrausch übersetzen. Und: Chabrols Film ist ein Spiel über Macht-haben oder nicht-haben. Bäumchen, Bäumchen wechsle dich. „Die …

Der deutsche Titel ist bescheuert. Das Original (L’ivresse du pouvoir) ließe sich mit Machtrausch übersetzen. Und: Chabrols Film ist ein Spiel über Macht-haben oder nicht-haben. Bäumchen, Bäumchen wechsle dich. „Die meiste Macht in Frankreich hat der Untersuchungsrichter', sagt die Untersuchungsrichterin Jeanne Charmant-Killman. Ein perfid-ambivalenter Name. In ihm schnurrt das bissige Plot zusammen. Isabelle Huppert nutzt die Macht aus, um die großen Industriekapitäne in ihr Winzbüro zu zitieren und sie kleinzukriegen. Untreue, Subventionsbetrug, Bestechung, Steuerhinterziehung und weiter durch die Wirtschaftsschwerkriminalität. Wer steckt da noch drin? Raus mit den Namen!

Wer will, kann sich an den Elf Aquitaine-Wirtschafts-/Politskandal von 2003 erinnern. Muss er aber nicht. Der Film ist kein Wirtschaftskrimi, und es geht ihm nicht darum, neue Details hervorzukratzen. Was wir sehen, ist ein Prozess machtvoller Strafverfolgung, der quasi gesetzmäßig in Ohnmacht und Begünstigung umschlägt – alles auf einer höheren Ebene erzwungenen, aber luxuriösen Einvernehmens. Wer zum Schluss lacht, ist wütend. Aber er hat sie kapiert, die alte neue Dialektik.

Chabrol hält sich vom Kommentieren und Moralisieren fern. Er beobachtet. Originalmotiv ist der Justizpalast in Paris. Dort sitzen die Strafverfolger in tristen Nebenzimmern; ins Gebäude kommen sie durch Nebeneingänge. Sie können die Deklassierung kompensieren, indem sie die sozialen Codes der Wirtschaftsbosse (und der verbündeten Parteipolitiker) knacken. Deshalb immer wieder die in diesem Film sich noch einmal übertreffende Isabelle Huppert, kalt, respektlos, den Vorstandsvorsitzenden vor sich sitzen sehen und ihm ihr Spiel aufzwingen. Klar, das ist ein Spiel, Theater. Rote Handschuhe, das Kostüm ist sorgsam ausgewählt, die Lippenfarbe, der entschlossene Ausdruck. Auch ich fand es immer Theater, wenn der Staatsanwalt, der bei uns als Strafverfolger Macht hat, das weiße Hemd anzieht, den weißen Schlips, die schwarze Robe. Ich war ja in Hamburg selbst einer, und ich sag es gleich jetzt, dass ich befangen bin, wenn ich der Huppert Spiel grandios und hyperrealistisch finde. Ja, ich bin Isabelle Huppert.

Zurück in meine Funktion als Filmkritiker. Schizophren mutet es an, wie sie von der Strafverfolgung zu ihren privaten Beziehungen switcht und umgekehrt. Im Film ist dies ein Hin- und-hergeschalte vom Justizpalast zur Privatsphäre. Je mehr sie sich an ihrer Macht berauscht, so ernüchternd und machtlos geht es mit ihrem Mann auseinander. Sehr schön anzusehen, wie sie versucht, sich an den jungen Félix, den Glücklichen (Thomas Chabrol), zu halten, der unbekümmert von Verfolgungswahn und -rausch ganz der Gegenwart vertraut, dem glücklichen Moment. Klar, dass er beim Pokern gewinnt. Und: no sex please. Gibts bei Engeln nicht. Frau Charmant-Killman aber kann nicht aus ihrer Haut. Geht nicht, weil das größtmögliche Maß von Macht ja gesetzesnotwendiger Weise in die lindernde und entspannende Qualität der Ohnmacht kippt. Und das geht so:

Im Laufe des Films tritt immer mehr das kriminelle Wirtschafts- und Politsyndikat auf – als Gruppe, als Chor sozusagen, auf die altgriechische Weise kommentierend und voraussagend, wie weit die Verfolgerin ist. Sie weiß noch nicht alles. Die anderen wissen es. Sie haben Geduld, machen ihre Späße, und lassen sie an langer Leine zappeln. Gut, ein Bauernopfer ist nicht schlecht. Einer von ihnen, ohnehin deklassiert, weil nicht von gleicher Eliteschule, lässt sich von der Untersuchungsrichterin weichkochen – und in die Notaufnahme schicken. Die Strafverfolgerin will noch mehr? Mal kontrollieren, was läuft. Ein merkwürdiger Verkehrsunfall. Body Guards werden ihr aufgedrängt. Eine Beförderung wird in Aussicht gestellt, allerdings ist sie dann für ihre große Sache nicht mehr allein zuständig. Grandiose Diensträume bekommt sie – und eine Kollegin, die zicken wird und sie kontrolliert. All das verschafft ihr der eigene Vorgesetzte, gütig lächelnd. Auch er im Bunde.

Und nun? „Macht Euren Mist allein', sagt die Huppert. Und dem Gerichtspräsidenten rät sie: „Kaufen Sie sich doch ein Paar Eier.' Paar großgeschrieben. – Die Erkenntnis? Dass die Macht, über die sie frei zu verfügen meinte, ihr nur auf Zeit gewährt ist – von einer Klasse, die ihr unzugänglicher wird, je mehr sie auf sie zugeht. Sie allein gegen das Einverständnis von Wirtschaft, Politik und Justiz, das geht nicht. Einmal kurz gelacht über Machtrausch und Verfolgungswahn und dann bitte schön doch nicht mit dem Kopf durch die Wand. Die Wand, das sind die sozialen Codes und dahinter sind „die Ausbeuter, von denen man nur hoffen kann, dass eines Tages ihre Nase von den Ausgebeuteten gepackt und ausgepresst wird, um zu sehen ob Milch oder Blut rauskommt', so Chabrol in einem Interview, bei dem man wiederum nicht weiß, ob er mit dem einen Auge pliert: „Ich glaube immer noch an den Klassenkampf.'

Passt. Auch wenns zum Macht-Theater gehört. Ich fand es jedenfalls gar nicht komisch, dass ich in den siebziger Jahren gegen die Wand lief. Als Naziverbrechenverfolger in Hamburg. Der sehr hohe Beamte, angeklagt wegen tausendfachen Mordes an Hamburgern. „Wir haben Ihre Karriere immer im Auge gehabt, und das soll doch so bleiben', bedeutete mir der Verteidiger, der eben noch stellvertretender Bürgermeister gewesen war. – „Wissen Sie, was Sie dem Beamten, einem SPD-Mitglied, antun?', so der stellvertretende Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung. Ich erinnere noch ungefähr den Titel der Reportage: „Schwurgerichtsanklage: Schweres Schicksal -', nächste Zeile, „- für verdienten hamburger Beamten'. Das Gericht folgte sodann dem Gutachten, das dem Angeklagten bescheinigte, sich nicht verteidigen zu können. Die Anklageschrift sei zu lang. Er könne sich nicht konzentrieren. – Erst später erfuhr ich, dass der Sachverständige, Direktor eines Allgemeinen Krankenhauses, zur Tatzeit Hausarzt des Angeklagten gewesen war.

Kurzum, ich war gegen die Wand gelaufen, erfreute mich aber der Ernennung zum Abteilungsleiter und damit zum Oberstaatsanwalt. Bezeugen kann ich somit besten Gewissens, dass Chabrols Machtrausch- resp. Ohnmachtstheater die Wahrheit ist und nichts als die Wahrheit.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2006

Planet der Affen

(USA 2001, Regie: Tim Burton)

Reziprok rassisch
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Plot ist linear: US-Pilot Mark Wahlberg geht im Weltraumschiff der United Forces auf Weltraummission. Auf dem Affenplaneten inthronisiert er einen von den USA mitgebrachten Kinderaffen, gut dressiert. Mit Hilfe …

Der Plot ist linear: US-Pilot Mark Wahlberg geht im Weltraumschiff der United Forces auf Weltraummission. Auf dem Affenplaneten inthronisiert er einen von den USA mitgebrachten Kinderaffen, gut dressiert. Mit Hilfe einer dissidenten sowie schönen Äffin bringt er die dort lebende rassische Minderheit von Menschen an die Macht. Das geht nicht ohne Einsatz von Knüppeln, Blendgranaten und Faustfeuerwaffen. Am Ende ist Affengeneral Tim Roth besiegt und das Überleben der Spezies Mensch garantiert. Denn daheim im Weißen Haus hat leider ein reziproker rassischer Machtwechsel stattgefunden.

Das Subplot geht jedoch anders. Und genau deswegen wird der Film reüssieren. Die Bilder, die Masken, die Kostüme und das acting sind die Botschaft. Im Vorgängerfilm von 1967 herrschten noch Dialoge und Merksprüche. Jetzt haben wir 2001, und wir bewundern Affenlook, -design und -format. Die bringen das einfach besser, als wir Menschen das können. Die schöne Äffin, auch wenn sie dissident ist oder grade weil sie mit dem Planeten-Untergrund sympathisiert, wo sich Menschen im affenfreien Raum verbergen – die schöne Äffin also mit dem sowohl beredten wie seelenvollen Blick, wir sympathisieren sofort mit ihr. Und was ist mit der Gegenspielerin, der leichtgeschürzten Menschin im Tarzan-and-Jane-Look? Blond und modekompatibel gecasted, gebont, aber fad und ohne jeden Charme, spielen kann sie auch nicht. Welcher Rasse mag der angehört haben, der diese Tussie engagiert hat? Bestimmt kein Freund des Menschengeschlechts.

Auch das Duell der Rassenkrieger, Mark Wahlberg vs. Tim Roth, geht eindeutig zugunsten der Affen aus. Sie sind die Stärkeren. Tim Roth, Affengeneral, hat ein Kostüm viel schöner als in diesen Musicals, er legt eine obercoole Performance hin, wir können von heute an von der Sternstunde des Affenpop sprechen. Und dagegen? Mark Wahlberg? Zum Vergessen. Der Mensch, tutig und tranig, läuft im Film wie in einem Jurassic Park rum, macht Oh und Ach und will uns auf Zuschauer eines Erlebnisparks trimmen, für den Event des Affenplaneten. Wetten, dass das kommt?

Haben wir also mit dem neuen 'Planet der Affen' eine innovative subplotive Rassismuskritik? Damit das klar ist: Rassismus wird nichts weiter als verkehrt. Zu Perversitäten wie Durchrassung kommt es mitnichten. Wir kennen das: In der Menschencrew erwarten und sehen wir den Quotenneger, er hat weiter nichts zu tun, er ist Komparse. Aus gegebenem Anlass hat im Menschenschiff auch ein Quotenaffe eine Rolle, eine bessere sogar, eine Nebenrolle. Solch eine Errungenschaft wie die Quote kennen die Affenrassisten nicht. Sie sind böse. Nur die sympathisierende schöne Äffin macht sich an den Wahlbergmenschen heran; das könnte die Exposition für einen durchgerassten Beziehungsfilm sein; sie hat eine Hauptrolle. Doch trotz aller Bemühungen kommt es nicht zur Rassenschande. Wahlberg tut so, als ob er nichts merkt, steigt in sein Schiff und ade, du Affenplanet.

Halten wir fest, dass wir als Zuschauer des verführerischen Affenspektakels sauber bleiben. Dann können wir einen Schritt weitergehen und registrieren, dass wir alles Wertkonservative bei den Planetenaffen wiederfinden können. Vor dem Essen wird gebetet, zum Affengott. Die Herrenaffen sind noch wahre Männer, Edelsamurais, mittelalterliche Ritter aus großer Zeit, schnell gezogen ist die Waffe. Aus der Zeit der Heldensagen scheint der leibhaftige Charlton Heston zu stammen, Held des ersten 'Planet der Affen'-Films. Er ist also leider noch nicht tot, aber das wird sich schnell ändern, er liegt in seinem special-guest-Auftritt auf dem Sterbebett und spricht letzte Worte. War es nicht so, dass er, 76jährig, kürzlich außerhalb des Films wertkonservativ-politisch geworden ist, als Bush-Freund und Überboss der Vereinigung US-amerikanischer Waffennarren?

Vor 34 Jahren, im ersten Affenplanetenfilm, hatte sich Heston noch humanistische Diskurse anhören müssen, auch wenn das Pseudodialoge waren. Heute aber kann er als Oberaffe seine Freude daran haben, wie der Menschenuntergrund, stumme, wehrlose Masse, vom Himmel einen Führer geschenkt bekommt, den faden, blassen Wahlberg mit dem immer gleichen, aber ikonenkompatiblen Gesichtsausdruck. Das stumpfe Menschenmaterial des Planeten wird vom Erdgesandten militärisch geschult, logistisch versorgt, strategisch eingesetzt und im Kampf verheizt. Tote ja, aber der Sieg ist unser und: Ohne Waffen geht es nicht. Was für ein Vorteil auch: Affenrittern, die noch wie im Mittelalter gerüstet sind, mit der Faustfeuerwaffe zu kommen, sie mit Blendgranaten zu schrecken und im Mann-zu-Mann-Scharmützel niederzumachen. Nur ein toter Affe ist ein guter Affe. Ja, da leuchten Hestons Augen auf, noch einmal, das Kleinkaliber siegt auch im Weltenraum.

Dass die Planetenaffen nicht mehr wie im ersten der jetzt sechs Affenplanetfilme nur Betonköpfe, sondern sowohl tolle Typen, popmäßig upgedated, als nach wie vor Betonköpfe sind, lädt zur Identifizierung mit dem Politdesign der angehenden Bush-Ära ein. Egal, was das Primärplot dahinschwafelt. Wir brauchen einfach den Weltenraum, um zu überleben. Wir brauchen die Waffen, das Ziel zu erreichen. Wir haben unseren Spaß auf dem Expeditionsevent. Wir sind, sagen wir’s hinter vorgehaltener Hand, gar nicht auf einem fernen Planeten, sondern längst beim virtuellen fun, daheim auf Erden. 'Planet der Affen' zeigt uns die Welt, wie wir sie längst kennen, den Alltag vor der Glotze. Wer reist, kommt auf den exotischen Basar-für-die-Touristen. Wahlberg studiert blauäugig die Stände mit Souvenirs, Snacks und Drinks, als ob er auf dem Airport in Acapulco oder Marrakesch ausgestiegen wäre. Schlangenbeschwörer und allerlei andere Kleinkünstler haben extra Affenkostüme angelegt, um das rechte Ambiente zu kreieren. Alltag.

'Planet der Affen' zeigt uns Affen wie du und ich; und was Eifersucht betrifft, so steht die schöne Äffin keinem Star nach, wie wir ihn aus dem aktuellen Genre des Beziehungsfilms kennen. Wenn wir also als Zuschauer des Films vor nichts auf der Hut sein müssen, dann können wir auch die Bush/Heston-Botschaften in unsere Stube holen. Die Affenprojektion ist politisch auf dem neuesten Stand. Es ist alles gar nicht so schlimm. Auf dem Planeten beginnt ein neuer Markt zu blühen, der Handel mit Erdgütern begeistert die ersten Planetenkonsumenten. Ein Filmscherz? – Ein Gegenscherz wäre es, wenn auf Erden die usurpierenden Planetenaffen längst den American Way von Freiheit und Democracy pervertiert, die Affenrechte etabliert und Unäffische Activities verfolgt hätten. Lassen wir’s beim Konditional.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2001

Ghetto

(D / LT 2005, Regie: Audrius Juzenas)

Kriegsglück
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Filmverleih wirbt mit einem fünf Jahre alten Schreiben des litauischen Außenministeriums. '13. Oktober 2000. Der Spielfilm ‚Ghetto' ist Teil des nationalen litauischen Holocaust-Gedenkprogramms. Es entsteht in Zusammenarbeit mit neun …

Der Filmverleih wirbt mit einem fünf Jahre alten Schreiben des litauischen Außenministeriums.

'13. Oktober 2000. Der Spielfilm ‚Ghetto' ist Teil des nationalen litauischen Holocaust-Gedenkprogramms. Es entsteht in Zusammenarbeit mit neun Ländern (Holland, Deutschland, Polen, Frankreich, England, Schweden, USA, Israel, Italien) und soll ein internationales Holocaust-Gedenkprogramm fördern. gez. Botschafter für Spezialaufträge.'

Mit offizieller Unterstützung von Valdas Adamkus, Präsident der Republik Litauen, kommt der Film jetzt ins Kino, um seine repräsentative Aufgaben zu erfüllen. Es geht wohl gar nicht anders, die Last der Vorgaben zu tragen, als auf eine Bilderbuchästhetik zurückzukommen, wie sie beim Staatsfilm und anderen feierlichen Anlässen dem Protokoll entspricht. Als Zuschauer hat man es dann schwer, dem Film näherzutreten, was doch aber wünschenswert wäre, wenn man es nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern es erleben will, was im letzten Weltkrieg im Ghetto von Vilna geschah.

Zugrunde liegt das Theaterstück von Joshua Sobol. Der junge Ghettokommandant (Sebastian Hülk, 'Berlin, Berlin') lebt dort auf unbekümmerte Weise die Herrschaft über Leben und Tod aus. 'Betört' (Presseheft) von der schönen Sängerin Haya, befiehlt er den Juden, das Theater wieder zu eröffnen. Bald wird es sein Stammplatz. Doch ach, 1943, 'das Kriegsglück der Deutschen wendet sich' (Presseheft). Stalingrad!

Wenden wir uns den Juden zu. Führer der jüdischen Ghettopolizei ist Heino Ferch ('Der Untergang'). Ständig handelt er die Zahl der Juden hinunter, die er für die Erschießungen selektieren soll. Das macht er mit der Ferch-eigenen stoischen Ruhe, die gleichwohl 'Rührung aufkommen lässt; er findet seinen richtigen Platz immer deutlicher in Filmen zur Vergangenheitsbewältigung' (Presseheft). Er ist also unser Mann. Aber leider kann er sich gegen einen Ghettobewohner nicht durchsetzen, der unter all den litauischen Namen auffällt. Weiskopf also, Geschäftemacher, und 'habgierig, wie er ist, kümmert ihn sein Profit mehr als das Überleben seiner Landsleute – statt möglichst viele von ihnen durch eine Arbeitserlaubnis zu retten, hält er seine Flickschneiderei rentabel, indem er so wenig Mitarbeiter wie möglich beschäftigt' (Presseheft). Pfui. Gut, dass der Jude von Partisanen erschossen wird. Denn die sind auch da. Das Ghettotheater ist ein Meer von roten Fahnen.

Wo bleibt unser Ghettokommandant? Er wird sich absetzen. Eine große Zukunft wartet auf Sebastian Hülk. Auch Ulrich Tukurs Karriere startete 1984 nach der legendären 'Ghetto'-Aufführung im Staatlichen Schauspielhaus Hamburg (Inszenierung: Peter Zadek). Schon damals war die Vergangenheit bewältigt, indem man sich beschwingt im charmanten Ghettokommandanten wiederfand, und ich schwöre, die vielen Zitate aus dem Presseheft treffen den Punkt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2006

Ich sehe den Mann deiner Träume

(USA / ESP 2010, Regie: Woody Allen)

Viel Lärm um nichts
von Wolfgang Nierlin

Das Leben sei voller Lärm und Raserei, letztlich aber bedeutungslos, zitiert Woody Allen zu Beginn seines neuen Films Shakespeare. Sein deutscher Verleih-Titel lautet „Ich sehe den Mann deiner Träume“. Doch …

Das Leben sei voller Lärm und Raserei, letztlich aber bedeutungslos, zitiert Woody Allen zu Beginn seines neuen Films Shakespeare. Sein deutscher Verleih-Titel lautet „Ich sehe den Mann deiner Träume“. Doch der Originaltitel „You will meet a tall dark stranger“ macht aus dessen liebesromantischen Implikationen eine Komödie der Vergeblichkeit. Denn mit dem „großen schwarzen Fremden“ ist der Tod gemeint, der am Ende alle menschlichen Bemühungen als Eitelkeit ausweist. Weil der fleißige New Yorker Filmemacher das mittlerweile und ganz offensichtlich mit einer milden Altersweisheit zu betrachten scheint, hat er seinen heiteren, in London spielenden Liebesreigen in warme Ockerfarben getaucht.

Den Modellcharakter seines distanzierten Figurentheaters gewährleistet erneut ein Off-Erzähler, der die Episoden der nach allen Seiten ausfransenden Liebesgeschichten miteinander verbindet. Dabei handelt es sich um die beispielhaften Gefühlsirrungen zweier Paare, eines älteren und eines jüngeren, die gerade ihre Ehekrisen durchleben. Während Alfie (Anthony Hopkins) den Verlusterfahrungen seines Lebens und dem körperlichen Verfall mit sportlicher Ertüchtigung, einer jungen, aufreizenden Geliebten und Viagra entgegenzuwirken trachtet, sucht seine Frau Helena (Gemma Jones) ihr Heil in den Prophezeiungen einer Wahrsagerin namens Cristal. Womit sie vor allem ihren Schwiegersohn Roy (Josh Prolin) nervt, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt und am Fenster zum Hof seine hübsche Nachbarin Dia (Freida Pinto) ins Visier nimmt. Seine Frau Sally (Naomi Watts) wiederum, die unter Roys Erfolgslosigkeit leidet und sich Kinder wünscht, verliebt sich derweil in ihren Chef Greg (Antonio Banderas), einen attraktiven Galeristen.

Wie in einem Pingpongspiel, leicht und fast absichtslos, inszeniert Woody Allen einen Reigen der Leidenschaften, hält dabei das emotionale Drama aber auf Distanz. Überhaupt führt Allens Film zu keinem Ziel und favorisiert einen Schwebezustand, in dem das nur scheinbar Überwundene wiederkehrt und das vergebliche Spiel neu beginnt. Vilmos Zsigmonds dynamische Bildgestaltung unterstützt dabei in langen Einstellungen das stetige Hin und Her dieser sinnlosen Raserei. Besänftigung und Trost findet diese allein in den Trugbildern der Illusionen, die hier nicht selten durch Alkohol befördert werden und neben dem Übersinnlichen auch dem Kino seine Referenz erweisen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Ewige Schönheit. Film und Todessehnsucht im Dritten Reich

(D 2003, Regie: Marcel Schwierin)

Gesamtkunstwerke
von Dietrich Kuhlbrodt

'Vom Nationalsozialismus geht bis heute eine merkwürdige Faszination aus. Was blieb, waren die Bilder – sehr sorgfältig inszenierte Bilder. In ihren Filmen schufen sie Visionen einer anderen, besseren Welt. Eine …

'Vom Nationalsozialismus geht bis heute eine merkwürdige Faszination aus. Was blieb, waren die Bilder – sehr sorgfältig inszenierte Bilder. In ihren Filmen schufen sie Visionen einer anderen, besseren Welt. Eine Welt der Ordnung, der Größe und des Ruhmes, eine Welt der ewigen Schönheit'. Mit dieser These eröffnet Doktorand Marcel Schwierin seinen Film, und selbstverständlich belegt er in einer sorgfältig montierten Bildfolge sein Faszinosum nationalsozialistischer Filmästhetik, seminarmäßig in Ordnung gebracht, beraten von den Profs, gefördert vom NDR. Selten Gezeigtes ist zu sehen. Wie die Juden Kühe schächten, ist immer noch unschön, sagt uns die Off-Stimme, und irgendwie hängt das mit dem 'Relativitätsjuden' Einstein und dem 'Ewigen Juden' überhaupt zusammen, und ebenso heißt das perfideste Hetzwerk der Nazis.

Der Autor will aber woanders hinaus, und wir wollen ihn zu Wort kommen lassen. 'Mein Vater ist Politologe, und von daher hatte ich eigentlich das Gefühl, dass sich alle Fragen zum Nationalsozialismus für mich beantwortet hätten. Aber ich hatte mir nie die Frage gestellt, welche positive Motivation Hitler hatte. Wo wollte dieser Mann eigentlich hin, wovon träumte er? Ich wollte wissen, wenn ich den Holocaust ausblende, wenn ich die Verbrechen ausblende, wieweit könnte ich dieser Faszination erliegen? Das war wie ein Selbstexperiment. Mir ging es auch darum, dass man die Bildsprache der Nationalsozialisten nachvollziehen kann. Wesentlichstes Merkmal ist sicherlich die Inszenierung des Realen. Dem Nationalsozialismus schwebte eine ideale Gesellschaft als Gesamtkunstwerk vor, in der alles auf das Schöne ausgerichtet war.'

Treffender kann man das nicht ausdrücken, wenn man das Ergebnis dieses Gesamtkunstwerkes von Film und Dissertationsprojekt betrachtet. Da hat einer die Nase voll von Vätern und Vergangenheitsbewältigern. Unsere jüngste Generation nimmt die Dinge selbst in die Hand und erkennt, so die Off-Stimme, dass es den Nationalsozialisten im Grunde nicht um die Juden ging, sondern um ein Antibild, die Welt in gut und böse aufzuteilen.

Zu solcher Einsicht kommt, für den die Welt mit Hitlers Filmen beginnt, die sich zum Ende 'eine Märchenwelt schaffen'. Statt den Antisemitismus der Nazis zu relativieren, wäre die Lektüre von Klaus Theweleits 'Männerphantasien' anzuraten gewesen. Das war auch eine Dissertation gewesen, aber sorry, eine von vor bald dreißig Jahren. Vätergeneration! Bewältiger! Nein, dann im Film lieber Unbewältigtes zitieren: Gottfried von zur Beek (Ludwig Müller), Die Geheimnisse der Weisen von Zion (1919).

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2005

eXistenZ

(USA / CAN /GB 1999, Regie: David Cronenberg)

Praktikantenarschlöcher
von Dietrich Kuhlbrodt

Es gibt nichts zu überlegen. Es ist wieder Breton-Zeit. Eine Pistole in die Hand nehmen und wahllos in die Menge schießen. 'Ich muss jetzt einfach jemand töten', erklärt Praktikant Ted …

Es gibt nichts zu überlegen. Es ist wieder Breton-Zeit. Eine Pistole in die Hand nehmen und wahllos in die Menge schießen. 'Ich muss jetzt einfach jemand töten', erklärt Praktikant Ted Pikul (Law) entschlossen und entspannt, also cool. 'Aber nicht den Kellner, der ist so nett', sagt Allegra Geller (Jason Leigh), Game-Designerin, also Chefin. Beide testen das produktionsreife Computerspiel. Der Praktikant setzt aus den Speiseresten, Knöchelchen von reptilesken Mutationen, die Waffe zusammen. Das ist ein Gepuzzel wie beim Überraschungsei. Und sehr praktisch, weil von Metalldetektoren nicht erkennbar. Das Einschussloch im Kellnerkopf ist dann so groß wie eins der beiden Praktikantenarschlöcher.

An dieser Stelle ist nachzutragen, dass sich das Denken spart, wer bioorganisch gesteuert wird. Genau das ist der Fall. Die Chefin hat für das zweite Loch gesorgt, unmittelbar über dem primären gelegen. 'Beim ersten Mal ist es noch etwas eng', sorgt sie sich. Deswegen wird die neue Körperöffnung, der Bioport, mit einem entspannenden Mittel eingesprayt. Sie schiebt mit einer leichten Drehbewegung die Nabelschnur ein, den UmbyCord. Dann ist der Praktikant mit der Spielkonsole verbunden, dem MetaFlesh Game-Pod. Damit ist alles in Ordnung. Wir haben’s schwer mit kommerziellen Typenbezeichnungen.

Der Analverkehr als Metapher für die Realität des Computerspiels? Was dagegen? Die Chefin, heiter, stellt Erfreuliches in Aussicht. Regisseur Cronenberg ('Videodrome', 'Crash') steht ihr bei. Es muss, wie bei den übrigen Realitäten, auch beim Computerspiel möglich sein, einmal wahllos in die Menge zu schießen. Im Film taucht ein Bewaffneter auf und feuert blindlings auf das Zentral-Organische-mit-schwellenden-Nippeln-dran. 'Kampf dem Imperialismus!' ruft er in der deutschen Version. Die Folge des fundamentalen terroristischen Akts: Millionen von imperialistischen Sporen verteilen sich über die weiträumig verteilten Biomassen.

Das schreit nach gruppentherapeutischer Aufarbeitung. Der Film zeigt sie. Aber ist nicht diese Realität ihrerseits vom Bioport über den UmbyCord mit dem MetaFlesh Game-Pod verbunden? – Wer spielt, mit dem wird gespielt? Auch wer Amok läuft, ist Opfer. Wie wir alle. Das ist schlüssig in Cronenbergs – übrigens eXzellenTem – Film. Genau wie literarisch in Bret Easton Ellis’ neuem Glamourama. – Wie war das doch 1931 in Deutschland? In 'M', dem Fritz-Lang-Film? Peter Lorre: 'Ich will nicht, ich muss.'

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2000

James Cameron präsentiert: Die Bismarck

(USA 2002, Regie: James Cameron, Gary Johnstone)

Der größte Schiffbauer aller Zeiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Kameradschaftsfilm und ein Film über Helden der Technologie. 1941 versenkten die Engländer das Schlachtschiff Bismarck. Sechzig Jahre später holt James Cameron Überlebende an Bord seines Tauchschiffs. Die Feinde von …

Ein Kameradschaftsfilm und ein Film über Helden der Technologie. 1941 versenkten die Engländer das Schlachtschiff Bismarck. Sechzig Jahre später holt James Cameron Überlebende an Bord seines Tauchschiffs. Die Feinde von gestern sind die Freunde von heute, und man bewundert sich den Film hindurch gegenseitig, und das heftig. Cameron, so wird uns eingebläut, hat eine grandiose innovative Tauchtechnik entwickelt. 5.000 Meter unter dem Meeresspiegel kann man das Wrack ehrfürchtig bestaunen und ganz doll filmen.

Und Hitler hatte seinerzeit das modernste Schiff der Welt gebaut, eine 'Kathedrale aus Stahl', genauer 'aus Kruppstahl'. Das Wunderwerk schlägt knapp die Titanic. Es ist so lang wie diese, aber neun Meter breiter. Wir hören das von der ergriffenen Stimme im off, und die hat immer recht, denn auf der Tonspur wird unterlegt, was wir im 'Titanic'-Film hörten. Und dann sehen wir in alten Wochenschaufnahmen den, der bei uns als Gröfaz verarscht wurde, der doch aber der größte Schiffsbauer aller Zeiten war: der Führer schuf das Technologiewunder Bismarck. 'Die Bismarck' wird Nazifilm. Heil! Heil! Heil! Jubeljubeljubel. Wir sind im Superstadion, ob es Nürnberg ist oder nicht, egal, wir erfahren es nicht, aber dort thront er, der Größte, und nimmt Paraden ab. Ein Meer von Hakenkreuzfahnen, und zum Marsch der Kolonnen hören wir Rockmusik und die ekstatischen Schreie von Zehntausenden. 'Hitler war der ultimative Rockstar seiner Zeit', raunt es wieder bewundernd im off. Wie war das noch? Die Feinde von gestern sind die Freunde von heute.

Die Marinejungs von damals werden nachgespielt von Teenies aus dem Filmgenre von heute. Geile Muscle Shirts haben sie an, Idole unsere Zeit. Auch sonst beruft sich die 'Die Bismarck' auf gängige Genres, wie wir sie lieben. Die Schiffe 'preschen aufeinander zu wie Ritter beim Turnier'. Fantasy! Das 'Schlachtfest': 'ein Stahlgewitter'! Ernst Jünger hätte es hören sollen, aber Cameron macht nicht Literatur, sondern einen Kriegsfilm und das noch als Teeniesoap. Wir sind in einem Spiel.

Spielerisch geht es im Neunsekundentakt von der historischen Wochenschau zur Simulation militärtechnischer Höchstleistung, wie sie jeder aus Animationen in den aktuellen Nachrichten kennt. Von dort zu den Dokustatements alter Herren, zerhackt in Halb- und Dreiviertelsätzen. Und zur Selbstbeweihräucherung des heldischen Tauchteams.

Ich hatt einen Kameraden. Der Zapfenstreich. Jemand von der Bundeswehr salutiert. Jemand von der 'Kameradschaft Seeschiff Bismarck' setzt den Helden des Schlachtschiffs 'die Schaumkrone der ewig wogende See' auf. 'Grüß das Vaterland und das Deutsche Volk', hatte es von dort heraufgemunkelt. Ja, die 'Ereignisse' endeten 'tragisch', lässt sich die nachwievor ergriffene Stimme aus dem off vernehmen. Und Cameron hat sich mit seinem Film verdient gemacht. Er beantwortet die Frage, 'die seit sechzig Jahren die Gemüter erhitzt': wer genau hatte 1941 den ultimativen Schuss auf die Bismarck abgefeuert? Whodunnit? Der Täter steht fest. Der Britenflieger wars. Opfer ist die Bismarck.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2003

Evet, ich will

(D 2008, Regie: Sinan Akkus)

Multikultimärchen
von Dietrich Kuhlbrodt

Amüsante deutsch-türkische Kulturdifferenzen gilt es auszugleichen, bevor auf dem Berliner Standesamt das Ja-Wort fallen kann: Ich will! Wobei es genauer gesagt, um das Ja-Wort des Türkenvaters geht. Die Mitgift muss …

Amüsante deutsch-türkische Kulturdifferenzen gilt es auszugleichen, bevor auf dem Berliner Standesamt das Ja-Wort fallen kann: Ich will! Wobei es genauer gesagt, um das Ja-Wort des Türkenvaters geht. Die Mitgift muss ausgehandelt werden. 50.000 Euro? Gegenangebot: 10.000. Oder aber: Dirk (Oliver Korittke) muss nachweisen, dass die Vorhaut abgeschnitten ist. Wie? Ein Foto muss her. Oder aber, wenn gar nichts mehr geht, muss der junge Kurde dem türkischen Hardliner-Vater die Tochter nach altem Brauch wegrauben. Kulturell ist die Entführung tradiert, Günay ist nun aber nicht mehr Türkentochter. Weiter. Wie ringt der schwule Kfz-Mechaniker dem türkischen Vater das Ja-Wort zur Partnerschaft mit seinem deutschen Freund ab? Und wie lange soll ein Türke warten, bis er keine Aufenthaltsgenehmigung mehr braucht? EU-Beitritt in zwanzig Jahren? Dreißig Jahren (Wahrsagerin)?

Fragen über Fragen. Die Väter werden respektiert, aber respektlos vorgeführt. Die Dialoge haben Witz. Multikulticlashs sind zum Schmunzeln da. „Evet, ich will!“ ist ein TV-Film, koproduziert von RBB und Arte. Wir können sicher sein, dass wir im Vordergrund bleiben. Wir kommen zum guten Ende zur Einsicht. Es lebe die Harmonie! Es lebe die allseitige Toleranz! Tränen des Glücks rinnen, wenn der harte Vater dann doch öffentlich einsichtig wird – per live-Schaltung zum Hörfunk. Und Tränen der Trauer, wenn fern in der Türkei der Opa dahinscheidet. Alle reichen sich jetzt die Hand – die Paare, die Generationen. Das Multikultimärchen erfreut alle. Es ist frech, ohne wehzutun. Es macht gute Laune. Es ist einzigartiges Leichtgewicht im Vergleich mit den niederschmetternden deutschen Problemfilmen, die alles nur noch schlimmer machen. Regisseur Sinan Akkus, ausgebildet auf Film- und Kunsthochschulen auf Kuba und in Kassel, bekam für „Evet, ich will!“, seinen ersten Spielfilm, Publikumspreise in Lünen und auf dem San Francisco Filmfestival Berlin and Beyond. Der Verleih zählt den Film zum Genre des Feelgoodmovie und der Liebeskomödie. Die FSK gab den Film ohne Altersbeschränkung frei, und die Filmbewertungsstelle Wiesbaden schätzt ihn als besonders wertvoll ein. Wie komm ich bei dieser Sachlage dazu, daran rumzukritteln, dass in Berlin an der Uni die Hörsäle so schwach besucht sind, dass es sich darin ungestört vögeln lässt? Wir sind doch nicht im Kino! Wohl aber im TV-Film.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2009

Wo die wilden Kerle wohnen

(USA 2009, Regie: Spike Jonze)

Der hilflose König
von Sven Jachmann

Es brauchte über 25 Jahre, bis die Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker von der ersten Planung bis zur letzten Szene endlich im Kasten war. Zuletzt wurde das Zepter an Spike …

Es brauchte über 25 Jahre, bis die Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker von der ersten Planung bis zur letzten Szene endlich im Kasten war. Zuletzt wurde das Zepter an Spike Jonze weitergereicht. Der machte die Produzenten mit seiner dritten Regiearbeit seit „Adaption“ (2002) nicht wirklich glücklich. Man kann sich denken, woran das liegt. Sicher wäre ihnen eine eskapistische Fantasy-Adaption mit ein wenig CGI-Gedöns und einer finalen Prise versöhnlicher Familienromantik lieber gewesen.

Der Film dichtet der Vorlage noch einige Nuancen hinzu und unterfüttert ihren Optimismus mit einer existenziellen Melancholie, die auch vom Schluss nicht getilgt wird. Wie bei der Vorlage so flieht auch hier der kleine Max vor seiner (in diesem Fall geschiedenen) Mutter kraft seiner Fantasie ins seltsame Land, wo besagte wilden Kerle wohnen (die schon immer etwas irreführende Übersetzung der wild things grenzt nunmehr ans Absurde, befinden sich doch unter ihnen offenkundig auch Kerlinnen). Max hat mit den herzallerliebsten Wonneproppen des konventionellen Kinderfilms (und partiell auch mit dem des Buchs) wenig gemeinsam. Seine Wutausbrüche grenzen ans Psychotische, seine Rachephantasien sind bösartig und brutal. In den wilden Kerlen findet er seine Pendants. Die machen ihn zwar zu ihrem König, aber offensichtlich nur, um ihrem schwermütigen Alltag und der drögen Geselligkeit etwas Abwechslung zu verabreichen. Im Buch schafft er dies noch qua Autorität. Hier sind es recht hilflose Überredungsversuche. Und weil in diesen Unsicherheiten und Ängsten sich ständig Max‘ Projektionen ausdrücken, geraten auch die Spiele mit der wilden Horde immer wieder etwas zu destruktiv und ziellos. So wie auch nach seiner Rückkehr bereits zu ahnen ist, dass sich Zuhause nicht viel ändern wird. Echte Gemeinschaften entwickeln sich nicht, hier nicht, dort nicht. Jonze opfert die idealisierte Kindheit also lieber ihren Widersprüchen – und präsentiert statt Fantasy die Realität der Scheu vor dem Leben.

Duell – Enemy at the Gates

(D / GB / IR 2001, Regie: Jean-Jacques Annaud)

Lieblingstote
von Dietrich Kuhlbrodt

Drehort Brandenburg, und die Stalingrad-Schlacht als Stahlgewitter. Immer wieder blitzen die schönen Augen von Jude Law in der Großaufnahme auf. 'Der Krieg ist ein großes emotionales Erlebnis', gab er in …

Drehort Brandenburg, und die Stalingrad-Schlacht als Stahlgewitter. Immer wieder blitzen die schönen Augen von Jude Law in der Großaufnahme auf. 'Der Krieg ist ein großes emotionales Erlebnis', gab er in der Pressekonferenz zum Besten. Doch dann kam noch gerade rechtzeitig: 'Der Krieg bringt’s nicht.'

Das ging vor der Presse in Ordnung. Doch der Kriegsfilm bringt’s auch nicht. Regisseur Annaud ('Sieben Jahre in Tibet') führt uns Stalingrad als grandiose Bühne für die Zweikampf-Show zweier Scharfschützenstars vor. Deswegen bekommt neben dem Russen-Sniper Jude Law auch der ehrenwerte Wehrmachtsmajor König (Ed Harris) extreme Großaufnahmen. Beide sind auch im jeweils anderen Feindeslager oben in den Charts. Russen und Deutsche werden eins: Publikum. And the winner is …

Annaud machte hinterher Eisenstein für seinen Helden-Showdown verantwortlich. Immer wieder habe er dem Team die Eisensteinfilme vorgeführt – mit ihren Großaufnahmen, wo die Augen blitzen zwischen all den Totalen. Und außerdem sei sein Schlachtgemälde universell; Duelle gebe es überall, auch den Wettstreit um die schöne Frau.

Hätt ich’s doch fast vergessen. Ja, es wird in Stalingrad noch um anderes gestritten, und zwar innerhalb der Roten Armee. Heldenschütze Jude Law und Politoffizier Joseph Fiennes (beides Russen) kämpfen um die Gunst der Russin Rachel Weisz. Auch brauchen die Russinnen Eva Mattes und Sophie Rois Zuwendung. Da hört allerdings der Spaß auf, befindet ein mürrischer Nikita Chruschtschow, gespielt vom Russen Bob Hoskins; Bühne frei fürs Sniper-Duett!

Es ging rund in good old Stalingrad. Im märkischen Sand verpulverten Pyrotechniker ihren Batzen vom größten Filmbudget, das je in Europa verdreht wurde (fast 200 Millionen Mark). Beim Stalingrad-Feuerwerk ging zweierlei drauf, nämlich a) 100 Millionen Mark berlin-brandenburgische Steuergelder der Filmförderung und b) die komplette Filmdramaturgie. Traurig? I wo, mit den 20 Millionen, die im Studio Babelsberg hängenblieben, wurde dort das Gespenst des Konkurses verscheucht. Und der Zuschauer, bliebe er denn die zwei Stunden im Kino, findet seine Lieblingstoten kurz vor dem Abspann wieder unter den Lebenden, Happy-End im Russenlazarett.

Das wahre Stalingrad-Ende kommt allerdings noch. Nach dem Gau der berlin-brandenburgischen Filmfinanzpolitik ('Duell mit Hollywood') und dem sich abzeichnenden Super-Flop des Prestige-Desasters würde ich gern wissen: Wenn auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, was denn auf diesen?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2001

Dutschke

(D 2009, Regie: Stefan Krohmer)

Was Actionartiges ...
von Dietrich Kuhlbrodt

Stefan Krohmer und Daniel Nocke (Buch), die Autoren des Doku-Dramas, geboren 1971 und 1968, fragen sich, wie das damals eigentlich war. Das heißt, sie fragen Leute, die uns das sagen. …

Stefan Krohmer und Daniel Nocke (Buch), die Autoren des Doku-Dramas, geboren 1971 und 1968, fragen sich, wie das damals eigentlich war. Das heißt, sie fragen Leute, die uns das sagen. Was bleibt, sind Köpfe, die reden und deuten und reden und deuten. Die Krone setzt dem der Chefdeuter Wolfgang Kraushaar auf. Stets spielt ein überlegenes Lächeln um seine Lippen, und er weiß, wozu Dutschke „prädestiniert“ war: seine Rolle bei den Grünen zu spielen. Leider kam der Tod dazwischen. Und mir zuckte die Faust, mit der Deutervisage Kraushaar was „Actionartiges“ (Kraushaar) zu machen.

Das Dokumentarische des Doku-Dramas also sind aktuelle Stellungnahmen, gern auch Smalltalk, kaum historisches Material der Endsechziger/Anfangsiebziger-Jahre, und selbst diese Aufnahmen (Empfang des Schahs, Kurras erschießt Ohnesorg, die Bildzeitung hetzt zur Bürgerjustiz) sind zu Dekor entwertet, verschnipselt und mit einer schmissigen Musik überzogen. Wer das gemacht hat, gehört …, – auwei, ich vergaß: der Unterhaltungswert! Gesendet wird zur Primetime!

Auch nicht zu vergessen: es wird ja allerlei nachgespielt. Das funktioniert sogar in Maßen, merkwürdigerweise vor allem in den Nebenrollen. Drei Sätze von einem SDSler, der ob der „Alleingänge“ von Dutschke unmutig ist (Michael Kranz), und schon wird die Spaltung präsent, die dann doch die Einheit der „Bewegung“ (Dutschke) bedrohen sollte. – Anderes Beispiel. Fabian Hinrichs (Peter Schneider) hat den gewissen neutralen Blick, und der genügt uns zu wissen, dass Dutschke auf den Falschen setzt.

Die Autoren („Sie haben Knut“) verstehen ihr Handwerk, souverän sogar, wenn sie zu unserem Amüsement die Interviewten fragen, wie sie den Film machen würden – und Antworten kriegen. Und abgesichert haben sie sich sowieso, indem sie Gretchen Dutschke befragten und ihre Biografie („Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“) zu Grunde legten. Aber grade das ist das Problem. Der „Dutschke“-Film ist hoffnungslos – oder soll ich sagen: ehrlich naiv – personalisiert. Der Held (Christoph Bach) beim Abwasch, beim Windeln. Liebevoll kriecht er nach getaner Politaktion zu Frau (Emily Cox. Ihr glaubt man alles) und Kind in die Federn. Zärtlich bettet er den Kleinen am helllichten Tag im Kinderwagen auf die Dynamitstangen, die Genosse Feltrinelli nach Berlin gebracht hatte. Aber anders, als von ihm gedacht, wird das Gefahrengut von Familie Dutschke im Landwehrkanal entsorgt, – weiß Gretchen. Inzwischen hat der alte Gaston Salvatore, wie wir sehen, beim Interview die dritte Rotweinflasche geleert. Der Filmschnitt bringts, dass er sich mit Bernd Rabehl kabbelt. Toller Auftritt im, – ja, wie nenn ich das, – im neuen ZDF-Format: Dutschke-Magazin.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2010

Fair Game

(USA 2010, Regie: Doug Liman)

Die guten CIA
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Titel setzt fortgeschrittene Englischkenntnisse voraus. Ich musste auch erst im Oxford Dictionary nachschlagen. Fair Game also gleich Freiwild. Es geht um unfaires Gemobbe in der Firma, der Central Intelligence …

Der Titel setzt fortgeschrittene Englischkenntnisse voraus. Ich musste auch erst im Oxford Dictionary nachschlagen. Fair Game also gleich Freiwild. Es geht um unfaires Gemobbe in der Firma, der Central Intelligence Agency. Die Berufsagentin Valerie Plame (Naomi Watts) wird zum Abschuss freigegeben. Ihr Mann, Ex-Botschafter Joe Wilson (Sean Penn), freiberuflich für den CIA in Afrika tätig, wird desavouiert, seine Erkenntnisse – Lieferungen von Uran („yellow mass“) an Saddam gibt es nicht – wegmanipuliert. Die Politstory ist real. Bush jr. brauchte die angeblichen irakischen Massenvernichtungsmittel als Kriegsgrund. Um Kritiker zum Schweigen zu bringen, enttarnte das Weiße Haus die CIA-Angestellte Valerie Plame via Sensationsbericht der Washington Post.

Gut, sie ist verbrannt, enttarnt und ihren Job los. Was ist noch das Drama? Die family values. In den Augen der anderen: die Mutter war Spionin! Die Tochter war Spionin! Die Nachbarin war Spionin! – und vielleicht ist sie es noch!!! – Wie geht eine Frau damit um? Wie rettet sie die Ehe? Denn das Paar operiert getrennt. Sie entzieht sich der Öffentlichkeit (Schweigepflicht!). Er tritt wütend in Talk Shows auf und mobilisiert Studenten. – Zu großen Teilen ist „Fair Game“ Familiendrama.

Atmosphärisch kommt ein wenig Politthriller am Anfang auf, wenn Arbeitsproben der Agentin gezeigt werden. Sie kommt schon verdammt sympathisch rüber. Schnell dann aber tobt der Kampf in den Korridoren der Agentur, und viele Köpfe sagen, was einen aufregt. Aber es bleibt dabei, das Ehepaar Wilson sind die Guten vom CIA, die anderen in Washington sind die Bösen. Und wir sind für die Guten, für den guten CIA. – Noch Fragen? Eben keine. Die amerikanischen Werte werden doch nicht hinterfragt! “God bless America“. Das ist das letzte Wort Sean Penns im Film. Und das vom Freiwild Valerie? „I love my career, and I love my country“. – Das übrigens sagt die originale Valerie Plame in einer Vernehmung. Ein TV-Dokument. Im Nachspann erfahren wird dann noch, dass sie, zu einigen Jahren Gefängnis verurteilt, von Wohltäter Bush jr. ganz schnell begnadigt worden ist.

Weil er im Grunde seines Herzens weiß, dass sie eine Gute ist? Sie ist es, wie wir wissen, und Regisseur Doug Liman („Die Bourne Identität“) hat den Film wirklich gut gemacht. Kein Mensch kann ihn verreißen, ich auch nicht. Das ginge nur intellektuell. Aber so funktioniert es nicht. Es geht hier um Mensch zu Mensch. Es ging um die rechte Spannung zwischen Action und Alltag. Ein Meister war am Werk, ogott.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2010

Eine Frauensache

(F 1988, Regie: Claude Chabrol)

Die Amoral von der Geschichte
von Dietrich Kuhlbrodt

Claude Chabrols Film 'Eine Frauensache' erzählt uns etwas über uns, was wir vorher noch nicht wußten. Und niemand sagt uns, was wir davon zu halten haben 'Gegrüßet seist Du, Marie …

Claude Chabrols Film 'Eine Frauensache' erzählt uns etwas über uns, was wir vorher noch nicht wußten. Und niemand sagt uns, was wir davon zu halten haben

'Gegrüßet seist Du, Marie voller Scheiße, verfault ist die Frucht Deines Leibes', betet die Marie des Films (Isabelle Huppert), dann fällt die Guillotine. Cherbourg, 30. Juli 1943. Das Vichy-Regime hat herausgefunden, wem gegenüber es Macht demonstrieren kann: gegenüber einer Frau, die abtreibt und damit gegen die Staatsideologie verstößt: Travail, Famille, Patrie. Die Abtreibung ist auch ein politisches Verbrechen.

Paris 1988. Frankreichs Katholiken werfen eine Tränengasbombe in ein Kino, das 'Eine Frauensache' zeigt. Einer der Zuschauer stirbt an den Folgen. In Gottes Namen, der aber auch der Name Pétains sowie seiner Heiligkeit in Rom ist. Denn von der Blasphemie des Films fühlen sich gleichermaßen die neuen Freunde der alten Kollaborationsregierung wie die Abtreibungsgegner in aller Welt getroffen.

Völlig zu Recht. Denn Claude Chabrols 'Frauensache' ist eine Parabel, die all die verstören muss, die unerbittlich Recht behalten wollen. Und schon immer alles vorher gewusst haben. Der Film spielt grandios und gradezu unverschämt mit dem Bedürfnis, sich Ansichten zurechtzumachen, das heißt mit uns, und zieht Aufmerksamkeit und Anteilnahme auf das unerlässliche, aber gern vernachlässigte Vorfeld, auf dem es nichts weiter als wahrzunehmen und Erfahrungen zu sammeln gilt. Insofern ist 'Eine Frauensache' zutiefst amoralisch. Aber grade weil ihm das so gut gelingt und weil die großartige Interpretation der Marie durch Isabelle Huppert unsere volle Aufmerksamkeit und Anteilnahme erzwingt, ist der Film schlicht human.

Indem 'Eine Frauensache' uns nah kommt und gegenwärtig, schließlich zu unserer Sache wird, rehabilitiert er die historische Marie-Louise Giraud, die auf einen – authentischen – Kriminalfall reduziert worden ist. Nachzulesen in dem gleichnamigen Buch von Francis Szpiner (éd. Balland), das dem Drehbuch zu Grunde lag. Im Film macht Marie eine Karriere, von der wir weder wissen, was wir davon halten sollen, noch wohin sie führen soll, weil wir damit beschäftigt sind, ihr dabei zuzusehen.

Dass Nachbarin Ginette im Senfbad sitzt, kann sie nicht mit ansehen, weil sie weiß, dass das nichts nützt. Marie holt eine Schüssel mit Seifenlauge, auch ein Klistiergerät und hilft der Frau, die ihr zuvor ihrerseits behilflich gewesen ist und die Kaffeemühle ausgeliehen hat. Ein Tausch unter Frauen, nichts weiter. Doch. Ginette entgilt die Leistung mit einem Grammophon. Das ist ein unerhörter Luxus im Kleinbürgerviertel der Stadt. Marie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie lächelt, tanzt. Eine Ahnung, dass es anders sein könnte – als Regen, Enge, Alleinsein, Hunger, die Misere. Sie macht die Abtreibung zum Geschäft, verblüfft darüber, wie rege ihre Dienstleistung in Anspruch genommen wird. Das Interesse, nämlich die Not der Kundinnen, treibt sie in die Rolle einer Unternehmerin. Ein Kleid, Geld, der Umzug in eine bessere Wohnung. Ein Freund, der clever, smart und daher auch ein bißchen Kollaborateur ist: 'den Nazis beim Unkrautjäten helfen'.

Wir kommen mit unserer Anteilnahme, unserer Sympathie ins Schleudern. Marie, Kind und Erwachsene, hilflos und gierig, fröhlich und launisch, frivol und verletzlich, lieb und böse, – ihre Sehnsucht nach Befreiung und Aufstieg erscheint unversehens, in einem nicht mehr definierbaren Moment, versehrt und beschmutzt. Aber grade dann, wenn wir fertig sein möchten mit ihr und ihren Ambivalenzen und wenn das Urteil festzustehen scheint, wird unseren Reflektionen durch nackte Tatsachen und schiere Gewalt wieder der Boden entzogen. Marie, die verhaftet und der der Prozess gemacht wird, erscheint als Opfer einer reaktionären Justiz, die ein Exempel statuieren und sich an ihr rächen wird – für die eigene Feigheit vor dem Feind.

So wie Marie darf keine sein, sagen die Männer, die sich als wohlfeiles Opfer eine Frau ausgesucht haben, welche die ausgerufene Doktrin schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen hat. Einfach nur Frau sein: das entzieht den Männern, die ihre Macht über ein eigens erdachtes Regelsystem ausüben, den Boden. Eine Provokation, von der Marie nichts weiß.

Sie tanzt mit Rahel und sagt der anderen Frau einen Männersatz: 'Sie haben so schöne Augen, mein Fräulein'. Auch das darf nicht sein. Eine Frau hat auf Männer Rücksicht zu nehmen. Grade in heroischen Zeiten, im Krieg. Marie, die naive, schlaue, nimmt keine Rücksicht, weil ihr gar nicht in den Sinn kommt, dass Heroisches zu sehen ist. Ihr Mann kommt aus dem Krieg zurück, ein Invalide. Marie nimmt ihn kaum wahr, wie er, ebenso eifrig wie verzweifelt, Zeitungsausschnitte zusammenklebt. Aber kaum will der Mann uns dauern, klebt er aus Großbuchstaben ein anonymes Schreiben an die Polizei zusammen und denunziert seine Frau. Wir müssen es aufgeben, unsere Sympathien verteilen zu wollen. Auch der kleine Mann, ihr Sohn, der mit großen traurigen Kinderaugen in die Welt blickt und so tapfer die Rolle des Vaters zu übernehmen versucht, rührt uns an, wie er immer wieder und doch vergeblich, die Liebe der Mutter sucht, die sich ihm entzieht. Bis wir erfahren, was er werden will: ein Henker.

Auf den Zuschauer, der zwischen Schuld- und Freispruch pendelt, übertragen sich die Ambivalenzen des Films: eine eigene Erfahrung des Richtigen im Falschen und des Guten im Bösen. Also hat 'Eine Frauensache' doch einen moralischen Effekt, grade weil Chabrol strikt vermeidet, zu plädieren – für die Abtreibung, gegen die Todesstrafe. Stattdessen wird eine Nebenperson, nein: eine Unperson der Zeitgeschichte zur Hauptsache. Marie-Louise Giraud drückt mit der schieren Präsenz der Schauspielerin Huppert das Zeitgeschehen an den Rand, ins Nebensächliche. Rahel ist eines Tages nicht mehr da, Juden werden deportiert. Marie sagt dazu: 'Rahel, die ist niemals Jüdin, die doch nicht', weil sie sie in Schutz nehmen will. – Nur in einer einzigen Sequenz sind in diesem Film Naziuniformen zu sehen. Auf einem örtlichen Folklorefest. Wer eine lebende Gans köpft, auf einen Streich, hat gewonnen; das macht auch den Deutschen Spaß. Marie guckt nicht hin. Nicht etwa, weil sie das nicht will, sondern weil sie ihren Freund sucht. Sie bleibt unberührt von dem, was um sie herum passiert.

Chabrol zeigt die Huppert in fast jedem Bild seines Films, und erst durch sie, durch ihre Darstellungskraft, gewinnen die Dinge Realität. Es gibt keine Totalen, die Übersicht vorgaukeln. Kein naturalistisches Ausmalen, in das sich die Darsteller einbetten könnten. Keine Arme-Leute-Idyllen, die den Blick anzögen. Huppert bleibt die Hauptperson, weil sie zu den Dingen, die um sie herum sind, auf Distanz gegangen ist, unerreichbar. Nur die Sachen, die sie betrachtet, die sie berührt, werden real. Im Polizeiauto, in Paris, versucht sie durch ein winziges Fenster den Eiffelturm zu sehen. Sie sieht ihn nicht, und es gibt ihn nicht. Real wird dagegen die Postkarte werden, auf der er abgebildet ist. Der Anwalt möchte doch bitte eine kaufen und den Kindern schicken.

Chabrols Film bewegt unser Gewissen, indem er die zeitgeschichtlichen Hierarchien abbaut. Die Vielheit und Einheit eines konkreten Menschen ist in den Mittelpunkt des historischen Ensembles gerückt und als gegenwärtig erfahrbar geworden. Das korrespondiert einer gerade entdeckten Forschungsmethode, der 'Humangeographie'. 'Der Historiker sollte sich an dem Ort niederlassen, an dem sich alle Einflüsse kreuzen, überschneiden und miteinander verschmelzen: im Bewusstsein des in der Gesellschaft lebenden Menschen. Dort wird er die Aktionen und Reaktionen erfassen und die Wirkung der materiellen und moralischen Kräfte, die auf jede Generation einwirken, messen können' (Lucien Febvre in 'Das Gewissen des Historikers', Wagenbach 1988).

In 'Eine Frauensache' erfahren wir daher etwas über uns. Etwas, das wir vorher nicht gewusst haben. Etwas Schönes, Schauriges, Erschreckendes, Wissenswertes. Und niemand sagt uns, was wir davon halten sollen. Die Marie des Films repräsentiert nichts anderes als sich selbst; gleiches wird für den Zuschauer gelten. Die sinnstiftenden Vermittler bleiben außen vor. Offenbar ein Phänomen, das sich nicht auf die 'Frauensache' beschränkt. 'Die Deutschen müssen jetzt das Gefühl entwickeln, dass sie es waren. Wir alle suchen nach Bildern, die uns Anhaltspunkte geben in einer Zeit, die uns alles erklärt hat', schrieb Christoph Schlingensief und drehte den Film '100 Jahre Adolf Hitler/Die letzte Stunde im Führerbunker', der zusammen mit 'Eine Frauensache' auf den Berliner Filmfestspielen gezeigt wurde. Bevor wir jetzt unsere Ansichten zurechtmachen, empfehle ich gefl. den Gang ins Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/1989

Ein Freund zum Verlieben

(USA 2000, Regie: John Schlesinger)

Mutter Madonnas kalte Augen
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film zum Vergessen. – Bleiben wir also noch bei 'Luna Papa' und 'Beresina'; das sind immerhin Filme, wenn nicht gute Filme, und wir machen Bekanntschaft mit den unverbrauchten Gesichtern …

Ein Film zum Vergessen. – Bleiben wir also noch bei 'Luna Papa' und 'Beresina'; das sind immerhin Filme, wenn nicht gute Filme, und wir machen Bekanntschaft mit den unverbrauchten Gesichtern der 22jährigen; ihnen glauben wir auch das Unwahrscheinliche – am liebsten grade das.

In 'Ein Freund zum Verlieben' stehen Tränen in Mutter Madonnas kalten Augen, ihr Real- und Filmfreund Rupert Everett nimmt mit psychotischer Energie sein Recht als Vater wahr, und wir glauben nichts von dem, was die Stars treiben. 'Ein Freund zum Verlieben' ist kein Film. Gewiss, auf der Leinwand bewegt sich was, aber das gehört auf die Bühne eines der Broadway-Boulevard-Theater, meinetwegen ein well-made-play, also unerträglich. Es geht um dreierlei: 1. um Konversation inkl. Pausen für den Zwischenbeifall, 2. um das Fotografieren und Posieren von Mutter und Vater, wozu schöne Motive und raffinierte Beleuchtung gehören: viel Licht von hinten auf Madonnas Kopf, das Gesicht liegt meist im Schatten, und 3. um die Musiktitel, allen voran Madonnas 'American Pie'. Aber ergibt die Summe von 1.+2.+3. einen Film?

John Schlesingers Alterswerk propagiert die family values. Um zu beweisen, daß sie allgemeingültig sind, braucht der Film einen ganzen Theaterakt, nämlich den Gerichtssaal mit dem immer gleichen EinspruchEuerEhren; nach 98 Minuten wissen wir es, weil wir Zeit zum Mitschreiben hatten, dass auch der schwule Vater das Sorgerecht für seinen Sohn (6) bekommen kann. Trotzdem kriegt er das Kind nicht. Wollen Sie wissen, warum? Wegen Schlesinger. Denn um zu zeigen, wie schwul Madonnas Freund ist, fiel ihm nichts anderes ein, als zu zeigen, wie der raucht, die Zigarette qualmt und qualmt in Großaufnahme. Die family values mögen für Schwule gelten, gewiss aber nicht für Raucher.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2000

Ein mutiger Weg

(USA 2007, Regie: Michael Winterbottom)

Feiertagsopfer
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Heldenlied. Michael Winterbottom („Welcome to Sarajevo“) verfilmte das Buch, das Mariane Pearl dem Gedenken ihres Manns widmete. Daniel Pearl, Südostasienkorrespondent des Wall Street Journals, war 2002 in Pakistan entführt …

Ein Heldenlied. Michael Winterbottom („Welcome to Sarajevo“) verfilmte das Buch, das Mariane Pearl dem Gedenken ihres Manns widmete. Daniel Pearl, Südostasienkorrespondent des Wall Street Journals, war 2002 in Pakistan entführt und geköpft worden. Brad Pitt produzierte den Film. Angelina Jolie spielt die Rolle der Autorin. Fakten, Fakten, Fakten. Im Winterbottom-Stil reihen sich sekundenkurze Einstellungen. In Karatchi wird Auto gefahren. Es wird am Rechner gelinkt. Es werden News gekuckt. Es wird telefoniert. Die Gesprächspartner kommen ins Bild. Viele Köpfe erscheinen. Multiple Ermittlungsarbeit. Wo fassen wir die Terroristen. Wo befreien wir die Geisel. Das Wall Street Journal arbeitet mit Geheimdiensten, Polizisten und Diplomaten zusammen.

Winterbottoms Film mutet dokumentarisch an. Vor einigen Jahren hätte man von Dogma-Stil gesprochen. Keine Proben, keine vorgefertigten Dialoge, wohl aber Improvisation, Handkamera, natürliches Licht, also auf der Straße. Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit werden einige „echte“ TV-Dokumente eingespielt. Bei anderen bleibt offen, was was ist. Es ist aber auch egal, weil es dem Film um eine Botschaft geht. Deswegen gibt es in der dokumentarischen Hektik lange Einstellungen, in denen wir Angelina Jolie auf die Lippen sehen. Sie spricht. Der wahre Journalist vertrete nicht sein Land, sondern suche die Wahrheit. Er verstehe sich als Augenzeuge. Er lasse jede Meinung zu Wort kommen. Dann könne er die Guten und die Bösen, Juden und Moslems wieder zusammenführen. Deshalb habe ihr Mann das Gespräch mit Terroristenführern gesucht. Man müsse verstehen: Terroristen gebe es dort, wo Armut herrsche.

Die Armut kommt ins Bild. Ratten huschen im Slum. Aber da der Journalist unparteiisch ist, sehen wir immer wieder ein süßes Pakistanikind, das sich von Angelina Jolie streicheln lässt. – Die Kamera wird ein wenig politischer. Sie zeigt eine Reihe Moslemhintern beim Gebet und gleich danach aufrecht stehende Juden bei gleicher Tätigkeit. Sie zeigt Pakistani, die Tieren die Kehle durchschneiden – Feiertagsopfer. Sie erinnert daran, dass das Schächten auf die Bibel zurückgeht. So wird der Wall-Street-Journalist, dem vor laufender Kamera die Kehle durchschnitten wird, biblisches Opfer. Seine letzten Worte: „Ich bin Jude. Mein Vater war Jude. Meine Mutter war Jüdin“.

Wir lernen von den Pakistani: Mörder fasst man, wenn man foltert (tolle Sequenz). Entführer kriegt man, wenn man deren Verwandte entführt (zwei Cousins in diesem Fall). Toll. Und wo ist jetzt der Scheich? Toll: in Guantanamo. Ende des Films von Winterbottom („Road do Guantanamo“).

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2007

Ein Winternachtstraum

(GB 1994, Regie: Kenneth Branagh)

Sachzwang makes the show go on
von Dietrich Kuhlbrodt

»Why must the show go on?«, fragt sich eine Off-Entertainer-Stimme alle lieben langen Verse hindurch. Was wir sehen, ist, dass jemand auf das Ortseingangsschild von Hope 'Piss off!' gekrakelt hat, …

»Why must the show go on?«, fragt sich eine Off-Entertainer-Stimme alle lieben langen Verse hindurch. Was wir sehen, ist, dass jemand auf das Ortseingangsschild von Hope 'Piss off!' gekrakelt hat, und dann trifft uns wie ein jäher Blitz die Erkenntnis: Es gibt gar keine Alternative zur Show, 'die uns das Leben lebenswert macht'. Welche Realität sollte das sein, und, bitte, wo? Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage muss also lauten, dass der Sachzwang makes the show go on, jedenfalls für alle arbeits- & utopielosen Darsteller und Schauspieler. Und weil das so ist und weil Kenneth Branagh die Show im 'Winternachtstraum' mit einer prima Riege sitcomprominenter Bühnen- und TV-Stars produziert, wobei Joan Collins ('Denver') nicht der schlechteste ist, lässt sich der Film als zuverlässig wirkendes Antidepressivum benutzen. Heiterkeit! Geborgenheit! Sind wir denn nicht eine Familie? Haben wir nicht unseren Spaß?

Übrigens handelt es sich bei der Spaßshow um das eher schwergewichtige Theaterstück 'Hamlet' vom übergroßen Shakespeare. Die Truppe, in der tristen Realität hoffnungs- und aussichtslos, flüchtet sich angesichts von Frust und Depression in eine schier unglaubliche Theaterproduktion. Joan Collins, das einwandfreie Nichtmehrbiest, verleiht Geld, das knapp für eine Billiginszenierung reicht – vorausgesetzt, es sind weder Gagen zu zahlen noch Miete für ein richtiges Theater. Geprobt, gelebt und gespielt wird im leerstehenden St. Peter’s Convent in Piss-off-Hope (Surrey). Premiere: Heilig Abend. Was ist, wenn kein Zuschauer ins Kloster kommt? Egal! Die Requisite setzt Pappkameraden auf die Stühle. Die hl. Schauspielerfamilie ist autark und das gute Ende der fröhlichen, aber auch leicht religiös gefärbten Komödiantenkameraderie vorprogrammiert. Aber wir wissen das schon seit 'Peter’s Friends'.

Branagh erdrückt im 'Winternachtstraum' schon deswegen nicht durch seine schiere Gegenwart, weil er gar nicht mitspielt. Er führt Regie, und das ist klasse. Dem Thema entsprechend lässt er uns an einer ausgesprochenen Billigproduktion teilhaben, und das noch in schwarzweiß, dem Stoff, aus dem die Märchen sind. 'Es ist wie wenn man Mickey Rooney und Judy Garland auf dem Bildschirm sieht, wie sie als 35jährige Personen spielen, die gerade einmal 16 sind' (Branagh). – Im 'Winternachtsmärchen' finden Personen, die keine Ahnung haben, wie man schlimme Realität analysieren und richtige Antworten finden muss, die nächstliegende und allzumal lustige Lösung: sogleich und das nachdrücklich etwas tun, z.B. das leerstehende Kloster in Beschlag nehmen. Ich weiß, das ist der zweite Schritt vor dem ersten usw., aber sagen Sie das mal dieser Truppe, die sich gegenseitig aus der Klemme hilft, ein Show-Kommando sozusagen, schräg und campmäßig drauf: Wir tun, weil wir das brauchen, und will die Welt uns nicht, was schert uns die Welt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/1996

Die Affäre Aldo Moro

(IT 1986, Regie: Giuseppe Ferrara)

Das Gerede eines Films
von Dietrich Kuhlbrodt

Aldo Moro, Parteipräsident der Democrazia Christiana, wird am 16. März 1978 von den Roten Brigaden entführt. Am 9. Mai wird er erschossen aufgefunden – in einer Seitenstraße Roms, die die …

Aldo Moro, Parteipräsident der Democrazia Christiana, wird am 16. März 1978 von den Roten Brigaden entführt. Am 9. Mai wird er erschossen aufgefunden – in einer Seitenstraße Roms, die die Zentralen der kommunistischen und christ-demokratischen Parteien verbindet. Der Tod Moros beendet den Versuch eines historischen Kompromisses zwischen diesen beiden Parteien. Zehn Jahre später hat Giuseppe Ferrara über diese 55 Tage andauernde Entführung einen Film gedreht, einen dramatischen Krimi, der Authentisches und Erfundenes vermengt und den Politiker Moro zum einsamen, gütigen Menschen macht, der von den wilden, instrumentalisierten Brigadisten gefangengehalten wird. Eine zugerichtete Geschichte, die niemandem weh tut

Ein journalistisches Spektakel. Verzweifelt klopft der Eingeschlossene an die Mauern um ihn her, und draußen jagen die Reporter nach Nachrichten. Gelingt die Bergungsaktion? Wird alles getan, um den Verunglückten zu retten? Es wird nicht alles getan. Das gibt übergenug Anlass, Statements einzuholen und Kommentare zu verfertigen, auch ist eine Sondersendung im Fernsehen angezeigt. Verschütt gegangen ist allerdings nicht die Schicht im Bergwerk Borken, sondern Parteipräsident Moro im Volksgefängnis Rom. Ein Medienspektakel. Der Film 'Die Affäre Aldo Moro' ist in vorderster Linie dabei, die ganze Zeit, vom 1. bis zum 55. Tag der Einkerkerung. Und er schlägt alle Konkurrenten. Denn es gelingt ihm, in die Zelle vorzudringen, zu Moro, dem Chef der Christdemokraten, und zu den Brigadisten, die ihn verhören. Die Personen kommen ins Bild und die wesentlichen Sätze ins Mikrofon.

Zwar hat der Film, neun Jahre danach, die historischen Szenen nachgestellt und mit Akribie das berühmte Foto, das Moro unter der Fahne der Brigate Rosse zeigt, in eine Spielfilmhandlung überführt. Aber der Einwand zählt nicht. Die Simulation ist so perfekt, daß sie als solche nicht mehr wahrnehmbar ist. Hektisch folgen die Einstellungen aufeinander, so kurz wie möglich, ein Satz hier, ein Satz dort, und die Stimme des Reporters überschlägt sich; dazwischen Videomaterial, Ausschnitte aus TV-Nachrichtensendungen; ob authentisch oder nicht, ist ohne Belang. Denn die journalistische Perspektive des Films macht aus Spielszenen und Dokumenten das Gleiche: Nachrichtenmaterial. 'Die Affäre Aldo Moro' hat den Blick von Außen. Was lässt sich verwerten?

Verwerten möchte der Film, guter Absicht voll, das recherchierte und inszenierte Bild- und Ton-Material, um einige interessante Thesen zum Hintergrund des Falls Moro zu belegen. Da dies jedoch nur verbal geschieht und Talking Heads nicht eben attraktiv sind, geht die Aufmerksamkeit vor allem dahin, wo den Sinnen etwas geboten wird. Zum Beispiel zur Musik (Pino Donaggio), die immer wieder dramatisch eingreift (gern Streicher und Schlagzeug), aber zu nichts anderem als zu den letzten Dingen führt, die etwa zum Sinnieren über 'Treue' und 'Verrat' Anlass geben. Ja, Aldo Moro sinnt in seiner Zelle genau darüber nach, – er, der seinen Christdemokraten treu war, die ihn nun in seiner Zelle sitzenlassen und verraten. Gespielt wird er von dem großen Schauspieler Gian Maria Volonté, und das ist die Attraktion des Films, die allerdings leider die redlichen, aber blassen intellektuellen Bemühungen des Regisseurs, Thesen zu erarbeiten, in den Schatten stellt. Volonté macht den Politiker Moro zum Menschen, zum Leidenden, zum Opfer – und alle anderen zu Tätern, zu Wölfen. Das Märchen 'Der Jäger und die Wölfe' hatte er noch rechtzeitig vor der Entführung seinem kleinen herzigen Enkel vorgetragen. So viel auch Politiker in diesem Film herumrennen, agieren und konferieren, Volonté spricht in der Rolle des Moro, des gütigen, sympathischen, menschlichen, eine andere Sprache: die Sprache des Herzens. Es ist die Hauptrolle, und Volonté bekam dafür auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin einen Silbernen Bären als bester Darsteller.

Die Schauspielkunst des Moro-Darstellers ist eindrucksvoll, aber eindimensional und entpolitisierend. Sicherlich ist es der nicht zu übersehenden Naivität des Regisseurs Giuseppe Ferrara zu verdanken, seinen Film mit dem in Italien sehr bekannten Namen Volontés zu schmücken. Nicht nur Cineasten ist der Schauspieler aus den edelsten der italienischen Filme bekannt. Jedes italienische Kind ist mit ihm aus unzähligen Fernsehfilmen vertraut. Freilich kennen wir hier nicht das spezifisch italienische Genre des politischen Fernsehfilms, der den authentischen Hintergrund mit TV-Stars bevölkert. Und solange wir hier auf den heimischen Monitoren keinen Spielfilm über die Affäre Uwe Barschel sehen können, sollten wir die Plakativitäten und Sentimentalitäten der 'Affäre Aldo Moro' nicht scheuen, um etwas über den politischen Hintergrund des Falles zu erfahren.

Gesagt wird dazu vieles, vornehmlich andeutungsweise. 'Die Affäre Aldo Moro' ist ein Dialogfilm. Laut und vernehmlich lassen sich lediglich die Brigadisten hören, protokollgerecht reden sie ihren Gefangenen mit 'Herr Präsident' an, schätzungsweise hundertmal im Film. Nach dem uns gut bekannten Muster 'Um 10.40 wird zurückgschossen' lassen sie Sprüche ab wie 'Wir sind im Krieg, Herr Präsident! Sie sind im Volksgefängnis! Wir haben mit dem Angriff auf den Staat begonnen!' Aber sie sind keine Menschen, auch wenn dem einen die Stimme einmal zittert, sondern nützliche Idioten und nur Vordergrund, denn sie spielen das Spiel der eher anonymen Mächte, die mit ihrer Hilfe den unbequemen Politiker Moro loswerden wollen. Die Brigadisten arbeiten nämlich dem ISM in die Hand. Dem ISM? Wir erfahren in Synchrondeutsch, dass es sich dabei um den Internationalismus der multinationalen Konzerne handelt. Und dass die Roten Brigaden, nur den bewaffneten Kampf im Auge, den politischen Hintergrund nicht zu durchschauen vermochten.

22 Brigadisten sitzen nach der Hinrichtung Moros in lebenslanger Haft, und sie entrüsten sich über die Aussage des Films. Regisseur Ferrara hat sich denn auch in einem Interview mit Franca Magnani, jetzt im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, beeilt, den Verurteilten zu versichern, daß sie nicht instrumentalisiert worden seien – mit der für ihn und seinen Film bezeichnenden formalen Begründung: 'weil sie autonom sind'. Die absurde Exkulpation ändert jedoch nichts an der in Frageform vorgebrachten Behauptung des Films – und dafür liefert er einige Indizien – , dass den unterschiedlichsten politischen Kräften die Rückkehr Moros aus der Brigadistenhaft unerwünscht war. Weswegen der Dialog mit den Terroristen verweigert, ihre Forderungen ignoriert und der Tod des Häftlings in Kauf genommen wurde. Also wer? Die Roten Brigaden brauchen die Hinrichtung explizit – zwecks Stabilisierung der ins Wanken geratenen 'Kolonnen' (synchrondeutsch); immerhin ist dies nur eine Mehrheitsentscheidung, gefällt während hochdramatisch die Polizei bereits den konspirativen Treff umstellt hat, viel Blaulicht flackert und das Käsebrötchen ungegessen bleibt. Auch Moro verschmäht das Weißbrot, das gleich drauf groß ins Bild kommt, denn ihn schmerzt der Verrat seiner christdemokratischen Parteigenossen: 'Macht verliert Berechtigung, wenn sie unmenschlich wird', erkennt er. Aber wir haben noch mehr: die KPI, die Nato, CIA, Pentagon, ISM nicht zu vergessen, Bonn, Zion und den Teufel.

Um mit dem letzten anzufangen, Moro selbst kommt es vor, 'als ob der Papst selbst Teil eines unergründlichen teuflischen Plans ist', denn Paul VI. entschied sich angesichts der Alternative von Staatsräson und Menschlichkeit dafür, gegenüber den Forderungen der Terroristen standhaft zu bleiben. Die 'einfache und bedingungslose' Freilassung Moros verlangte seine Heiligkeit von den Roten Brigaden. Damit besiegelte er das Schicksal des Opfers. Nun zu Zion. Auch hier legt der Film die argumentative Spekulation raffinierterweise in den Mund des verstorbenen Moro (wie er auch sonst eigene Erklärungen und Statements gern von Dritten zitieren lässt: sie werden dadurch zu journalistisch verwertbarem Material). Moro also spekuliert in seiner Zelle, dass die von ihm eingeleitete pro-arabische Öffnung beanstandet wird, weil dadurch die Nato sowie Israel nicht zu den gewünschten 'Stützpunkten', nämlich den 'Landungsplätzen' in Sardinien kamen; wie sollten die Natopartner daher rasch den Israelis zu Hilfe eilen können? Moro bestätigt damit indirekt die Kriegstheorie der Roten Brigaden, die zwar nicht ausdrücklich von Israel sprechen, aber mindestens bei uns wird der bekannte Satz aktiviert 'Die Juden haben Deutschland den Krieg erklärt', wenn der Brigadist im Film plakativ seine Motivation mit der Feststellung erläutert: 'Das Kapital hat der Arbeiterklasse den Krieg erklärt'.

Von der Rolle Bonns und seiner Geheimdienste hätten wir in diesem Film gern etwas Genaueres gehört. Der Film belässt es beim name dropping und vagen Andeutungen. Sind nicht in der Bundesrepublik zuvor zwei Häftlinge aus Gründen der Staatsräson in ihren Zellen zu Tod gekommen – so wie Moro aus den nämlichen Gründen dem gleichen Schicksal überlassen wird? 'Aus den gleichen Gründen', sagt der Brigadist, 'wie Baader und Meinhof sich in ihren Zellen in Stammheim umgebracht haben, hätten wir Sie, Herr Präsident, zum Selbstmord zwingen können'. Aber die Roten Brigaden ziehen das förmliche Verfahren vor und vollstrecken ein Urteil des 'Volksgerichtshofes'.

Weitere konspirative Macht der Verschwörung, der Aldo Moro zum Opfer fallen wird: Pentagon-Nato. Sie wollen mit dem DC-Chef denjenigen wegräumen, der die Partei politisch nach links geöffnet hat und die KPI an der Regierung beteiligen wird. Und Berlinguer selbst, staatsbewusster als der Staat, die Realisierung des compromesso storico vor Augen, formuliert die bekannten Berührungsängste: kein Kompromiss mit den Terroristen, 'wir lassen uns von den Roten Brigaden nicht einschüchtern'.

Im Gerede dieses Films verdüstert sich der Hintergrund der Aldo-Moro-Affäre, die zu erhellen doch Anliegen des Films gewesen war. Der Vorsatz, Reportage und Faktensammlung sein zu wollen, steht dem von vornherein entgegen. Ihren Ausdruck finden auch die Roten Brigadisten nicht. Sie sind zu Zitatenträgern und Stichwortgebern degradiert, verbiesterte Intellektuelle neben dem Mann des Herzens, Held und Opfer dieses Films. Ja, Moro will eine Bibel in der Zelle haben und eine Audiokassette, auf der die heimatliche Messe aufgenommen ist. Genau das bringt die bunte Faktenschau heraus, und das ist wenig, aber etwas fürs Gemüt und einen großen Filmverleih.

Einmal rückt der Film ein Filmplakat ins Bild: Bertoluccis 'Letzten Tango'. Ein fataler Vergleich für den Film 'Die Affäre Aldo Moro' . Denn Bertolucci hat in dem Film, der dem 'Letzten Tango' folgte, den historischen Kompromiss zwischen dem Partito Comunista Italiano und der Democrazia Cristiana zum Gegenstand eines Großwerks gemacht und ihm Form und Ausdruck gegeben: in 'Novecento', gedreht in den Jahren, in denen Aldo Moro Politik machte, 1974 – 1976. 1978 war Aldo Moro tot. In Ferraras Film wird er jetzt auch politisch erledigt. Der Papst selbst hält die Totenmesse, und uns werden zwei unterhaltsame und besinnliche Stunden erlaubt: Wie war das denn noch, seinerzeit vor einem Jahrzehnt? Jaja, was 1978 Kraft, Kampf und Stärke war, ist jetzt journalistisch sauber zugerichtet, und es tut keinem mehr weh.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/1988

Anonyma – Eine Frau in Berlin

(D 2007, Regie: Max Färberböck)

Blicke wandern hin und her
von Dietrich Kuhlbrodt

Verfilmt ist das Buch einer Zeitzeugin. Sie ist nur Eingeweihten namentlich bekannt. April 1945. Berlin. Der „Schändungsbetrieb“ der Roten Armee. Ein Vergewaltiger reißt einer Frau die Kiefer auseinander und spuckt …

Verfilmt ist das Buch einer Zeitzeugin. Sie ist nur Eingeweihten namentlich bekannt. April 1945. Berlin. Der „Schändungsbetrieb“ der Roten Armee. Ein Vergewaltiger reißt einer Frau die Kiefer auseinander und spuckt ihr in den Mund. Großaufnahme. Anonyma verlässt die Opferrolle und prostituiert sich freiwillig. Sie findet einen Beschützer. Andere tun es ihr nach. Major Andrej (Evgeny Sidikhin) tut Frauenproteste ab: „Die paar Minuten“. Dann aber spielt er Klavier bei den Frauen. Schubert. Die Soldatenklientel feiert rauschende Feste im Frauenhaus. Wodka. Krakowiak. Und sie sind freizügig. „Die Russen spielen gerne Weihnachtsmann“. Man muss sie verstehen. „Wenn die Russen das mit uns tun, was wir ihnen angetan haben, dann gibt es in Bälde keine Deutschen mehr“. – „In Bälde?“, fragt Irm Hermann zurück, „so was sagt doch keiner“. Der Major entpuppt sich als feiner gebildeter Mann. Er und Anonyma verstehen sich. Eine Beziehung. Anonyma: „Ich möchte mich bedanken, dass ich Sie kennenlernen durfte“. Fazit: „Wir Frauen sind jetzt auf Lebenszeit gestempelt, aber für den Moment fühl ich mich katzenwohl“. Deutsche Frauen haben sich dank der Roten Armee emanzipiert. Ihre Männer, zurück aus Sibirien, versagen (Selbstmord, Tobsucht). Alles gut? Nein. „Das Unglück hat die größere Fantasie“: Stalin.

Das Buch ist frei von Larmoyanz, kein Opfer-Pathos, aber sachlich kühl, schnoddrig, – rühmt Filmproduzent Günter Rohrbach. Doch der Film trifft diesen Ton nicht. Im Gegenteil. Der Schnitt ist getragen, bedeutungsschwer, pathetisch. Er legt Pausen ein zwischen den Sätzen, dass Blicke wandern, hin und her. Auf Fragen folgt Schweigen. Aus dem schnodderigen Zeitzeugenbericht wird das Weihespiel von Opferfrauen. Eine Schnittkatastrophe, aber immerhin die Länge für einen ZDF-Zweiteiler. Und das ist das zweite Problem. Die Darstellerinnen agieren wie in einem TV-Spiel, die russischen Schauspieler wie auf der Bühne. In einem Film, der mit gefühlter halber Geschwindigkeit projiziert wird. Verloren geht dabei der beeindruckende authentische Touch des Szenenbilds (Uli Hanisch). Verloren hat auch die Schriftstellerin Anonyma gegen die Schnittmeisterin Ewa J. Lind.

Es ist vorauszusehen, dass die Rezeption des Films wieder Opfer (deutsche Frauen) und Täter (Sowjets) sortiert. Das Presseheft steuert in diese Richtung. Es druckt die UN-Resolution von 2008 ab, die sexuelle Gewalt gegen Zivilpersonen verurteilt. In Ordnung das. Afrika heute! Aber was soll das beweisen? Dass die Rote Armee sich vor sechzig Jahren eines Verstoßes gegen den Beschluss des Sicherheitsrates von 2008 schuldig gemacht hat? Und: kommen die Milizen von heute aus einem Land, das von uns verbrecherisch angegriffen worden war und 26 Millionen Tote (Opfer!) zu beklagen hatte? Nochmal: so, wie der Film geworden ist und so, wie er wahrgenommen werden wird, contrakariert er das, was das Buch sagen wollte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2008

Astronaut Farmer

(USA 2006, Regie: Michael Polish)

Familiäre Wärme
von Dietrich Kuhlbrodt

Wieder diese epischen Westernhorizonte. Vor der glutrot untergehenden Sonne vorbei reitet der Lonely Cowboy, doch nein, jetzt fällt Licht auf den weiß reflektierenden Raumanzug. Ein Mann muss tun, was er …

Wieder diese epischen Westernhorizonte. Vor der glutrot untergehenden Sonne vorbei reitet der Lonely Cowboy, doch nein, jetzt fällt Licht auf den weiß reflektierenden Raumanzug. Ein Mann muss tun, was er tun muss, und er muss es allein tun gegen den Widerstand von Patriot Act, CIA und FBI, nämlich mit der selbstgebauten Rakete ins Weltall zu fliegen. Und zurück. Unser Astronautbauer (Billy Bob Thornton) verwirklicht seinen Traum, den uramerikanischen Traum. Schlimm nur, dass der Ehering verloren geht (keine Angst, er ist dann wieder da, und wir weinen vor Glück). Die Farmerfamilie, autark, ist die Einheit, aus der heraus der Mann erfolgreich operieren kann. Eine glückliche Basis. Zuversicht strahlt aus den Augen von Weib und Kind, lachende Münder in Großaufnahme, es ist nicht zum Aushalten, und wir wissen nicht, wenn ich mal für die Zuschauer sprechen darf, ob wir lachen oder weinen sollen.

Klischee? Parodie? Nach einigem Schwanken findet man Halt auf dem Grat. Michael und Mark Polish (Buch, Regie, Produktion) haben es raus, ihre schönen Bildtotalen vom Poetisch-Surrealen immer wieder in Parodie und Satire zu kippen. Die Familie, die lustigen Kinderlein (es sind der Polish-Brüder eigene) sind nicht da, um Werte zu verkörpern, sondern um gegen die Allmacht von Staat und gegen den Kontrollwahn zu kämpfen. Oder anders gesagt, dezidiert selbstreflexiv: angesichts der gegenwärtigen Lage zurück zur Independent-Strategie. Drum haben die Polish-Brüder soeben ein Printwerk geschrieben, das sich als Leitfaden für unabhängige Nachwuchs-Regisseure versteht. Der Independent Farmer wird dadurch zu unser aller Vorbild, freilich fern von Diskurs, Argumentation, Theorie und Dogma, dafür einladend durch Bild, Ton, familiäre Wärme (nein, hier kein Mief!!) und klasse Country Music.

Mögen wir Intellektuelle auch die linke Augenbraue hochziehen, Film ist nun mal Bildwerk, und damit bleiben Fragen offen. Immerhin sind wir uns doch wohl einig, dass eine Familie wie die unseres lonely Astronautboys sehr wohl eine Zelle im Independentkampf sein kann. Ganz real haben die Polish-Brüder in den letzten Jahren Raketen-Filme wie „Twin Falls Idaho“,'Jackpot' und „Northfolk“ in das Hollywood-Weltall geschossen und dabei die herzigen Kinder produziert, die uns in „Astronaut Farmer“ anstrahlen. Die alte, neue Independence hochzuhalten gegen die bösen Systeme, – das ist romantisch und aktionistisch zugleich, magischer Realismus und Handlungsanleitung. Ej, da kommt der Rocket Man. Elton John auf der Tonspur!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2008

Beresina oder die letzten Tage der Schweiz

(CH / D / A 1999, Regie: Daniel Schmid)

Geübte Masochisten
von Dietrich Kuhlbrodt

Die russische reine Törin Panova wird in Zürich – was dachten denn Sie? – als Domina in einem SM-Studio eingesetzt. Zuhälter sind Prominente aus der Wirtschaft: Rechtsanwalt Dr. Waldvogel (Ulrich …

Die russische reine Törin Panova wird in Zürich – was dachten denn Sie? – als Domina in einem SM-Studio eingesetzt. Zuhälter sind Prominente aus der Wirtschaft: Rechtsanwalt Dr. Waldvogel (Ulrich Noethen) und seine Frau (Geraldine Chaplin in ihrer unangenehmsten Rolle). Wir lernen die Führungskräfte der Schweiz ausnahmslos als geübte Masochisten kennen, die sich vor der jungen Russin am Boden krümmen und ihr die schwarzen Stiefeletten lecken; auch muss dem einen schon wieder eine Körperschlinge im Nacken nachgebunden werden. Die sexuellen Obsessionen sind in diesem schönen Film von derselben Selbstverständlichkeit wie die Geldwäsche. Die alten Herren sind undämonisch, korrupt und krank; immer wieder schwärmt Joachim Tomaschewsky, der Altbundesrat, von der geglückten Arterienoperation, bis zur Erleichterung des Zuschauers der nächste Infarkt dann doch noch glückt. Regisseur Schmid ('Thut alles im Finstern, Eurem Herrn das Licht zu ersparen') wendet sich den Herren, die auch Kunden sind, mit viel Verständnis und Liebe zu. Der legendäre Kameramann Renato Berta ('On connaît la chanson') nimmt sie schön ausgeleuchtet und völlig unsatirisch auf, und die Kino-Besucher übernehmen die rosafarbene Perspektive der Ausländerin-ohne-Arg, der die Schweiz das gelobte Land und die Staatsbürgerschaft die Verheißung ist. Wir liegen dieser Heiligen zu Füßen, lecken und sind arglistig, denn den versprochenen Schweizer Pass kriegt sie niemals.

Und doch wird die Hl. Moskauerin gekrönt werden, in einer majestätischen Totalen, in der sich die Queen von England nicht wiedererkennen würde, ein erhabenes Spektakel, eine Apotheose des Göttlichen, die Königin der Schweiz, eine Russin. – Immer noch erzählt der Film seine Geschichte, keine Albernheit. Aber eine Freude war es schon, wie die biederen Schweizer Pensionäre der SM-Monarchin den Weg freischossen. Stammfreier-Divisionär Benrath hatte seinen Umsturzplan (den Beresina-Alarm) im Etablissement leider vergessen. Und eigentlich war es den alten Kommunistenfressern drum gegangen, dass keiner die helvetischen Obsessionen stört, schon gar nicht eine Frau, und erst recht nicht eine aus Russland.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/1999

Borat

(USA 2006, Regie: Larry Charles)

Etwas toppen!
von Dietrich Kuhlbrodt

Judenhatz in Kasachstan. Eine Reportage des kasachstanischen Fernsehens. Die kyrillischen Texte sind untertitelt. Der Jude, und er sieht so aus, wie alle Antisemiten wissen, dass ein Jude aussieht, – der …

Judenhatz in Kasachstan. Eine Reportage des kasachstanischen Fernsehens. Die kyrillischen Texte sind untertitelt. Der Jude, und er sieht so aus, wie alle Antisemiten wissen, dass ein Jude aussieht, – der Jude also, gradewegs einer Stürmerkarikatur entsprungen, wird von einer Meute Kinder und Jugendlicher durch die Stadt gejagt – ganz wie der Stier in Pamplona. „Fast hätte er mein Geld geschnappt!“. Der Jude hockt sich hin. Legt er ein Ei? „Zerschlagt das Judenei, bevor das Kücken kommt!“

Das Staatsfernsehen Kasachstans schickt einen Reporter in die USA, von den Segnungen der Zivilisation zu berichten: Borat. Wir kennen ihn hier als Ali G (Sacha Baron Cohen), den Paki-Underdog und Hip-Hop-Moderator in einer englisch-amerikanischen Kultshow (Channel 4, HBO, MTV, Viva). – In Borats Reportage werden nun der Reihe nach Vorurteile getoppt und lächerlich gemacht. Schön, die Exposition ist fiktiv. Die Reise durch die USA aber wird zum Dokument. Borat lässt sich in Mitten der amerikanischen Gesellschaft filmen, ihm wird seine kasachstanische Rolle abgenommen. Wir finden uns in der Realität wieder, und das ist die ungeheure Wirkung des Films, dass mit klitzekleinen Vorgaben und ohne jede Anstrengung hervorgekitzelt wird, was die Leute sonst nie zu sagen wagen. „Borat“, der Film, glückt als soziales Experiment und als böse Vorschau auf das, was abrufbar ist, wenn es einer abrufen wollte. Und gleichzeitig ist es urkomisch, was der Film ans Licht des Tages bringt, von einem Fettnapf in den anderen tretend, geschmacklos, Tabus missachtend. Auwei, und ich hab auch gelacht, in Hamburg, mitten in der Sondervorstellung für das hier in Dulsberg Süd beheimatete Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung, das bereits 8 Tage vor der Besichtigung Strafanzeige gegen den „Brandanschlag auf die Demokratie und auf Art. 1 GG“ erstattet hatte.

„Wenn diese Auto fährt in eine Gruppe von Zigeuner: Gibt es Schaden an Auto?“, fragt Borat, der falsche Autokäufer, an der US-Ostküste einen echten Verkäufer, der sich, nichts böse ahnend, filmen lässt. „Kommt drauf an, wie heftig Sie sie treffen“. – „Heftig!“ – „Die Windschutzscheibe könnte hin sein“. Mehr nicht, dann wird der Kauf perfekt. – Was hier für die Demokratie gefährlich ist, ist die sehr reale Mentalität der Minderheitenverachtung, die vom Film „Borat“ an den Pranger gestellt wird. Man muss den Film gesehen haben, um sich ein konkretes und reales Bild vom Gewaltpotential zu machen – mitten in der bürgerlichen Mehrheit. Komödiant Borat spielt den naiven Reporter, frauenfeindlich, rassistisch, schwulenfeindlich, Islamisten hassend. Keine Provokation, sondern Attraktion für die nun nicht mehr schweigende Mehrheit. Im Waffenladen: „Welche Pistole ist am besten geeignet, sich gegen Juden zu verteidigen?“. „Die 9-mm!“. – Beim – echten – Rodeo in Salem, Virginia, bekommt der vorgebliche Kasache das Mikrofon und erklärt sich mit den Truppen solidarisch. „Ich hoffe, ihr tötet jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Irak, bis zur letzten Eidechse!“ Jubel im Stadion. „Möge George W. Bush das Blut jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes im Irak trinken!“ Der Jubel wird schwächer. Etwas toppen, bringt Zweifel und evtl. Erkenntnis.

„Borat“ ist urkomisch, gewitzt und eine wunderbare Waffe auch für die hamburger Antiziganismusforscher. Sicher wäre es ratsam, ein Fünkchen Verständnis für so etwas wie jüdischen Humor zu haben. Gegen die Jugendfreigabe des Films in Deutschland durch die FSK war vom Zentralrat der Juden in Deutschland nichts einzuwenden. Regisseur Sacha Baron Cohen, walisisch-iranisch-jüdischer Abstammung, muss sich in den USA lediglich vorwerfen lassen, mit seiner Satire sexuelle Grenzen überschritten zu haben. Folge: „Rated R“. Dass er alle anderen Grenzen auch überschreitet, macht ihn zur Nummer 1 für das, was unter uns Akademikern Krisenexperiment genannt wird und was wir altmodisch Aufklärung heißen oder mediengerecht gesellschaftskritische Comedy. Ist es zum Lachen? Es ist zum Lachen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2006

Bronsteins Kinder

(D / PL 1990, Regie: Jerzy Kawalerowicz)

Abgang hinten rechts
von Dietrich Kuhlbrodt

In Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags hat das ZDF den Film 'Bronsteins Kinder', ein tragisches Bewältigungstheater, für einen zweifellos nächtlichen Einsatz erworben. Langes Zuwarten wird dieser melodramatischen Politfabel jedoch nicht guttun …

In Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags hat das ZDF den Film 'Bronsteins Kinder', ein tragisches Bewältigungstheater, für einen zweifellos nächtlichen Einsatz erworben. Langes Zuwarten wird dieser melodramatischen Politfabel jedoch nicht guttun

Der Film 'Bronsteins Kinder', der demnächst in die Kinos kommt, ist zwei Jahre alt und somit ein Stück kulturelles Erbe der Defa-Zeit. Aus ihm lernen wir, dass die Vergangenheitsbewältigung auf erschütternde Weise scheitert, wenn sie als Selbstjustiz betrieben wird. Bewältigt werden soll der Nationalsozialismus, weshalb die Filmhandlung denn auch modellhaft in der vergangenen DDR angesiedelt wird, genauer: im Jahr 1973, in dem Walter Ulbricht starb. Wie aber bewältigen wir einen Film, der uns das Scheitern vorführt?

Vor knapp 20 Jahren. Berlin, Hauptstadt der DDR. Ein Judenfriedhof. Unter frommen Gesängen wird ein Sarg ins Grab gelassen. Bedeutungsschwer kucken sich die Trauergäste an. Wieder und wieder. Sie wollen etwas sagen. Aber was? Wir sehen: Da wird etwas für uns inszeniert. Wir werden etwas lernen sollen. Und schon beginnt eine off-Stimme zu dozieren. Die Spannung steigt, denn schon wissen wir zwar, daß etwas Bedeutsames geschehen ist, wir wissen allerdings nicht, was. Die Neugier, falls sie denn hervorgerufen worden sein sollte, befriedigt die anschließende Rückblende. In wohlgesetzten Worten behauptet der Sprecher, wir wohnten der Austragung eines jüdischen Generationenkonflikts bei.

Debut-Star Matthias Paul signalisiert gestisch, mimisch und verbal gleich zweierlei, nämlich erstens, daß er die Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch' absolviert hat, zweitens, dass er den Judenjungen Hans spielt. Angela Winkler zitiert und zelebriert erstens ihre eigene Vergangenheit in den Filmen 'Die verlorene Ehre der Katharina Blum' (1975) und 'Heller Wahn' (1982), zweitens mimt sie die in einer psychiatrischen Klinik stationär versorgte Bronstein-Tochter Elle. Die Film-Geschwister beraten über ihren Vater Arno. Dieser ist nicht nur ein Profistar mit Weltniveau (Armin Mueller-Stahl), sondern Film-Opfer des Faschismus (KZ Neuengamme) und außerdem ein Vater, der seine Tochter im Krankenhaus nicht besucht und seinem Sohn das Sekttrinken auch dann verbietet, wenn das Abitur gefeiert werden soll.

Was ist los mit Vater Bronstein? Er ist mit der Ausübung von Selbstjustiz überfordert. Zusammen mit zwei Rentnern hat er einen ehemaligen 'Aufseher' des KZs Neuengamme (Rolf Hoppe) entführt und versucht, ihn in tagelangen verschärften Vernehmungen zu einem Geständnis zu bringen. Mit gebotener Zurückhaltung zeigt der Film, wie der Täter von einst misshandelt und ein wenig gefoltert wird. Abstoßend sind diese Szenen nicht, denn was den Zuschauer überwältigt, ist die große Kunst der Maske (Fredy Arnold) und des Schauspiels (Hoppe). Außerdem: Wer unter diesen Misshandlungen am meisten leidet, das ist Vater Bronstein selbst, der alte Jude. Der Prozedur nicht gewachsen, greift er zum Weinbrand, lässt den Pufferkuchen liegen, fasst sich ans Herz und bricht entseelt neben dem entführten Ex-Aufseher zusammen. Da stürzen helle Tränen aus des Sohnes Augen, wie wild feilt er die Handschellen des Peinigers von Neuengamme auf, obwohl der tote Vater doch die Schlüssel in der Tasche trägt und der Entführte ihn auf diesen glücklichen Umstand ausdrücklich hinweist. Nein! Die Emotion ist stärker als der Verstand. Und deswegen, so die Botschaft des Films, kann die Vergangenheit ‘objektiv’ nicht bewältigt werden.

Jurek Becker ('Jakob, der Lügner') hat seinen Roman unter Verzicht auf ironische Untertöne in eine Drehbuchfassung gebracht, in der Worte und Personen sich gegenseitig dementieren. Wenn man weder den einen noch den anderen zu glauben vermag, dann mag das daran liegen, dass Regie-Altmeister Jerzy Kawalerowicz (70) – 1960 drehte er seinen berühmtesten Film 'Mutter Johanna von den Engeln' – durch eine gradezu verzweifelte Häufung von Schauspieler- und Kamerabewegungen in das weitgehend aktionslos angelegte Kammerspiel hineinzuregieren versuchte. Mit anderen Worten: Der hochverdiente Regisseur war der erste, der dem Bewältigungsmelodram den Glauben verweigerte.

Um den rechten Glauben aber geht es dem Film – um Freund, Feind und Parteilichkeit als Voraussetzung zu gerechten (nicht: objektiv richtigen) Entscheidungen. 'Du sollst mich nicht wie einen Feind behandeln!', mahnt Hans seinen Vater. Doch dieser wird sehr deutlich: 'Du bist mein Feind', beharrt er, denn der Junge hat zwar pflichtgemäß darüber nachgedacht, 'zu wem ich gehöre', aber nicht die Unart aufgegeben, 'objektiv zu sein, statt Parteilichkeit zu zeigen: Zorn auf Lumpen und Mörder'. Beleidigt rauscht Vater Bronstein aus der Kulisse (Abgang hinten rechts).

Nun hätte diese Auseinandersetzung die Möglichkeit geboten, dem Film sein Thema wiederzugeben, denn auch der generationenalte Streit über die Priorität der Organisationsfrage bedarf der Fortführung. Die Dialoge dieses Films sind den Personen jedoch so beliebig zugeschoben, dass Gedankengänge darstellerisch kaum fixiert werden können. Vater Arno, so autoritär er gezeigt und gespielt wird, ist der Erste, der nicht weiß, zu wem er gehört. Er will zum Beispiel kein Jude sein. 'Sie sind eine Erfindung', sagt er, 'und besessen, sich in die Rolle der Juden zu fügen. Sie würden sich wehren, nähme man ihnen diese Rolle weg'.

Kawalerowicz hat diesen Spruch wörtlich genommen und zeigt in einer eingeschobenen Film-in-Film-Szene Komparsen, die in einem Neuengammefilm jüdische Opfer spielen. Jüdische Komparsen spielen wie besessen jüdische Opfer. – Sohn Hans findet das Verfahren unausgewogen: 'Wenn die Opfer von Juden gespielt werden, dann müssen SA- und SS-Leute von ehemaligen SA- und SS-Nazis gespielt werden.' Parteilichkeit als Rollenspiel?

Der Rollen-Jude Bronstein sen. gibt jedoch noch weiteren Anlass, sich mit der Frage zu beschäftigen, wes Freund er eigentlich sei. Auf die naheliegende, von Hans gestellte Frage, warum er denn die Vernehmung des KZ-Schergen und die Ahndung der Verbrechen nicht den zuständigen sozialistischen Organen, nämlich der DDR-Justiz überlasse, antwortet er: 'Weil es keine Gerichte gibt, die wir für anständig halten können.' Sein Sohn gibt daraufhin zweierlei zum besten: 1. 'Die DDR geht mit ehemaligen Nazis hart ins Gericht'. 2. 'Sie ist ein Land, in dem die Gerichte einen Dreck wert sind'. Dann verlassen beide in entgegengesetzten Richtungen das Motiv (Abgang hinten links und hinten rechts).

Damit ist das Thema der antifaschistischen Solidarität erschöpft. Fazit: Es gibt sie nicht. Aber hat Hans in seinen Antrag auf Zulassung zum Studium der Philosophie nicht reinschreiben können: Opfer des Faschismus? Ist er etwa 'zu stolz', diese Rolle anzunehmen? Verzichtet er lieber auf die Zuweisung einer Wohnung? Und schon verliert der Film sich wieder in der sehr fragmentarischen Beschreibung eines Bildungsweges, ohne dass daraus eine Rolle würde.

Günstigstenfalls ließe sich zu 'Bronsteins Kinder' sagen, dass er Protagonisten zeigt, die nicht in der Lage sind, Gedanken zu fassen. Bronsteins Tochter sitzt in der Tat im Irrenhaus. Das antifaschistische Motiv: Entführung, Volksgefängnis, Selbstjustiz – es wird in diesem Trauerspiel bloß angeschlagen und rasch abgetan. Das Verhör des Neuengamme-'Aufsehers' in der brandenburgischen Datscha reduziert sich auf den Spleen psychotischer Rentner, die Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeneration auf Konversation über individuelle Befindlichkeiten. Zeitliche Datierung und örtliche Fixierung dieses Film sind zwei seiner zahlreichen Behauptungen, denen es an jeder Begründung fehlt. Müssen die Rentner zur Selbsthilfe greifen und den Schergen gefangennehmen, weil Ulbricht im Fernsehen eine aktive Friedenspolitik propagiert, weil die dem Wesen des sozialistischen Staates entspreche? Oder schimpft der Sohn seinen Vater einen 'Wichtigtuer', weil Brandt abtreten muss, nachdem ihm ein Spion von der DDR ins Nest gesetzt worden war?

Je abstruser die Bezüge werden, desto wahnhafter gerät die Do-it-yourself-Justiz der drei jüdischen Neuengamme-Opfer. Statt dazu aufgefordert zu werden, politische oder moralische Komplikationen zu bedenken, wohnen wir einem Sadomasospiel bei. Dabei wäre es von brennender Aktualität gewesen, mittelbar Auskünfte etwa über jene Art Notprozess zu erhalten, wie ihn 1947 zwei Antifaschisten in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager einem Stabsrichter gemacht hatten, der mehr als 170 sowjetische Partisanen, Zivilisten und Wehrmachtsdeserteure zum Tode verurteilt hatte. Damals folgte dem Verhör und Geständnis des Stabsrichters konsequenterweise seine Verurteilung und Hinrichtung. 45 Jahre später ist deswegen in Hamburg einer der vermeintlichen Täter wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. – Wie gern hätten wir von 'Bronsteins Kinder' etwas über die Notwendigkeit erfahren, die Antifaschisten dazu trieb, in einem Lager oder in einem Volksgefängnis Mörder zu verurteilen und hinzurichten. Statt dessen erfahren wir etwas vom psychotischen Schub dreier isolierter alter Männer. Ganz ähnlich hat das 1992 die Große Strafkammer 22 des Landgerichts Hamburg gesehen.

Die Logik des Films besagt: Das Treiben der Entführer ist verständlich, denn sie sind Betroffene. Gleichzeitig aber fordert er, dem Treiben der Entführer ein schnellstmögliches Ende zu bereiten. Die eine Hinrichtung barmherzig verhindernde Rolle ist Bronsteins Sohn zugeschoben worden. Umfassend informiert er sich an Hand eines Lexikonartikels über das KZ Neuengamme; der Text wird ein Dutzend Sekunden vor die Kamera gehalten, zu kurz zum Lesen, schade, denn es war die einzige Information. Dann greift Hans zu den Eisenfeilen und beginnt zu sägen, um das Opfer, d.h. den ehemaligen Neuengamme-Täter, zu befreien. Recht so! Hans, der Säger, stellt die verlorengangene Harmonie wieder her, die Emotionen gehen hoch, richtet er sich doch gegen den eigenen Vater, aber da perlen schon die angenehmsten Tonfolgen vom Pianoforte und bestätigen die Richtigkeit seines Handelns.

Was wir in der eindringlichen, hochkünstlerischen Darstellung des Gefangenen Rolf Hoppe sehen, ist das mitleiderheischende Leiden einer geschundenen Kreatur. Was dabei ausagiert wird wird, ist aufkeimende Sympathie mit dem 'Aufseher', der zum Opfer wurde. Was wir nicht sehen, sind die Opfer im KZ Neuengamme; die Komparsen, die uns in der Film-in-Film-Einblendung vorgeführt werden, präsentieren sich wohlgenährt und in frisch gestärkten Schürzen. Ja, was bleibt denn da überhaupt noch an Vergangenheit zu bewältigen, wo es doch nurmehr um Komparsen, Film- und Film-in-Film-Rollen geht? Der Scherge von einst ist gar nicht mehr der Täter, sondern nur noch Opfer. Hans, säg ihn frei! Und schlepp die Vater-Leiche aus der Datscha! Und lieb Deine Martha (Katharina Abt, 'Derrick', 'Die Schwarzwaldklinik', 'Tatort' usw.).

Die Opfer des Faschismus, frühsenile, fette, schwitzende Rentner, torkeln durch Brandenburgs Kiefernwälder, betrunken, einer fixen Idee folgend, die mal eine antifaschistische war. Optisch eine ausgesprochen unappetitliche Angelegenheit. Wie knackig dagegen die Nachkommen! Ein filmlanges Lächeln auf den Lippen nimmt Bronstein-Sohn Hans die Hürden in der Schule (Abitur), vor der Datscha (1,50 m hoher Stakett-Zaun), im Privatleben (Martha) und in der 1973er-Disco am Bahnhof Alexanderplatz (Höhepunkt: die Blue Jeans). Den optischen Sympathien stehen die leerlaufenden, in Ohnmacht und Ausweglosigkeit mündenden, eher depressiven Dialoge gegenüber, durch die sich auch die jugendlichen Helden quälen müssen.

Insgesamt also ein verklemmter Film, ein pseudoantifaschistisches Trauerspiel, ein verkorkster Schlussstrich unter die Bewältigungsversuche der NS-Vergangenheit, aber ein Film für das Landgericht Hamburg und für den Zeitgeist sowieso. Hans, der Säger – wen setzt er als nächsten frei? Mielke? Honecker? Wenns ihm nur ums Menschliche geht, wirds dem schlichten Gemüt nicht gelingen, da Unterschiede zu machen. Nur Mut also!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/1992

Carlos – Der Schakal

(F / D 2010, Regie: Olivier Assayas )

Fakten rockartig abhaken
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Spielfilm, der lückenlos und chronologisch den Lebenslauf von Carlos, dem legendären Terroristen-mit-der-Sonnenbrille, abspult, bräuchte mindestens fünfeinhalb Stunden, und auch dann noch ist Eile geboten. „Carlos – Der Schakal“ braucht …

Ein Spielfilm, der lückenlos und chronologisch den Lebenslauf von Carlos, dem legendären Terroristen-mit-der-Sonnenbrille, abspult, bräuchte mindestens fünfeinhalb Stunden, und auch dann noch ist Eile geboten. „Carlos – Der Schakal“ braucht diese fünfeinhalb Stunden. Als Dreiteiler hat ihn vor einem halben Jahr canal+ gesendet; arte Frankreich ist an der Produktion beteiligt.

Und nun zu Sachsen-Anhalt. Die dortige Investitionsbank hat den 13-Millionen-Film zu einem großen Teil finanziert. Weswegen das Innere des Wiener OPEC-Gebäudes in HALLEMesse aufwändig wieder aufgebaut werden konnte. In Halle also sehen wir die Ölminister versammelt, die von Carlos entführt werden. Die Stadt an der Saale nimmt im Reigen der internationalen Großstädte einen Hauptplatz in diesem Film ein.

Und jetzt, gänzlich ironiefrei, ein Wort zum Film. Nach etwa einer Stunde ist klar, wie er läuft. Fakten, Fakten, Fakten. Abhaken, abhaken, abhaken. Und ab und zu beglaubigen durch eingeschaltete Dokumentaraufnahmen; es war seinerzeit genug übers Fernsehen zu sehen. So weit, so gut. Gut zum Beispiel, dass die vielen Rollen nicht mit den üblichen Verdächtigen besetzt wurden. Gut das gedeckte Licht der Kamera, anti-TV-Spiel vom Feinsten. Immer an der Oberfläche die viel gerühmte Montagetechnik. Weniger gut allerdings die aufdringliche Musik, rockartig, die die action anheizen soll. Und schlimm die durch keine Dokumente belegten Spielfilmsequenzen, die das Drehbuch sich ausgedacht hat. Gewalttäter Carlos weiß in der Beziehung zu Frauen auch nur Gewalt anzuwenden. Vorauszusehen, dass am Ende Carlos den Terror zu seinem Geschäft macht, Businessman auch er, erfolgreicher Auftragskiller.

Der Film wird, wie gesagt, nach sechzig Minuten vorhersehbar. Der wahre Carlos, der seit Mitte der neunziger Jahre lebenslang in Frankreich einsitzt, hat versucht, mit dem Filmregisseur ins Gespräch zu kommen. Vergebens. Regisseur Assayas („Ende August, Anfang September“) beruft sich auf seine eigene Deutungshoheit. Ist wohl okay, aber vielleicht sollten Interessierte eins der ausgewählten Kinos ins Auge fassen, die die Kurzfassung des Films zeigen werden. Dann ist „Carlos – Der Schakal“ nur noch gut drei Stunden lang, „Carlos – Das Ereignis“ (Die Welt), „atemberaubendes Epos“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), hechel, nach Luft ring …

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2010

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Cobra Verde

(D / GH / BR / CO 1987, Regie: Werner Herzog)

Triumph des Willens II
von Dietrich Kuhlbrodt

Der deutsche Jungfilm findet auf seine alten Tage den Anschluss an die Vergangenheit; Werner Herzog an Leni Riefenstahl. 'Cobra Verde' – ein Film von deutscher Herrenart Die pure Willenskraft, die …

Der deutsche Jungfilm findet auf seine alten Tage den Anschluss an die Vergangenheit; Werner Herzog an Leni Riefenstahl. 'Cobra Verde' – ein Film von deutscher Herrenart

Die pure Willenskraft, die aus Kinskis blauen Augen blitzt, bändigt den aufsässigen Negersklaven, der sich der öffentlichen Auspeitschung entziehen möchte. Gehorsam wendet der Delinquent sich um, und nun kann die Strafprozedur ohne weitere Widerstandshandlung vollzogen werden. – Cobra Verde, der zufällig des Wegs gekommen war, hat Partei ergriffen: gegen den Wehrlosen und Entrechteten und für den Ausbeuter und Plantagenbesitzer. Das war in hohem Grade zweckmäßig. Prompt wird Cobra Verde belohnt: mit dem Job eines Sklavenaufsehers, denn ein Herrenmensch erkennt den anderen. Und da Cobra Verde gar nicht Cobra Verde ist, sondern niemand anders als der Klaus Kinski, der hinwiederum nichts anderes darstellen kann denn sich selbst, ruht den lieben langen Film hindurch der Herrenmenschen-Blick auf der damals so hoch im Kurs stehenden Menschenware. Damit es gleich von Anfang an klar ist, hat Regisseur Werner Herzog dem Augenpaar des weißen Mannes eine Nahaufnahme gegönnt. Die Neger kommen dagegen als Masse ins Bild, – als messbare Größe. Dafür braucht man Totalen, und dann: antreten und abzählen. Jawollja, melde gehorsamst, 750 Amazonen stehen bereit.

Das gibt die allerschönste Appellästhetik: Massenornamente der dekorativen Art. Sehr flächig windet sich eine Negerkette durch den ghanaischen Busch, der Kamera scheint die Schärfentiefe verlorengegangen zu sein. Aus allzu sicherer Distanz holt der Zoom sich einen Ausschnitt – und vermittelt die Gewissheit, dass Masse Masse bleibt, und dass man den Schwarzen nicht zu nahekommt. Keiner braucht Angst zu haben, dass er sich die Finger schmutzig machen muss. Vielleicht färben sie ja doch ab, die Eingeborenen. Die Total-Einstellungen also halten die fremde Rasse auf Distanz, grade dadurch wird sie als Gattung, Ware, Menschenmaterial kalkulierbar und beherrschbar – sowohl ökonomisch wie ästhetisch.

750 Neger aneinandergekettet? Die Ware kommt aufs nächste Schiff. 750 Negerinnen militärisch ausgebildet? Die Amazoneneinheit kommt zum Einsatz. 750 StatistInnen vor der Kamera? Herzog macht damit ästhetisch mobil. Von der Bodybuilding-Show bis zur Leistungsschau der Kampfsportgruppen werden immer und immer wieder Massenrituale zelebriert. Neger auf dem Marsch zur Verladerampe: eine Freude, das zu sehen; die prächtigen Leiber sind mit Öl eingerieben oder mindestens mit Wasser bestäubt, die Muskeln schwellen, mein Gott was für bodies. Und die Brüste der Amazonen! Da langt die Kamera kräftig hin und mag gar nicht mehr loslassen. Jei, so haben sich Opa und Uropa früher die Fotos aus dem Urwald angeguckt, weils dann erlaubt war, sich ganz offen, studienhalber und ästhetischerweise, dran aufzugeilen.

Herrenmenschen und Alte-Herren-Witze. Kinski, 60 Jahre alt, greift sich während der Aufnahmen ein Negerweib, hält es von hinten an den Ellbogen und schiebt es dem Standfotografen zu, Brust raus, mein Kind, ist das ein Souvenirfoto! Die Szene fehlt leider im Film, wurde aber in einem flankierenden Begleit- und Publicity-Film zu 'Cobra Verde' neulich im Fernsehen gesendet. Hat da der Kinski eine Freude dran, sträubt sie sich doch, die Wilde! Also den Griff noch fester, oder lieber doch die nächste. Also sehen wir den Zugriff des deutschen Stars noch mal. Wehe wird das Foto nichts. Kinski guckt drohend ins Objektiv.

Herzog brauchte durchaus Gewalt, um sein Massenszenario bewältigen zu können, zum Beispiel 'acht Karateleute, um die Afrikanerinnen ein bisschen im Zaun zu halten'. Und: 'Wir mus'ten auf die Frauen einschlagen, um den Druck abzuschwächen'. Abenteuerlich, echt. Der Begleitfilm (Steff Grubers 'Herzog in Afrika') ist der wahre, der bessere. – In 'Cobra Verde' sieht das anders aus. Da lassen sich die Amazonen den Söldner Kinski gefallen, wie er brüllend, schreiend und schnauzend mit ihnen exerziert. Yeah! 'I wanna be your drill instructor!' Denn zur Mobilmachungsästhetik gehört es, dass individuelle Gewalt nicht geschieht. Der Film ist auf dem Stand der Masseneuphorien von 1914. Oder 1934. 'Die Massenszenarien auf den Appellplätzen des Dritten Reichs sind regelrecht zum politischen Markenzeichen des deutschen Faschismus als Ästhetisierung von Politik geworden', schreibt Martin Loiperdinger in seinem neuen Buch 'Rituale der Mobilmachung' über den Parteitagsfilm 'Triumph des Willens' von Leni Riefenstahl. Es empfiehlt sich, das Buch (erschienen bei Leske + Budrich in Leverkusen) wegen seiner unvermuteten Aktualität zu lesen. Die politische Kulturforschung bringt es an den Tag, dass Filme wie 'Cobra Verde' in einer ganz anderen Tradition stehen, als bisher gemutmaßt. War man bisher davon ausgegangen, dass unsere fortschrittlichen Filmemacher daran arbeiten, über die Lücke, die der Faschismus gerissen hat, zurück den Anschluss an die ästhetischen Errungenschaften der Weimarer Zeit zu gewinnen, so entdecken wir heute mit Bestürzung, dass unsere guten Freunde dabei sind, ästhetisches Kapital aus der Lücken-Zeit zu schlagen.

Lieber Werner Herzog, Du hast – eine Generation danach – den 'Triumph des Willens II' gemacht. Die Riefenstahl wird möglicherweise damit nicht einverstanden sein, denn in wessen Vollmacht vertreibt Herzog seinen Film, da sie doch 1934 für den Reichsparteitagsfilm als Sonderbevollmächtigte der Reichsleitung der NSDAP eingesetzt gewesen war. Außerdem wird es immer schwieriger, 'Triumph des Willens I' zu sehen, weil sie als notorische Prozessgretel missliebige Aufführungen verhindert. So zuletzt im Münchner Filmmuseum. Dort brachte sie damit auch einen Vortrag von Martin Loiperdinger zu Fall. Sie sollte sich ihre juristischen Strategien jedoch noch einmal überlegen. Denn Objekt der aktuellen Kulturforschung ist sie nur einerseits. Auf der anderen Seite ist sie offenbar zur Traditionsfigur des Jungen Deutschen Films aufgestiegen. Endlich. Und wir müssen uns neu besinnen, wer Freund ist und wer Feind.

Herzog, der sich die Sache der Außenseiter, der Entrechteten und Ausgebeuteten zu seiner gemacht hatte – zuletzt die Sache der Aborigines in 'Wo die grünen Ameisen träumen', – er gibt in 'Cobra Verde' Parolen aus wie: 'Sklaverei ist eine Eigenschaft des menschlichen Herzens', und damit stellt sich die bange Frage, was eigentlich Gegenstand seines ersten, bald zwanzig Jahre alten, von kaum einem gesehenen Dokumentarfilms 'Die fliegenden Ärzte von Ostafrika' gewesen sein mag.

Das 1987 nach Westafrika eingeflogene Filmteam hat es sich jedenfalls zur Aufgabe gemacht, den Negern beizubringen, was faschistische Ordnung ist, bzw. den Amazonen die Hammelbeine geradezuziehen: Wieder geht es um den Kult, um die Zeremonien und Rituale einer Privatarmee. Waren es auf dem Parteitag 1934 SA und SS, so marschiert 1987 die paramilitärische Truppe des Söldners Kinski auf: die 750 Frau starke Einheit der Amazonen. Ebenso wie bei der Riefenstahl ist Aufstellung, Linie, Dekor und Ornament Inhalt der ästhetischen Veranstaltung. Die Geschichte von Cobra Verde ist ganz in den Hintergrund getreten. Der dramatische Ablauf ist ebenso versiegt wie die Logik eines Gedankens. Es gibt nichts nachzuvollziehen, das die Freiheit von Zustimmung oder Ablehnung ließe. Es gibt nur noch affirmative Meditation und harmonische Einbindung in eine Gemeinschaft, die keine Gegensätze kennt, kein Wenn und kein Aber.

Ich weiß es, alle Vergleiche hinken, also auch dieser. Zum Beispiel hört man keine Marschmusik, sondern Popol Vuh, heutzutage eindeutig stabilisierender. Vor allem aber ist am Riefenstahl-Vergleich falsch, dass er die entscheidende Weiterentwicklung durch den Herzog-Film unterschlägt. Denn während im 'Triumph des Willens I' die Aufmarschrituale Selbstdarstellungsszenario und Eigenstilisierung waren, ist die Amazonenästhetik in 'Cobra Verde' Ideologieimport aus Herzogs Heimat. Und harte Arbeit war es, den Negern zu sagen, wo’s lang geht. Gisela Storch musste sich die Kostüme einfallen lassen, und ein Italiener namens Benito mußte die Negerinnen angeblich monatelang drillen. Das entsprach mitnichten den Bedürfnissen der Betroffenen.

Im Fernsehfilm über die Dreharbeit erfahren wir, daß es 50 Grad heiß war und den Komparsen der Sinn des Films verborgen geblieben war. Sie spielten für die Europäer. Für Geld. Und mussten das mit gewerkschaftlichen Mitteln erstreiken. – Umso infamer ist die Ausbeutung dieser Menschen durch den Film. Mit Kinskis Euro-Blick gesehen, erscheinen sie ebenso herabgewürdigt und verkrüppelt, wie die wahren Krüppel, die in Herzogs Film wie die Tiere herumlaufen, aus sicherer Distanz verfolgt von der Zoom-Kamera. Sich seinen Spaß machen mit Gesinde, Pack und Bettel: Herrenart.

Dieser Text erschien zuerst in Konkret 01/1988

Right at Your Door

(USA 2006, Regie: Chris Gorak)

Den Tod über die Türschwelle tragen
von Sven Jachmann

1973 ließ George A. Romero in „The Crazies' eine amerikanische Kleinstadt durch bakteriologisch verseuchtes Trinkwasser dem Wahnsinn verfallen und nutzte dieses Setting für eine Beschreibung des rücksichtslosen Vorgehens des Militärs …

1973 ließ George A. Romero in „The Crazies' eine amerikanische Kleinstadt durch bakteriologisch verseuchtes Trinkwasser dem Wahnsinn verfallen und nutzte dieses Setting für eine Beschreibung des rücksichtslosen Vorgehens des Militärs gegen die Bevölkerung. Die Gefahr einer Erosion der bestehenden Ordnung manifestierte sich nicht mehr, wie noch in den Science-Fiction-Produktionen der 60er Jahre, in Gestalt eines äußeren Feindes, dem es kollektiv zu Leibe zu rücken galt, sondern nistete sich in den eigenen Reihen ein, es wuchs ein Unbehagen ganz irdischer Natur. Dies war nicht zuletzt auch Resultat einer Skepsis an der Integrität der Regierungsvertreter, wie sie sich mit Watergate zunehmend auch in den Produktionen in und rund um Hollywood niederschlug und die düsteren Zukunftsprognosen direkt in die Gegenwart verankerte.

In seinem Debüt „Right at Your Door' greift Regisseur Chris Gorak dieses Motiv, die selbstverschuldete Apokalypse, auf, verlegt es in die Suburbs von Los Angeles unter den besonderen Vorzeichen einer von 9/11 traumatisierten Gesellschaft. Dabei fallen die Grenzen zwischen dystopischer Science Fiction und sozialkritischem Katastrophenfilm relativ fließend aus.

In den eine permanente Furcht suggerierenden Bildern der Handkamera wird die Geschichte von Brad (Rory Cochrane) und Lexi (Mary McGormack) erzählt, deren Alltag von der plötzlichen Meldung mehrerer Explosionen von Bomben in der Innenstadt und ihrer näheren Umgebung erschüttert wird. Hier konzentriert sich der Film zunächst einzig auf die Figur Brads, seinen Unwillen, die Gefahr zu realisieren und seine fruchtlose Versuche, Lexi, die sich mitten im Zentrum der Detonationen befindet, erst via Telefon zu kontaktieren und dann mit dem Auto aufzusuchen. Als die Meldung herausgegeben wird, dass die Bomben mit einem unbekannten, lebensgefährlichen Giftgas angereichert sind, beginnt er sich zusammen mit seinem Nachbarn Alvaro (Tony Perez) im Haus zu verbarrikadieren und es hermetisch abzusichern. Plötzlich taucht Lexi auf, von giftiger Asche übersät, doch aus Angst infiziert zu werden verweigert Brad ihr den Einlass. Während das Militär mit rigoroser Härte zur Jagd auf die verseuchten Opfer ansetzt, muss er hilflos mitansehen, wie Lexis Sterbeprozess fortschreitet, nicht ahnend, dass sein eigener Tod längst besiegelt ist.

Mit 9/11 wurde eine Verwundbarkeit der inneren Sicherheit dokumentiert, die den bisher bloß abstrakt gewähnten massenhaft todbringenden Wahn terroristischer Attentate direkt ins Herz der Urbanität katapultierte. Gorak macht sich diese Voraussetzung insofern zu Nutze, indem er sie zur Grundlage seiner Inszenierung erhebt, wenn er die Katastrophe im Kleinen erfahrbar werden lässt und somit den klassischen Topos des Katastrophenfilms revitalisiert (denn im Gegensatz etwa zu „The Day after Tomorrow' bleibt die Perspektive einzig auf die beiden Protagonisten beschränkt). Bilder einer Massenpanik bleiben aus, lediglich die Rauchschwaden über der Skyline und der Ascheregen zeugen von der Authentizität der Gefahr. Über die Hintergründe und Motivationen der Anschläge gibt es keine Erklärung. Brads Kontakt zur Außenwelt seines vermeintlichen Refugiums erfolgt einzig über das Radio. Die dort verbreiteten Informationen beschränken sich lediglich auf Instruktionen zur Sicherheitsvorkehrung. Auf diese Weise berührt der Film die Grenzen zur dystopischen Science Fiction, denn durch diese Undurchschaubarkeit erweisen sich die Sicherheitskräfte selbst als omnipotente Gefahr, und die Geschichte gerinnt zur kritischen Schilderung der politischen Willkür zur Herrschaftsstabilisierung im absoluten Inferno, der auf der Mikroebene einzig mit Fügung zu begegnen verbleibt. Auch wenn Brads Angst vor einer Infizierung Lexi zur Aussätzigen stempelt, also die sozialdarwinistischen Mechanismen des Überlebenskampfes im Ausnahmezustand zutage treten, problematisiert der Film vielmehr das Verhältnis von struktureller All- und individueller Ohnmacht im Antlitz des Ausnahmezustandes.

'Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien' lautet das berühmte Diktum Niklas Luhmanns und es gewinnt spätestens zum Schluss an grimmiger Doppeldeutigkeit: Trotz all der penibel befolgten Sicherheitsvorkehrungen ist Brads Haus hoffnungslos vom Erreger befallen und wird – mit ihm als Überlebenden – sogleich chemisch entgiftet, wohingegen Lexi eine geringe Überlebenschance eingeräumt werden kann. Es ist also nicht nur der – notgedrungen – selektive mediale Zugriff, der den Blick auf die Realität präformiert, sondern auch der Glaube an die Wahrhaftigkeit der dargebotenen Informationen, der sich in letzter Instanz gegen den Rezipienten selbst richten kann und im Falle Brads, nach bestem Wissen und Gewissen handelnd, zum Selbstbegräbnis führt. So erfasst bereits der Titel „Right at Your Door' alle Elemente der latenten Zerstörung aller individuellen Sicherheiten: Weder das Kollektiv noch die zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht einmal das Versprechen der Intimität, der eigene Wohnraum, bieten Hoffnung zum Überleben.

Dieser Text erschien zuerst in einer Kurzfassung in: Konkret 02/2008

Aktion Mutante

(ESP 1993, Regie: Alex de la Iglesia)

Gegen das Schöne
von Sven Jachmann

Die Welt der Zukunft in „Aktion Mutante' ist trennscharf in zwei Klassen aufgespalten: Die Herrschenden gebieten über den Rest. Das ist nicht so unwichtig, wenn man bedenkt, dass sich die …

Die Welt der Zukunft in „Aktion Mutante' ist trennscharf in zwei Klassen aufgespalten: Die Herrschenden gebieten über den Rest. Das ist nicht so unwichtig, wenn man bedenkt, dass sich die gleichnamige Terroristengruppe unter der Schirmherrschaft des charismatischen Ramons einzig gegen das Primat der Schönheit und Sauberkeit der Vergnügungssüchtigen auflehnt. Mit der Entführung der Industriellentochter Patricia mitten auf ihrer Hochzeit verfolgt sie jedoch weniger die Statuierung eines gesellschaftspolitisches Statements, sondern vielmehr den schnellen Pimp der eigenen Kassen. Nachdem jedoch Ramons wahre Absichten, alles Geld für sich einzustreichen, enttarnt sind (und auch die Entführung selbst nicht gerade vom Glück für den Gruppenbestand gekrönt war), verbleiben nach der Bruchlandung auf einem wüstenartigen Rohstoffplaneten gerade mal zwei Kontrahenten, die aus unterschiedlichen Gründen den Weg zum Ort der Geldübergabe antreten: Ramon, den das Geld lockt und Alex, der sich an Ramon rächen will und darüber hinaus unsterblich in Patricia verliebt ist. Der Weg zum Finale ist gesäumt von blinden Wüstenbewohnern, verrückten Minenarbeitern und fettleibigen Redneckfamilien.

Klingt das zu sachlich?

„Aktion Mutante' ist das schwarzhumorige (und von Pedro Almodóvar höchstselbst produzierte) Debüt-Reminiszenzen-Patchwork Alex de la Iglesias, das um keine Schweinerei, keinen wahnwitzigen Einfall verlegen ist. „Robocop', „Star Wars', „Evil Dead 2', „Monty Python and the Holy Grail', „Texas Chainsaw Massacre'; die Plünderung der Filmgeschichte kennt keine Grenzen und wird injiziert in das Gerüst einer Geschichte, die nicht so sehr an ihren ohnehin schwer durchschaubaren Charakteren interessiert ist, sondern eher im Exzess der Absurdität ihr Heil sucht irgendwo zwischen Satire, Persiflage, Groteske, Parodie, letztlich gar in der Burleske, jedenfalls in den humoristischen Elementen. Das macht aus den Figuren Typen, deren Taten bloß vom übergeordneten Ziel motiviert sind (Ramon will Geld, Patricia will Ramon, Alex will Ramon und Patricia, die Planetenbevölkerung will Patricia, ihr Vater will Zerstörung), aber diese Abwesenheit von Empathie steuert denn auch die Richtung des anarchischen Humors. Typen kann nur schwer inkonsistentes Handeln bescheinigt werden, so lange es nicht ihre ursprünglichen Absichten antastet. Ausgleichend bleibt genügend Raum, um die Bandbreite an lustigen Szenarien zu erproben, ohne Gefahr zu laufen, den Figuren zu drastisches Leid anzutun, so dass das Sicherheitsempfinden des Zuschauers nicht durch plötzlich auftretendes Mitleid gestört wird. Sicher, das ist eine Binsenweisheit der Komik, aber Iglesia entgeht der möglichen Monotonie durch eine Unverbindlichkeit der humoristischen Essenzen: Da finden sich relativ unvermittelt satirisch gezeichnete Nachrichtenverlesungen, die von barbusigen Werbe-Bunny-Häschen begleitet werden, neben grotesken Folterungen, in denen ein cholerischer Redneckjunge seine Wut über seinen Kinderstatus ritzend und salzend am gefesselten Ramon auslässt, während sich der Rest der Familie versuchsweise an Patricia vergeht, weil es auf diesem Planeten nun mal keine Frauen gibt. Der Gestus, einfach jede Idee mal in den Raum zu werfen, ohne Rücksicht auf narrative Stränge oder guten Geschmack nehmen zu müssen, atmet fast schon etwas vom Punk-Geist, das Thema sowieso, und das ist wohl auch diese Art Klammer, die das scheinbar Disparate eint: Die Wünsche der Deklassierten speisen sich zwar aus dem Gefühl des Mangels, würden sich aber gleichzeitig mit einem Versprechen auf Teilhabe am Hedonismus abspeisen lassen.

Warum sich der Zorn der Aktion Mutante nun an den Schönen entlädt, hat wohl eher mit der Sublimierung ihres Opferstatus` zu tun. Jedenfalls machen die Hochzeitsgäste in ihrem dekadenten Taumel nicht gerade einen exklusierenden Eindruck gegenüber den schwer als inkognito durchgehenden Terroristen. Die Grundlage der Organisation ist nicht viel mehr als eine ziellosen Destruktionsfreude, Punk mit cartoonesker Attitüde, und das gilt dann auch für die zwei weiteren Instanzen dieses durch und durch sympathisch rauen Erstlings: den sich sicher bestens amüsierenden Machern und die im besten Sinne bitterbös amüsierten Zuschauer.

Im Glaskäfig

(ESP 1986, Regie: Agusti Villaronga )

Die Tat und ihr Nachhall
von Sven Jachmann

Am Anfang sehen wir die Detailaufnahme eines Auges. Das Zwinkern der Augenlider ist unterlegt mit den Blitzgeräuschen einer Kamera. Im Gegenschuss sehen wir das Auge der Kamera selbst, das die …

Am Anfang sehen wir die Detailaufnahme eines Auges. Das Zwinkern der Augenlider ist unterlegt mit den Blitzgeräuschen einer Kamera. Im Gegenschuss sehen wir das Auge der Kamera selbst, das die Bilder eines geschundenen, fast leblosen Körpers erfasst. Ein Täter dokumentiert sein Werk und frönt gleichermaßen seiner Passion: Er fragmentiert und entindividualisiert sein mit den Händen an der Decke gefesseltes Opfer, bevor er es schließlich erschlägt. Schuss, Gegenschuss. Körper, Extremitäten. Schnitt zur subjektiven Kamera: Beobachten und Beobachtetwerden.

In diesen ersten drei Minuten ist der tötende Blick bereits zu unserem geworden – möchte man glauben. Aber es ist der Blick eines, neben uns, weiteren Beobachters: Der Folterer ist Klaus, ein ehemaliger KZ-Arzt, der bei den einstigen Experimenten an Kindern seine sexuellen Obsessionen entdeckte und nun, im spanischen Exil, diese Leidenschaft weiter verfolgt. Der Beobachter ist Angelo, ein junger Mann, der Klaus’ Taten fortsetzen wird, weil er zu Klaus’ misshandelten Opfern zählt. Doch davon werden wir erst später erfahren. Klaus begibt sich nach vollbrachtem Mord auf das Dach des verfallenen Gebäudes und springt in die Tiefe. Der Beobachter findet derweil am Tatort ein mit Dokumenten und Notizen gefülltes Tagebuch.

Der einsetzende Vorspann ist mit Fotografien von Kindern aus Konzentrationslagern unterlegt, und eine Stimme singt mit spanischem Akzent Schubert. Es ist famos, in welcher Dichte Agustí Villaronga hier bereits die Zentralmotive der Erzählung hervorhebt: das Faszinosum des tötenden Blicks, die Grenzüberschreitung und Vergewisserung der eigenen Souveränität in der Passion, die kühle Ästhetisierung des Unansehnlichen. Diese Exposition zu Villarongas verfemtem Debüt, das das kleine Qualitätslabel Bildstörung jetzt endlich in einer deutsch untertitelten und opulent ausgestatten Edition zugänglich gemacht hat, ist so schön und abweisend zugleich, dass der Zuschauer zunächst bestenfalls irritiert auf das Geschehen reagiert. Die Absenz von Erklärungen zwingt ihn dazu.

Ein misslingender Suizidversuch endet für Klaus mit einer Querschnittslähmung und im Korpus einer eisernen Lunge. Der Film wird zum Kammerspiel. Angelo verschafft sich Zutritt zum Herrenhaus und zwingt Klaus, fortan seine Dienste als Krankenpfleger in Anspruch zu nehmen. Schleichend übernimmt er nun das Kommando über das Haus und die Familie, labt sich obsessiv am Körper des wehrlosen Behinderten, liest ihm nachts aus dessen Notizbuch vor (eine unangenehme Fiktionsfalle: Der Inhalt besteht aus echten Beschreibungen ehemaliger KZ-Schlächter) und masturbiert auf dessen Gesicht. Die Form dieser Übergriffe korrespondiert mit den verlesenen Folterschilderungen. Nachdem er Klaus’ Frau Griselda umgebracht und dessen Tochter auf seine Seite gezogen hat, folgt der nächste Schritt dieses – daran besteht auch plotimmanent kein Zweifel mehr – destruktiven Versuchs, das Trauma zu durchleben und aufzuarbeiten: Angelo ermächtigt sich zum fortgesetzten Arm seines unfreiwilligen Mentors, entführt zwei Jungen aus dem angrenzenden Dorf und tötet sie in Klaus’ Gegenwart, indem er ihnen die Kehle durchschneidet oder eine Benzinspritze ins Herz injiziert. Im finalen Schritt wird er sich auch physisch an Klaus’ Stelle setzen.

Bereits bei seiner internationalen Premiere auf der Berlinale 1986 war »Im Glaskäfig« ein ausgemachtes Skandalon: Noch vor seiner Vorführung wurde der Film beschlagnahmt, dann im kleineren Kreise ausgestrahlt, um wieder eingezogen zu werden. Erst durch die Hilfe der spanischen Botschaft konnte das Team wieder in den Besitz des Materials gelangen. Anscheinend glaubte man, in den fast akkurat kunstvoll arrangierten Bildern ein exploitatives Element ausfindig gemacht zu haben. Auch in Australien wurde ein Verbot aufgrund der homosexuellen Darstellungen ausgesprochen.

Tatsächlich steht der nationalsozialistische Bezug keinesfalls im Mittelpunkt des Films, er bietet einen figurspezifischen Hintergrund für eine furchtbare Geschichte der Grenzüberschreitung: Böses generiert Böses, und aus dieser Konstellation entspringt denn auch der abweisende Charakter von »Im Glaskäfig«. Da bloß rudimentär psychologisiert wird, bleibt das Handeln der Figuren ohne ersichtliches Motiv, zumindest ohne eins, das diesen abgründigen Kreislauf zu durchbrechen strebt: Am Ende wird Klaus’ Tochter Angelos Rolle annehmen, dessen Transformation erst dann vollzogen ist, nachdem er Klaus ersetzt hat. Griselda hingegen unterbricht zuvor einmal willentlich die Stromzufuhr zum Glaskäfig, kann sich aber doch nicht zum Mord durchringen (in diesem Augenblick wird das monotone Pumpen der eisernen Lunge auf der Tonspur von lautem Vogelgezwitscher abgelöst – der Idylle der Außenwelt, die in diesem hermetischen, von dunklen Blautönen bestimmten Kosmos sonst nur noch als verlorenes Zeichen, als Wandmalerei, existiert).

Indes scheint hier nicht einzig rüder Nihilismus durch. Vielmehr ist es die Destruktivität der bösen Tat, die unweigerlich ihren Nachhall erzeugt, der Blick in das Auge des Opfers, der sich eben auch verkehren kann. Die Erwartungshaltung des Publikums ist offensichtlich: Ein biographisch derart ausgestatteter Charakter kann unmöglich seinem potentiellen Schlächter nacheifern. Oder anders gesagt: Das Urteil, das dem traumatisierten Opfer seine Unschuld abspricht, ist nur zu haben auf Kosten der Schuld des Täters. Dabei gibt sich Villaronga mit jeder Sequenz redlich Mühe, dieses schreckliche Prozedere als grausame Konsequenz des Traumas zu inszenieren. Dass er sich hierzu des Horrorfilmstils bedient, ihn mit den Mitteln des Kunstkinos vermengt, also auch formal den Bruch mittels einer diesem Sujet unangebrachten Ästhetisierung fortsetzt, zeugt allenfalls vom Talent eines jungen Debütanten – die Skandalisierung seines Meisterwerks aber nur von der Unfähigkeit, den Boten von der Botschaft zu unterscheiden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2009

Overlord

(GB 1975, Regie: Stuart Cooper)

Aufgebrauchtes Humanmaterial im Stahlgewitter
von Sven Jachmann

Im Kriegsfilm wird das Leid entweder pathetisch, also schicksalhaft, oder melodramatisch, einem übergeordneten Sinn folgend, arrangiert. Bei letzterem neigen die Rezipienten voreilig dazu, dass Genre mit einem Anti- zu klassifizieren. …

Im Kriegsfilm wird das Leid entweder pathetisch, also schicksalhaft, oder melodramatisch, einem übergeordneten Sinn folgend, arrangiert. Bei letzterem neigen die Rezipienten voreilig dazu, dass Genre mit einem Anti- zu klassifizieren. Das dazugehörige Schema hat sich bereits frühzeitig im Hollywoodkino etabliert: Ein politisch meist naiver Mensch wird seiner gewohnten Umgebung entrissen, erfährt beim Militär eine Initiation, wird auf dem Schlachtfeld seiner finalen Prüfung unterzogen und kehrt geläutert wie gereift in seine alte Heimat zurück – sofern er den Kampfschauplatz lebend verlässt. In den besten Werken entspricht diese Entwicklung einer umgekehrten Individuation: Aus einer allenfalls arglosen Skepsis beim Eintritt in die Institution Armee wächst später resignierte Verzweiflung, aus Autoritätshörigkeit entsteht eine fast manische Todessehnsucht. Beide Varianten aber benötigen das Subjekt, und sei es bloß, um an ihm einen tragischen Verfall zu skizzieren.

In seiner 1975 fertiggestellten D-Day-Kriegsgeschichte „Overlord' greift Stuart Cooper auf eine ähnliche Dramaturgie zurück, nur geht er dabei sehr viel klüger vor als viele seiner Regiekollegen. Schon deshalb verwundert es, dass dem Werk über Jahrzehnte der Eintritt ins Pantheon der Klassiker seiner Zunft verwehrt blieb. Das hängt sicher damit zusammen, dass es, trotz einer Auszeichnung mit dem Silbernen Bären auf der Berlinale 1975, nie einen Start in den US-Kinos erhielt – zu gegenwärtig mag der Vietnamkrieg gewesen sein, als dass sich eine weitere grundsätzliche Kritik am Wesen des Krieges zu diesem Zeitpunkt ausgezahlt hätte. Seit einigen Jahren nun wird der Film dank eines intensiven Festivaleinsatzes als unterschlagenes Meisterwerk der Filmgeschichte neu entdeckt – völlig zu Recht.

Der Plot: 1944 wird der junge Engländer Tom Beddows – Typus: bürgerliches Elternhaus, recht belesen und sehr schüchtern – für den Kampf gegen Deutschland eingezogen. Nach dem brutalen Drill, der offenkundig die Eliminierung jedweder Persönlichkeitsstruktur zum Ziel hat und die ausnahmslos knabenhaften Gesichter zu todesverachtenden Fratzen verwandeln will, folgt schließlich am 6 Juni 1944 der sogenannte Overlord-Einsatz – das Codewort für die Invasion der alliierten Truppen in der Normandie. Die Zeit dazwischen ist, teils in Rückblenden, gespickt mit zaghaften Versuchen, Freunde zu finden, und einer zurückhaltenden Liaison nach einem Tanzabend. Was uns Toms Mimik während dieses Prozesses nicht verraten will, erfahren wir aus den Briefen an seine Eltern. Einmal heißt es darin erschreckend lakonisch: 'Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich fühle es, wie man eine Erkältung kommen fühlt.' Hier ist bereits absehbar, dass er recht behalten soll.

Wem nun dieses Setting bekannt vorkommt, liegt vollkommen richtig: 1987 entwarf Stanley Kubrick mit „Full Metal Jacket' ein ähnliches Gerüst für eine Vietnamkriegsgeschichte. Zufall ist das nicht. Kubrick war ein großer Bewunderer von Overlord und hatte außerdem zuvor bereits in „A Clockwork Orange' (1971) und „Barry Lyndon' (1975) mit Kameramann John Alcott zusammengearbeitet (und allein bestimmte Methoden der Beleuchtung sind frappierend). Beide Kriegsfilme sind durch die Abwesenheit des heroischen Subjekts gekennzeichnet; es ist die Maschinerie, die den Menschen formt, nicht umgekehrt.

Der Weg dorthin könnte indes nicht unterschiedlicher sein: Kubrick zerlegt die Entindividualisierung der Soldaten spitzfindig in die einzelnen institutionellen Schritte und steuert auf ein Antifinale zu, in dem sich die Initiation in einem surrealen, strategisch völlig unbedeutenden Kampf beweist – die Schlachtinszenierung bildet das Zentrum. Cooper hingegen rückt die Schlacht nur mittels der Montage in den Mittelpunkt, der Unterschied aber bemisst sich am Material. Denn – daher rührt auch das große gegenwärtige Interesse an dem Film – bei sämtlichen Schlachtaufnahmen handelt es sich um Archivmaterial des Imperial War Museums, und das macht immerhin ein gutes Drittel des Films aus. Hieran wird das narrative Prinzip deutlich: Zwar werden wir ausgiebig Zeugen der Initiation Toms, aber sie ist nicht mehr Teil seiner kathartischen Entwicklung, sondern bereits von Beginn an der Maschinerie des Krieges untergeordnet. Die wiederum hat eine krude Eigendynamik. Tatsächlich braucht es keinen Menschen, der die Maschinerie steuert, er ist ihr, seiner Handlungsfreiheit beraubt, ausgeliefert – und dies in teils pittoresk-ambivalenten Bildern. Das gilt für die stetigen Bombenabwürfe auf scheinbar menschenleere Städte, für die Luftgefechte, in denen die Maschinen statt ihrer Piloten gegeneinander anzutreten scheinen und insbesondere für die Strandinvasion, auf die Toms groteske Ausbildung hinausläuft. Dann prescht monströses Räderwerk durch das Wasser über den Sand, raketenbetriebene Kreisel fegen Stacheldraht beiseite, bohren sich als Schutzwall in den Boden und sind offensichtlich überhaupt nicht zu kontrollieren – eine entfesselte Maschinerie, mehr Chaos als Präzision versprechend.

In diesen Bildern und dem Wechsel aus Fiktion und Dokumentation ist das Subjekt lediglich eine Randerscheinung: Dass er den Krieg nicht überleben wird, davon geht Tom mit stoischer Selbstverständlichkeit aus, Heroismus ist nicht mal mehr als Illusion existent. Letztlich sind es die Archivbilder der Zerstörung und entfesselten Maschinen, die sogar seine Biographie innerhalb der Erzählung unbedeutend werden lassen: Was zum Höhepunkt drängt, endet noch bevor es beginnt, in Toms regelrecht unspektakulärem Tod. Selten wurde diese Art unausweichliche Verdinglichung in drastischere Bilder gefasst, die keine Menschen mehr beherbergen. Sie lösen als Zeichen das ein, was die Soldatenausbildung psychologisch anstrebt: den Soldaten erst zum Körper und danach zum aufgebrauchten Humanmaterial zu degradieren – in einem Stahlgewitter, das dennoch nie vergessen lässt, dass es sich aus menschgemachten Absichten nährt.

Ein letzter Satz zur DVD: Mit dieser Veröffentlichung untermauert das engagierte Bildstörung-Label in puncto Programmauswahl und Ausstattung ein weiteres Mal seinen Ruf als eines der besten im deutschsprachigen Bereich – einer der wenigen Anbieter, dessen Filmeditionen blind vertraut werden darf.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2010

Der Kreis

(IR / IT 2000, Regie: Jafar Panahi )

Acht Frauen im Iran
von Sven Jachmann

Acht Figuren im Iran, genauer gesagt in Teheran, besitzen keine sonderlichen Gemeinsamkeiten, außer dem Faktum, dass sie Frauen sind. Sie suchen das Versteck in der Unübersichtlichkeit der Großstadt, fliehen vor …

Acht Figuren im Iran, genauer gesagt in Teheran, besitzen keine sonderlichen Gemeinsamkeiten, außer dem Faktum, dass sie Frauen sind. Sie suchen das Versteck in der Unübersichtlichkeit der Großstadt, fliehen vor ihren Peinigern, den Institutionen, dem Staat, seiner Exekutive, ihren Familien. Abtreibung, Flucht aus dem Gefängnis, die Geburt eines Mädchens, aufsässiges Verhalten – die Gemeinsamkeiten ihres Vergehens bestehen einzig in der repressiven Ahndung für Handlungen, die ihnen qua Geschlecht oktroyiert werden. Und das ist genauso so doppeldeutig zu verstehen: dass, was ihr weibliches Geschlecht negativ konnotiert, wird ihnen vom Männlichen auferlegt und institutionalisiert.

Panahi verwendet große Mühe darauf diesen Sog aus Fremdbestimmung, Ausbeutung, Repression, letzlich immer zu erahnender Ausweglosigkeit inszenatorisch einzufangen. Der Blick durch ein schwarz umrandetes Rechteck, hinter dem sich ein Operationssaal befindet, eröffnet den Film. Derselbe Blick beendet ihn. Allerdings führt er diesmal aus einer Gefängniszelle, in der sich die acht Frauen nach ihrer Odyssee vereint wiederfinden, wohlwissend, dass diese Odyssee längst nicht zu ihrem Ende gekommen ist.

Halbtotalen und Nahaufnahmen dominieren die Erzählung. Panorama-Einstellungen sucht man genauso vergebens wie Kadrierungen, aus denen sich in irgendeiner Art und Weise Kontemplation gewinnen ließe. Die Figuren begegnen sich beiläufig, stehen mitunter nicht mal in unmittelbarem Kontakt zueinander und werden mit einer ebenbürtigen Unaufdringlichkeit von der Kamera aufgegriffen, begleitet und für den Augenblick eines Wimpernschlags wieder verlassen.

Es ist die bloße, unmittelbare Teilhabe an einer Gefahrensituation, die fast schon dokumentarisch illustriert wird und in ihrer inneren Verzahnung auf die Allgegenwart der Unterdrückung und des staatlichen Zugriffs verweist. Das mag dann und wann etwas episodisch ausfallen, ist auf der anderen Seite jedoch die fruchtbarste Methode, um die fremdverschuldete Unmündigkeit als soziales Phänomen begreifbar zu machen. Solidarisierungseffekte dringen immer wieder durch, verpuffen jedoch genauso schnell in der alles einebnenden Apathie. Der kleine, hilflose Widerstand ist alles was bleibt, etwa wenn eine der Protagonistinnen im Gefangenentransport trotz Verbots eine Zigarette raucht. Unerhört bleibt er indes nur symbolische Geste, schafft nur (aber auch vor allem) Selbstvergewisserung der versuchten Autonomie, die dann doch wieder vom Kreis des Leids und der drohenden Strafe okkupiert wird.

Alles, was die acht Frauen zu verschulden haben, ist ihre Existenz. Dass dieses Motiv bereits unter Umständen eine Freifahrt ins Gefängnis bedeuten kann, haben uns die Bilder zwischen der schwarz umrandeten, rechteckigen Klammer radikal erläutert.

Der Eissturm

(USA 1997, Regie: Ang Lee)

Spidermans Jugend
von Sven Jachmann

Als das diffuse Aufbegehren der 68er in den bürgerlichen Wohnzimmern der 70er Jahre langsam dahin dämmerte, sahen deren Einrichtungen zwar geschmackvoller aus, aber die Befindlichkeiten ihrer Insassen darbten elendig. Häusliches …

Als das diffuse Aufbegehren der 68er in den bürgerlichen Wohnzimmern der 70er Jahre langsam dahin dämmerte, sahen deren Einrichtungen zwar geschmackvoller aus, aber die Befindlichkeiten ihrer Insassen darbten elendig. Häusliches Glück gegen gesellschaftlichen Druck zu tauschen, innerfamiliäre Solidarität als Schutzwall gegen ökonomische Zurichtung zu zelebrieren, den politischen Kampf im Privaten fortzusetzen, Intimität als Versprechen des Begehrens zu kultivieren, also die einst mit Hoffnung aufgeladenen Bausteine, mit deren Hilfe schließlich das zynische 80er Jahre Gebilde errichtet werden sollte, nichts davon sind die Figuren in Lees Ensemble-Film in der Lage zu erfüllen. Stattdessen üben sie sich im Vergessen. Die Eltern gehen fremd, wenn sie nicht ohnehin auf Parties beim Schlüsselspiel ganz offiziell ihre Partner tauschen oder sich im Ladendiebstahl versuchen. Die Kommunikation befindet sich im Leerlauf, weil Geheimnisse, Scham und unausgesprochene Wünsche den Wahrheitsgehalt jeder Aussage aufs peinlichste in Frage stellen können. Die Konnotation der Worte lässt sich quasi nicht mehr verbergen, und somit verkehrt sich die Intimität zur Entfremdung, die Imagination des heilversprechenden Familienlebens zur individualisierungsprovozierenden Zwangsgemeinschaft.

In dieser Provinz jedenfalls, meinetwegen auch in diesem Sittengemälde, scheint alles von Resignation in Beschlag genommen zu sein. Das gilt für Interaktionen und Handlungen der Individuen, noch mehr aber der Generationen. Eltern und Kinder dulden einander, besitzen aber keinerlei Verbindung, allenfalls die der autoritären Inanspruchnahme seitens der Eltern. Dabei befindet sich der Nachwuchs bereits am Scheideweg zwischen pupertärer Entdeckungsreise und Erfüllungsgehilfenlüge, wie sie elterlicherseits beständig vorexerziert wird. Zumindest können auch sie ihre Hoffnungen nicht mehr realisieren, ohne Leid hervorzurufen. Erst der Stillstand der Welt durch den Eissturm, leitmotivisch unentwegt eingeflochten und vorbereitet, ermöglicht eine erste gegenseitige Annährung der Protagonisten. Dass es hierzu aber den Tod braucht, verweist als Katastrophenszenario ein weiteres Mal auf die Kommunikationsunfähigkeit aller Betroffenen zu Lebzeiten. Einen Umschwung sollte man hiervon zumindest nicht erwarten.

So finster das nun alles klingen mag, so sanftmütig wiederum versteht es Lee, nicht zuletzt dank einer höchst motivierten, illustren Schar einst hoffnungsvoller Nachwuchsschauspieler, die das heutige Filmgeschehen bestimmen (Spiderman, Frodo und Christina Ricci, alle sind sie da), die Verknüpfung all dieser Beziehungen mit einer solch sanften Ironie zu spinnen, dass kein einziges Mal der Gedanke aufkommen will, man wohne gerade bloß einer kritischen Demontage der Institution Familie bei. Es mag manchmal auch der Humor sein, weswegen man sich überhaupt daran erfreut, dass die Philosophien der Fantastischen Vier mehr über diese verkorksten Beziehungen zu sagen wissen, als es das gesprochene Wort jemals könnte. Es ist gar nicht so ironisch gemeint, gar nicht eigentlich, aber man stelle sich dies alles bitte mal als Peter Parkers Jugendzeit-Bebilderung vor. Na? Ja, schon eine verrückte Zeit in der wir heute leben …

Salto für Anfänger

(SE / A 2007, Regie: Hannes Holm)

Die letzte Hausfrau
von Andreas Thomas

Es gibt einige Fragen, die dieser Film bei mir aufwirft: Gibt es noch Hausfrauen? Wenn ja, was ist das? Wenn nein, wer guckt diesen Film? Oder anders: Interessieren sich beinharte …

Es gibt einige Fragen, die dieser Film bei mir aufwirft: Gibt es noch Hausfrauen? Wenn ja, was ist das? Wenn nein, wer guckt diesen Film? Oder anders: Interessieren sich beinharte Karrieremiezen für Filme, in denen kinderlose aber trotzdem hausmütterliche Schauspielerinnen mit Faible für Cremetörtchen Karriere machen wollen? Gibt es noch immer diese im Dunkeln menschelnde Kehrseite kalt lächelnder EllbogenmonsterInnen?

Bella heißt eigentlich Isabella und ist so in etwa das naivste Mädchen um die Vierzig, das seit der Ente Schlubberdack (Gab es jemals die Ente Schlubberdack?) quer über die Leinwand dilettiert ist. Eine weitere Frage ist (die sich bei der Ente Schlubberdack nicht stellte): Was dilettiert mehr: die schwedische Hauptdarstellerin, Drehbuchautorin und Autorin der Romanvorlage Martina Haag oder ihre deutsche Synchronstimme (erster Eindruck: Wer murmelt denn auf der Tonspur dazwischen, ich möchte gerne den Dialog verstehen …)

Nun gut, die Ente Schlubberdack ist nicht mehr die jüngste aller Enten und deshalb wird sie immer abgewiesen: bei Funk, Film und Fernsehen. Nur bei Theater ist da ganz plötzlich was frei, aber auch nur, weil Ingmar Bergman noch lebt und so was Extravagantes wie eine artistische Ente in seiner „Was ihr wollt“-Inszenierung braucht. Und weil sie, also natürlich nicht die Ente, sondern die etwas teigige Bella, aufgrund der Chancenerhöhung in ihren Bewerbungsunterlagen angegeben hat, dass sie des Artistischen mächtig sei; dabei, so sagen ihre Eltern, keuche sie schon beim Schuhanziehen.

Nur gut, dass das schwedische Nationalheiligtum Ingmar Bergman so ein bisschen gegen Lebensende tendiert, denn auf diese Art wird die Nagelprobe mit der Artistiknummer immer hinausgeschoben, weil Herr Bergman noch kränkelt. Und so kann Hühnchen Bella sich noch nebenbei verlieben in den wirklich aufregenden Top-Darsteller Micke, der, obgleich gestanden, noch immer voll eines jugendlichen Charmes ist, dessen angegangene Hühnchen bedürftig sind.

Also gut, Micke, nicht faul, rennt engagiert Bellas offene Türen ein, entführt sie nach Wien, um selbiges zu ihren Füßen auszubreiten, um für den Film die Tantiemen des Co-Produzenten Österreich einzustreichen, und um, werweiß, wieder mal ein (Nest-)Häkchen auf seiner Eroberungsliste zu machen? Der erste Anschein, so viel sei verraten, trügt, liebe LeserInnen! Oder nicht? Wen aber, so fragt sich, sollte dieses nun noch interessieren, oder, um dann zur Kernfrage zu kommen: Wer will denn diesen Film jetzt noch sehen?

Ich hoffe, meine stark stilisierte Schilderung der Handlung von „Salto für Anfänger“ hat niemanden auf die Idee gebracht, diesen Film zu meiden, denn ich gebe zu: Mir hat der Film Spaß gemacht und vor allem war er kurzweilig, obwohl er in keiner Weise besonders lustig, originell oder gut gespielt ist. Vielleicht mag ich diesen Film, weil er und ich so altmodisch und naiv sind, weil wir immer noch an die große Liebe und das große Glück und den großen Erfolg glauben. Und wenn es all das nicht gibt, dann glauben wir daran, dass wir auch das mit Humor wegstecken können, und wir glauben an eine überschaubare Welt, in der es nichts Bedrohlicheres geben kann als einen greisen und gestrengen Regie-Gott, oder vielleicht noch Lover, die uns belügen könnten. Ich mag bunte Farben, ich mag die Schönheit des Herbstes und ich mag das geputzte Schweden und das prächtige Wien mit seiner Zauberflöte und ganz doll: MICH. Sowas wie diesen Film und wie mich gibt’s eigentlich gar nicht mehr sonst. Und ich weiß jetzt auch, was ich bin: Ich bin eine Hausfrau.

9 Songs

(GB 2004, Regie: Michael Winterbottom)

Sex. Sex. Sex.
von Dietrich Kuhlbrodt

Lass es einfach geschehen. Zu erklären gibts nichts, und das ist grade das Hinreißende an diesem Britfilm. London. 8mal in ein Rock’n’Roll-Konzert gehen vom Black Rebel Motorcycle Club bis zu …

Lass es einfach geschehen. Zu erklären gibts nichts, und das ist grade das Hinreißende an diesem Britfilm. London. 8mal in ein Rock’n’Roll-Konzert gehen vom Black Rebel Motorcycle Club bis zu Franz Ferdinand. Und was zwischendurch? Sex. Sex. Sex. And Drugs (Tabak! Speed! Koks!).

War die Kamera vorher im Publikum und nahm die Musikbühne frontal, kommen jetzt raffinierte Großaufnahmen. Ein Nippel, sacht massiert von Daumen und Zeigefinger. Eine Scheide, geöffnet. Was hindert die Kamera am Eindringen? Ein ejakulierender Penis. – Es fällt kein Wort. Auch die Montage kommentiert nicht. Kein Dekor, kein Was-will-der-Autor-damit-sagen. Wohl aber Sexgeschäftigkeit im stillen Einverständnis, – alltägliche Kommunikation, befreit vom Bedürfnis, sich entschuldigen oder doch erklären zu müssen. – Das ist die Sensation der „9 Songs': Es fehlt die psychologisierende Exkulpation, und es fehlt die Schutzbehauptung, es werde halt Realität dokumentiert. Ergebnis: Wir sind mit diesem Film allen legitimatorischen Spinnkram los. Dank Regisseur Michael Winterbottom („In This World'), der „9 Songs' für 160.000 Dollar in 8 Tagen gedreht haben will.

Dramaturgie gibt es dennoch. Die Sexkommunikation kommt an ihre Grenzen. Fesselspiele? Warum nicht. Mal was zu dritt ausprobieren im Sexclub? Eher nicht. Einsam vor sich hin masturbieren? Nä, der/die andere wird sauer. Allerdings wissen wir, daß die Liaison zwischen der aufgeschlossenen Austauschstudentin und dem knackigen Klimafolgenforscher von kurzer Dauer ist. Das hat er uns gleich am Anfang rückblickend gesagt, auf dem Luftweg ins arktische Eis. Meine Rückfrage beim hiesigen einschlägigen Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (Pik) hat allerdings ergeben, daß die Forscher keineswegs mit einer kleinen Maschine allein ins große Weiße fliegen, um sich vom Eiskern Scheiben abzuschneiden. Das hinwiederum hielt die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) nicht ab, „9 Songs' für Jugendliche ab 16 Jahren freizugeben. Zu bedenken ist dabei, dass die FSK schon seit langem von den Jugendbehörden übernommen worden ist. Die Freigabe der „9 Songs' ist ein Verwaltungsakt. Bravo doch! Ganz im Trend der bravourösen Verkehrung. Schützten vor gut zehn Jahren die Filmprüfer noch die deutsche Jugend vorm Film, so schützen sie heute die Jugend (medienkompetent!) vor inkompetenten Erziehungsberechtigten. Für 16jährige ist das also schon okay mit sex and drugs and rock’n’roll – im Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2005

Going to Pieces

(USA 2006, Regie: Jeff McQueen)

Feiertagsgeschichten
von Sven Jachmann

Was von der offiziösen Filmgeschichtsschreibung bisher lediglich in der Peripherie seiner Aufarbeitung harrte, scheint in den letzten Jahren nicht nur im akademischen Bereich in den Genuss einer differenzierten Auseinandersetzung zu …

Was von der offiziösen Filmgeschichtsschreibung bisher lediglich in der Peripherie seiner Aufarbeitung harrte, scheint in den letzten Jahren nicht nur im akademischen Bereich in den Genuss einer differenzierten Auseinandersetzung zu geraten. Im angloamerikanischen Raum etablieren sich die Pornstudies, dem Splatter als Methode wird sich mittlerweile bereits mannigfaltig in den kulturwissenschaftlich orientierten Filmwissenschaften gewidmet, dem Slasherfilm und seinen Protagonisten rücken verstärkt die Gender Studies zu Leibe. Auch das Geschehen im filmhistorisch fokussierten Dokumentarfilm kennzeichnet eine, mal mehr, mal weniger gelungene, Öffnung gegenüber den (mutmaßlich) randständigen Erscheinungsformen seiner Zunft: „Midnight Movies' (2005) beleuchtet das Phänomen des Undergroundkinos als ritualisierten Kult und skizziert implizit auch den Wandel der filmökonomischen Auswertung; „Schlock! The secret History of American Movies' (2000) begibt sich in die Niederungen des Z-Films und schafft es dabei zugleich, eine Art alternative Filmgeschichtsschreibung jenseits der breitenwirksamen Aufmerksamkeitsschwelle zu offerieren; „Inside Deep Throat' (2005) macht den ersten international erfolgreichen Porno endgültig salonfähig und „The American Nightmare' (2000) führt ein in den gesellschaftlichen und politischen Kontext, der die Genese der unbequemen Bildproduktionen der fauves begleitete und ihnen einen subversiven Impetus einschreibt, der die bloß unmittelbare Schockwirkung des bis dato konventionellen Horrorkinos weit übersteigt.

„Going to Pieces' eignet sich insofern bestens als Doublefeature zu „The American Nightmare', weil sich in seinem thematischen Gegenstand, dem Slasherfilm, sozusagen die reaktionäre Kehrseite der Methode Splatter zu einem ganzen Subgenre verdichtet, dessen Erfolgsgeschichte der Film chronologisch, begleitet von zahlreichen Exkursen und in freier Anlehnung an Adam Rockoffs gleichnamige Buchvorlage, nachspürt.

Nachdem „Psycho' und „Peeping Tom' die Schaufel ansetzten, „Halloween' und sein unabsehbarer Erfolg den Weg ebnete, oblag es nun den Epigonen, angefangen mit „Freitag der 13.', jenes Schema an Gesetzmäßigkeiten zu etablieren, das dem Slasherfilm damals wie heute seinen schlechten Ruf einbrachte. Ein klappriges Handlungsgerüst, dem scheinbar nur die variierenden Feiertage als Anlass zugrunde lagen, die puritanische Moral der Bestrafung gekoppelt an eine nicht sonderlich verhohlene Misogynie, jene ungemeine Phantasiebefähigung in Fragen des kreativen Tötens und der Wiederherstellung der Ordnung durch das tugendhafte final girl waren Wasser auf den Mühlen der Kritik. Diese ideologisch gefärbte Typologie spiegelt natürlich nur die halbe Wahrheit wider, und es ist dem Duktus des Films anzumerken, dass er, bei allen produktionstechnischen Anekdoten der Produzenten, Regisseure, Darsteller und Kritiker, auf mehr hinaus möchte, als mit ironischem Blick ein leicht angreifbares Subgenre zu sezieren, bei dem der Rezipient von Anfang an dessen offenkundige Mechanismen zu durchschauen glaubt. Vom grimmigen Voyeurismus, der den Zuschauer dank der stets anzutreffenden subjektiven Kamera mit dem Killer in eins setzt, etabliert in „Halloween', über psychoanalytische Attacken der genreimmanenten Geschlechterkonstruktionen und ihrer Rollenzuschreibungen in Gestalt der transsexuellen Angela in „Sleepaway Camp', von der sexualidentitären Mystifikation des Pubertätabschnitts junger Mädchen in „Slumber Party Massacre', bis zum ironischen Spiel mit antizipierten Genreerwartungshaltungen in „April Fool’s Day' zeichnet der Film ein weitschweifiges Bild alternativer Deutungsangebote, die schnell verdeutlichen, dass der Slasherfilm auch leicht gegen den eigenen Strich gebürstet werden kann. Mitunter entwickelte sich manche Produktion gar zum handfesten Politikum: etwa wenn erzürnte Eltern eine Kampagne gegen „Silent Night, Deadly Night' anstrengen, so dass sich der Verleih in letzter Instanz dazu gezwungen sieht, den Film um einen axtschwingenden Weihnachtsmann aus dem Programm zu nehmen. Ein Sachverhalt, der von den tendenziell eher walking als talking heads gebührend sarkastisch kommentiert wird, unter denen sich übrigens und glücklicherweise nicht nur die üblichen Verdächtigen wie John Carpenter, Wes Craven oder Tom Savini, sondern auch unbekannte Regisseurinnen und Akteurinnen wie Amy Holden Jones, Lilyan Chauvin oder Felissa Rose befinden.

Dass bei dieser Themenbandbreite so mancher Komplex nur angerissen wird, liegt in der Natur der Sache und fällt nicht wirklich ins Gewicht. Gerne hätte der Blick auf die italienischen Vorbilder über Mario Bava und Dario Argento hinausschweifen können, so wie auch die Renaissance und Transformation des Slashers im zeitgenössischen Film seit 'Scream' eigentlich bereits einer eigenen Produktion bedürfte. Wesentlich ärgerlicher mutet es da an, dass die Möglichkeiten des nun vielleicht interessierten Zuschauers einen genaueren Blick auf die hier verhandelten Werke zu werfen, aufgrund der hiesigen Zensurbestimmungen äußerst minimal sind. Kaum einer der Filme erblinzelte unzensiert das Licht der deutschsprachigen Welt, dutzende Titel sind gar bundesweit beschlagnahmt. So mag der Zuschauer in spe zwar prophylaktisch vor seinem eigenen Blutdurst beschützt werden, erlangt aber indes auch nur einen äußerst lückenhaften Einblick in die verschiedenen Zweige des Horrorgenres und seiner Geschichte. Mit der jüngsten Beschlagnahmung des Initialklassikers „Blood Feast' (1963) wird dies wohl auch in Zukunft so bleiben. Vielleicht ein brauchbares Thema für den nächsten Dokumentarfilm?

Stellet Licht

(MEX / F / NL / D 2007, Regie: Carlos Reygadas)

Der Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Die Schöpfung erwacht: Am Beginn von Carlos Reygadas‘ Film „Stellet Licht“ ist die Natur mit sich allein. Die Dunkelheit bricht förmlich auf, während das zaghafte Flüstern der Tiere anschwillt. Die …

Die Schöpfung erwacht: Am Beginn von Carlos Reygadas‘ Film „Stellet Licht“ ist die Natur mit sich allein. Die Dunkelheit bricht förmlich auf, während das zaghafte Flüstern der Tiere anschwillt. Die schweifende Kamera sucht sich einen Weg ins Leben: aus dem Unidentifizierbaren zum Licht hin und in den Tag hinein, der mit einem stillen Gebet beginnt. Natürliche Kreisläufe, Lebenszyklen und Pendelschläge: Die Struktur der Zeit verbindet Anfang und Ende, Morgen und Abend, Sommer und Winter. In „Stellet Licht“ wird für einen ewigen Augenblick die Uhr angehalten, um die Ausweglosigkeit eines emotionalen Dilemmas zu beschreiben; und um schließlich dann, wenn das Pendel wieder ausschlägt, die Erweckung durch ein heilendes Licht als Aufbruch und Verwandlung sichtbar zu machen.

Seine Frau Esther (Miriam Toews) und die sechs Kinder haben den Raum verlassen, der einfach und mit alten Möbeln eingerichtet ist. Wie auf einer Bühne sitzt Familienvater Johan (Cornelio Wall Fehr) am langen Küchentisch, von der statischen Kamera in einer langen, frontalen Einstellung aufgenommen, und windet sich verzweifelt und weinend in seinem inneren Schmerz. Was den stillen Farmer so erschütternd bewegt, erfahren wir bald darauf aus Gesprächen, in denen er sich zunächst einem Freund und danach seinem Vater (Peter Wall) mitteilt. Johan liebt zwei Frauen und empfindet dieses Glück zugleich als große Traurigkeit, die ihm wie „Blei in den Eingeweiden“ sitzt. Als gläubiger Mensch fragt er sich, ob sein Gefühlsdilemma „Gottes Werk oder das Werk des Feindes“ ist und ob seine zwischen Verlangen und Verzicht wechselnde Liebe zu Marianne (María Pankratz) nur dem „Durst nach Gefühlen“ folgt oder um die „Korrektur einer falschen Entscheidung“ ringt. Dabei resultiert das Leid aus dem Bewusstsein, dass es kein Zurück hinter das Geschehene in einen Zustand der Unschuld gibt.

„Friede ist stärker als Liebe“, heißt es einmal. Und dieses Mitleid mit dem Anderen, während alle Beteiligten leiden, führt direkt ins Zentrum einer friedliebenden Weltanschauung und Lebensordnung. Carlos Reygadas hat seinen mit Laien besetzten Film nämlich in einer nordmexikanischen Mennonitengemeinde angesiedelt, wo noch Plautdietsch gesprochen wird. Die offenen, freundschaftlichen Gespräche und der rücksichts- und verständnisvolle Umgang miteinander begünstigen dabei Reygadas‘ entdramatisierendes Konzept, das die existentiellen Konflikte nicht in äußere Handlungen und Ausbrüche übersetzt, sondern nach innen, in das Schweigen der Figuren verlagert. Entsprechend kontemplativ ist der von Ellipsen durchbrochene Erzählfluss des Films, der seine Höhepunkte nicht in der fiktionalen Zuspitzung findet, sondern in einer dokumentarischen, gleichwohl stilisierten Verdichtung von Zeit. Wer seine Produktionsfirma „Nodream Cinema“ nennt, schielt wohl kaum auf das Illusionskino. Und doch endet 'Stellet Licht' mit einem Wunder, dessen ambivalenter Gehalt die sozial-religiöse Ordnung bestätigt und wohl nicht zufällig an Carl Theodor Dreyers Film 'Ordet' (Das Wort) aus dem Jahre 1955 erinnert.

Straw Dogs

(GB 1971, Regie: Sam Peckinpah)

Häuserkampf
von Sven Jachmann

'Dies ist mein Haus. Gewalttaten in diesem Haus lasse ich nicht zu“, ruft David Sumner (Dustin Hoffman) dem aggressiven und trunkenen Pulk entgegen, der sein Anwesen belagert, um den hierin …

'Dies ist mein Haus. Gewalttaten in diesem Haus lasse ich nicht zu“, ruft David Sumner (Dustin Hoffman) dem aggressiven und trunkenen Pulk entgegen, der sein Anwesen belagert, um den hierin beherbergten und des Mordes verdächtigten Henry Niles (David Warner) zu lynchen. Wenige Minuten später, nachdem er seiner Frau Amy (Susan George) ins Gesicht schlägt und so unwissentlich Assoziationen an die Vergewaltigung hervorruft, die zwei der fünf draußen tobenden Männer an ihr verübten, wird David selbst der Gewalt Einkehr in sein Heim verschaffen. Keiner der fünf Belagerer verlässt lebend den Schauplatz. Die Gewaltspirale hat eine derartige Eigendynamik entwickelt, dass an ihrem Ende nur die absolute Eskalation zu erwarten war. Welche Mechanismen dazu vonnöten sind, um ihrer destruktiven Kraft eine solche Geltungsmacht zu verschaffen und wie der Weg dorthin beschaffen ist, das sind die Fragen, die Peckinpah in seiner so konzis anmutenden wie differenzierten Studie verfolgt und dabei scheinbar seine Westernsujets spezifiziert.

Denn so archetypisch der Konflikt zwischen Ratio und animalischem Impuls auch auf den ersten Blick erscheinen mag, wie er sich in der dichotomen Beziehung des intellektuellen Astro–Mathematikers David zu den rüpelhaften Dorfbewohnern des namenlosen englischen Städtchens, in welches es das frisch vermählte Ehepaar verschlägt, bereits in der Exposition einschreibt, so wenig dürfte Peckinpah daran gelegen sein, dieses alteingesessene Western-Motiv in die Gegenwart zu verlegen. Augenscheinlich sind sämtliche Ingredienzien vorhanden: Der pazifistische Held will in der Kleinstadt Ruhe für seine Arbeit finden. Die Bewohner beäugen ihn mit Skepsis und verunmöglichen jedweden Integrationsversuch. Die Situation spitzt sich zu: auch wenn David nichts davon erfährt, finden die Attacken in der Privatsphäre ihren Höhepunkt. Mit der Vergewaltigung von Amy wird die (sexuelle) Integrität des Körpers und der Intimität zerstört. Mit dem Versuch, sein Haus, also seinen Besitz, also sein Land, also seine Grenze samt der ihr eingeschriebenen Prinzipien zu okkupieren, folgt die blutrünstige Verteidigung der Manifestation seiner Würde und seines Glaubens. Zwar ist die Ordnung wieder hergestellt, sie trägt aber irreversible Risse davon.

Diese Lesart (und mit Blick auf die Zensuranfechtungen, die der Film – nicht nur in Deutschland – zu erdulden hatte, war sie stets die dominierende) unterschlägt in Gänze den Anteil der Rolle Susan Georges. Auf sie fokussiert, ließe sich die Inhaltsangabe auch folgendermaßen formulieren: Die Heldin kehrt mit dem frisch angetrauten Ehemann in ihre englische Heimatstadt zurück. Ihre stetigen Bemühungen, David die unvertraute Umgebung schmackhaft zu machen, bleiben fruchtlos. Seine intellektuelle Arbeit überschattet das Eheverhältnis und fördert zunehmend die gegenseitige Entfremdung. Gelangweilt von seinem Desinteresse und von Beginn an lebenslustiger als er, schlagen die Versuche, David aus der Reserve zu locken, in Frustration über. Im Gegensatz zu ihm hat Amy bereits erkannt, dass hinter seinem verhaltenen Wesen der Unwille steckt, klar Position zu beziehen. Mit diesem Wissen, sowohl David als auch die Interaktionsgepflogenheiten des Dorfes betreffend, schärft sich ihr Blick für die drohende Gefahr, die von seinen Bewohnern ausgeht. Gleichzeitig aber auch der Wille, dem Ehekorsett zu entfliehen. Enttäuscht von seiner defensiven Haltung und den damit einhergehenden Kränkungen, die indes nur sie bemerkt, bemüht sie selbst bei ihrer Vergewaltigung die letzten Kräfte (denn einer der beiden Männer scheint ein ehemaliger Beziehungspartner zu sein), um eigenmächtig Lustgewinn aus der Gewaltsituation zu kitzeln. Der Versuch schlägt fehl. Traumatisiert und gebrochen verbleibt ihr einzig zu beobachten, wie David alles darauf verwendet, sein Haus zu verteidigen und dabei selbst vor grausamster Selbstjustiz nicht zurückschreckt.

Man mag es drehen und wenden, doch das Bemühen dem Plot eine Hauptfigur zu unterstellen, unterschlägt das mehr oder weniger verborgene Gewaltmoment der hier präsentierten Ehekonstellation. Diese Ehekonstellation wiederum birgt von Anfang an soviel unausgesprochenes Konfliktpotential in sich, dass es nicht einer abweisende Umgebung bedurft hätte, um ihren Bruch zu befördern, zumal uns, etwa wenn Peckinpah unmittelbar in das Resultat eines Streits hineinschneidet und uns die Elemente seiner Genese vorenthält, zu viele Informationen fehlen, um die gemeinsame Geschichte der Charaktere, wie so oft üblich und drum gewohnt, über Informationsanreichungen der Tonspur zu erfassen. Wer die Charaktere sind, erfahren wir vornehmlich durch ihre Interaktionen. Da wir darüber hinaus über ihre soziale Situierung unterrichtet sind, liegt der Verdacht nahe, dem Verhalten von Typen beizuwohnen. Alles in dieser zurückgezogenen Welt scheint merkwürdig disparat zu sein, keine der Figuren auch nur einen Hauch des Vertrauens würdig. Die kontemplative Idylle der Natur ist nebelig und von einem abweisenden Grau durchzogen. Kein Kontrapunkt zur entflohenen Hektik der Großstadt. Die Bewohner reagieren nicht nur auf die Fremden mit Abweisung und vorgetäuschter Freundlichkeit, sondern scheinen auch untereinander zu keiner freundschaftlichen Bindung fähig. Ein junges Geschwisterpärchen hegt innige Zuneigung füreinander, und selbst in der ersten Einstellung, in der eine Gruppe Kinder zu sehen sind, die um einen verwirrten Hund laut singend herumtänzeln, wird nicht ersichtlich, wie die Grenzen zwischen Spiel und Qual beschaffen sind (das Oeuvre Peckinpahs indes lässt erahnen, dass es sich um Tierquälerei handelt).

In dieser Welt ist die Gewalt omnipräsent. Sie entlädt sich eruptiv, aber sie brodelt nicht im Verborgenen, allenfalls im Unausgesprochenen. Aus diesem Grunde ist das letzte Drittel des Films weniger das Resultat einer kausalistischen Rekonstruktion jener Mechanismen, die es braucht, um auch den Unbedarftesten zur Gewalt zu treiben. Dafür besitzt die Figur Davids doch eine zu exponierte Stellung: ob er beständig seine Frau mit seinem passiv–aggressiven Verhalten traktiert und zu keiner zärtlichen Regung fähig ist oder ob er gegenüber der Dorfintelligenz mit dezenten Provokationen und einem süffisanten Grinsen präsentiert, dass seine intellektuellen Fähigkeiten dem Narzissmus nicht fern sind, weiß er doch beim richtigen Anlass seine Kenntnisse zu nutzen, um als Sieger hervorzugehen. Es ist auch dieser Rationalismus, der ihm dazu verhelfen wird, die Verteidigung seines Heims siegreich zu koordinieren. Der Schlüssel hierzu ist seine Vernunft bzw. ihre gewaltsame Instrumentalisierung, und diese Instrumentalisierung hat er den gesamten Film über erprobt. In diesem Sinne bebildert Peckinpah weniger eine negative Anthropologie des Menschen, als die adornitische Skepsis gegenüber der Aufklärung: In einer unzivilisierten, gewaltdurchdrungenen Welt ist auch die Vernunft selbst vor dieser Gewalt nicht gefeit und führt ihr Wesen unter umgekehrten Vorzeichen fort. Das ist der unbequeme Tenor des Films: Straw Dogs sind überall zu finden.

Zur DVD: Die Edition lässt keine Wünsche offen und kann zu den wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichung gezählt werden. Das Booklet aus der Feder Mike Siegels informiert über die Produktionsbedingungen des Films und ist reichhaltig mit Werbematerial aus verschiedenen Ländern illustriert. Der ebenfalls von ihm eingesprochene Audiokommentar changiert enorm aufschlussreich zwischen Anekdote und Analyse. Das Material der Bonus-DVD besteht aus einem Teil seiner Dokumentation „Passion & Poetry: The Ballad of Sam Peckinpah.“ Als Ergänzung finden sich nicht verwendete Interviews sowie Trailer und die Super 8 Fassung des Films.

Da Euro Video es geschafft hat, nicht nur die langjährige Indizierung durch eine Neubewertung aufzuheben, sondern auch eine 16-er Freigabe zu erreichen, kann endlich jeder Interessierte auf dieses Meisterwerk stoßen, ohne verschämt das Gefühl erdulden zu müssen, mit halblegaler Ware zu hantieren, wenn sich der Händler gen Giftschrank bewegt.

Manufacturing Dissent

(CAN 2007, Regie: Rick Caine, Debbie Melnyk)

Von Petzen und Strebern
von Sven Jachmann

In „Manufacturing Dissent' ist der Verweis auf die Produktionsbedingungen des eigenen Werkes evident, denn das Regisseurgespann agiert selbst in der Figur des forschen Journalisten vor, bzw. als Erzählerstimme im Off, …

In „Manufacturing Dissent' ist der Verweis auf die Produktionsbedingungen des eigenen Werkes evident, denn das Regisseurgespann agiert selbst in der Figur des forschen Journalisten vor, bzw. als Erzählerstimme im Off, hinter der Kamera. Angetreten, um der Medienfigur Michael Moore auf die Schliche zu kommen und seinem selbstkreierten Mythos, altruistische und kämpferische Stimme aller Leidtragenden des kapitalistischen Verwertungssystems zu sein und so widerstandsmobilisierende Impulse zu initiieren, zu destruieren. Zu diesem Zwecke heften sie sich, im Zuge der Produktion von „Fahrenheit 9/11“, während einer amerikaweiten Lese-, Vortrags- und Aufnahmetour an seine Fersen und versuchen durch die direkte Konfrontation den Ungereimtheiten seines (filmischen) Werkes habhaft zu werden. Das Prinzip folgt also dem interaktiven resp. reflexiven Vorgehen: Alle Authentisierungssignale verweisen auf die Echtheit des Materials. Die Kamera läuft heimlich mit, wenn der unwirsche Rausschmiss aus einem Vortrag wegen einer gefälschten Akkreditierung angedroht wird. Dadurch wissen wir, dass sich das Team vor Ort befindet und der ganze Aufwand schließlich der Untermauerung jener These dient, dass Moore die Realität nach eigenem Gusto zurechtbiege und keine Gegenstimmen dulde.

Aber eine These will argumentiert sein, gefilmte Schauplätze allein können sie nicht unterfüttern. Deswegen greifen die Regisseure auf das Mittel zurück, welches sie vermutlich als Moore-Methode identifiziert haben wollen: Parallelmontagen von Behauptung und tatsächlicher Umsetzung, stakkatohafte Einflechtung zahlreicher Medienfunde aus TV und Film, noch unzähligere Interviewköpfe und zu guter Letzt immer wieder die Aufnahme des eigenen Konterfeis, meist nachdenklich bis besorgt in die Kamera blickend.

Auf der einen Seite finden wir also die Versicherung, dass alles Gezeigte sich so, manchmal gar unter erschwerten Bedingungen, und nicht anders zugetragen hat, auf der anderen Seite befindet sich der inszenatorisch ziemlich bescheidene Versuch, aus der Bearbeitung des Materials einen Argumentationsstrang zu flechten. Verstümmelte Kriegsheimkehrer aus dem Irak befürworten hier, obwohl in „Fahrenheit 9/11“ Gegenteiliges behauptet wird, nach wie vor ihren Fronteinsatz und das berüchtigte Gewehr aus „Bowling for Columbine“, welches Moore nach einer Kontoeröffnung direkt am Tresen als Prämie geschenkt bekommt, wird tatsächlich erst nach einer Überprüfung des Vorstrafenregisters in einer viele Meilen weit entfernt ansässigen Filiale ausgehändigt.

Man sieht, Moore verzerrt die Fakten für seine Botschaft, ist an der Integrität seiner Bilder scheinbar nicht interessiert, fiktionalisiert gar an Stellen, in denen nach Dokumentarfilm-Credo allenfalls Dramatisierung von Nöten ist. Ein Lanzenbruch für die Bilder-Skepsis also bei einem Mann, der in seinen Filmen die Geschichte Amerikas als sarkastischen Cartoon im South Park-Stil nacherzählt und, ganz uneigentlich, gleichzeitig die Illustrierung eines naiven Gattungsvertrauens der zwei Regisseure, in dem der Dokumentarfilm tatsächlich noch als Platzhalter der Wirklichkeit gegenüber dem Spielfilm siegreich ist, zumal beide bereits in der Wahl ihrer Interviewpartner nicht mit Sorgfalt glänzen: Da linke Kritiker (und dass hier der Diskurs aus linker Position vorangetrieben werden soll, suggeriert bereits der an Noam Chomskys und Edward S. Hermans Buch „Manufacturing Consent“ angelehnte Titel) der Moore-Methode in den USA scheinbar rar gesät sind, findet sich dann unter denen auch schon mal ein beleidigter Homepage-Betreiber wieder, dessen Qualifikation darin besteht, dass er sich schlicht von Moores gespielter Aufrichtigkeit hintergangen fühlt.

Caine und Melnyk unterliegen hier einem eklatanten Irrtum, denn Moores Weltbild dürfte mit dem der Linken bloß marginal übereinstimmen. Seine Kritik gilt nicht dem Wesen von Institutionen; sein Ruf nach gerechten Arbeitslöhnen für die ungerecht Behandelten tastet das kapitalistische Arbeitsprinzip nicht im Geringsten an; sein Unmut ergießt sich über korrupte Politiker, Gewerkschaftsführer, Medienmogule, Journalisten, Schauspieler, Vorstandsvorsitzende und Lobbyisten, also Funktionäre, die ihren Job genau genommen zu gut erledigen, als dass man es ihnen ungestraft durchgehen ließe. Ihnen ist der Zorn Moores gewiss und dabei betreibt er weiß Gott keine genuin linke Analyse der falschen Verhältnisse, sondern geriert sich vielmehr als emotionaler Moralist mit liberalistischer Attitüde und einem ordentlichen Hang zur Zivilcourage. Dass bei einem Mann, dessen ideologisches Gerüst vor allem die wortgetreue Auslegung der Verfassung darstellt, mit Vokabeln wie Entfremdung, Warenfetischismus und universellem Verblendungszusammenhang nicht sonderlich viel zu holen ist, dürfte auf der Hand liegen.

So beschreibt der Film letztlich eigentlich nicht mehr als den bloßen Umstand, dass populäre Menschen unter Organisationsstress leiden und nicht jedem Interviewer bereitwillig ein Drei-Stunden-Gespräch gewähren bzw. auch nicht fortwährend mit ihren Security-Guards besprechen, wer da gerade eigentlich des Platzes verwiesen wurde („Dabei sagte Michael Moore, dass er Kanadier liebt.“). Wenn Moore sich in seinen Filmen ziemlich unsubtil als hartnäckiger Querulant geriert, beschreiten Caine und Melnyk mit ähnlichen Methoden den umgekehrten Weg: Die angestrebte Destruktion des Images einer Pop-Figur führt zur Konturierung eines maulverdrossenen Nörgler-Paars, das einfach nicht begreifen will, warum es so wenig Aufmerksamkeit von seinem Gegenstand erhält, obgleich es doch mit einem ebenbürtigen Durchhaltewillen aufwartet.

Cannibals – Welcome to the Jungle

(USA 2007, Regie: Jonathan Hensleigh)

Die Amerikanisierung des Dschungels
von Sven Jachmann

Die zeitgenössische Renaissance des Splatterfilms drückt sich nicht bloß in der schlichten Entität zahlreicher Neuinterpretationen seiner klassischen Vertreter aus, sondern geht auch einher mit einer sukzessiven Transformation der ihnen zugrundeliegenden …

Die zeitgenössische Renaissance des Splatterfilms drückt sich nicht bloß in der schlichten Entität zahlreicher Neuinterpretationen seiner klassischen Vertreter aus, sondern geht auch einher mit einer sukzessiven Transformation der ihnen zugrundeliegenden Sujets und Motive, der man mit neuen Kategorisierungsversuchen, wie etwa dem so genannten Torture Porn, beizukommen versucht. 'Cannibals – Welcome to the Jungle' ist kein genuines Remake, dennoch drängt sich der Vergleich zu Ruggero Deodatos 1980 enstandenen Kannibalenfilm „Cannibal Holocaust' förmlich auf: Hier wie dort begibt sich eine Gruppe, in diesem Fall zwei sehr gegensätzliche adoleszente Pärchen, in die Tiefen des Dschungels; hier wie dort sind sie Vertreter westlicher Hegemonialmächte, angetrieben nicht nur vom Willen, ein Geheimnis zu lüften, sondern auch aus dessen Aufklärung entsprechendes Kapital zu schlagen, und hier wie dort bekommt der Zuschauer das quasi unverfälschte Destillat dieser Expedition präsentiert: nämlich die unbearbeiteten Aufnahmen des verschollenen Grüppchens, obgleich ungeklärt bleibt, wie dieses Rohmaterial in die Hände eines findigen Produzenten gelangen konnte, um einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden.

Natürlich gibt es auch Differenzen: Die beiden Pärchen sind keine Wissenschaftler, die das Andere, Naturwüchsige und deshalb zu Kolonisierende im unerschlossenen Territorium zu finden hoffen, sondern leicht zu begeisternde Mittzwanziger, denen vor allem der schnelle Ruhm und noch mehr das schnelle Geld vorschweben, nachdem sie vom mysteriösen Verschwinden Michael Rockefellers in Neuguinea, immerhin ein Sprössling des US-Vize-Präsidenten Nelson Rockefeller, unterrichtet wurden, der scheinbar eingeborenen Kannibalen zum Opfer gefallen ist. Aber auch die Authentifizierungsstrategie, die behauptete Echtheit des Filmmaterials und seine Aufbereitung, wandelt sich von einer Beobachterposition zweiten Grades in den unmittelbaren Blickwinkel: In 'Cannibal Holocaust' filmt sich ein Forschergruppe selbst bei der Suche nach den Hinweisen auf das Verschwinden einer zuvor ausgezogenen Forschergruppe, welche im brasilianischen Urwald das Leben eines mutmaßlichen Kannibalenstammes dokumentieren wollte. Nachdem das Filmmaterial ausfindig gemacht wird und der dokumentarische Blick ersten Grades bereits drastisch die Existenz der Kannibalen unter Beweis gestellt hat, folgt nun die Perspektive zweiten Grades: die Sichtung des vorgefundenen Filmmaterials, in dem sich die Anthropologen enthemmten Schlächtern gleich herrisch an ihrem Objekt verlustieren: Folternd, mordend und vergewaltigend drängen sie das Andere auf seine zu kolonisierende Position, bis die blutige Rache, das finale Gefressenwerden, erfolgt. 'Now we know, who the real Cannibals are', spricht es zum Schluss ein verstörter Kollege stellvertretend für den nicht minder verstörten Zuschauer aus, und der Kapitalismus-Diskurs lugt bereits um die Ecke.

Der wird in „Cannibals – Welcome to the Jungle' nicht unterbunden, jedoch zeitgenössischer Seherfahrung angepasst; es braucht scheinbar keine zwischengeschaltete Instanz mehr, weder um die Authentizität des Gezeigten zu untermauern, noch um es kritisch zu kommentieren. Denn wie in „The Blair Witch Project' wird das Material unbearbeitet, also 'unverfälscht' präsentiert, aber dennoch wird dieser Eindruck von einer personalen Erzählerinstanz beständig torpediert. Zu viele unlogische Schnitte verweisen auf die Künstlichkeit des Produkts (genauso wie die Akteure selbst, wenn sie regelmäßig die Kamera untereinander weiterreichen), zu viele Momente werden von der Kamera erfasst, in denen jeder überlebensympathisierende Mensch nur noch seine Füße in die Hand nehmen oder zumindest endlich das Handtuch resp. die Kamera werfen würde. Was echt sein könnte, diktiert einzig nur noch die Wahrnehmung der medialen Materialität, nicht derjenige, der sie auch noch verbalisieren muss, und diese Wahrnehmung ist nunmal nach rund 30 Jahren „Cannibal Holocaust' wesentlich geschulter.

So setzt sich die Spaltung der Perspektivierung, im Gegensatz zum Vorbild, gruppenintern fort: Rationalität vs. Hedonismus wird nun nicht mehr über zwei Forschergruppierungen verhandelt, sondern bereits im Kern verortet: Die hier präsentierte Gruppe bricht auseinander, nachdem das Hedonistenpärchen, lange Auseinandersetzungen über die spontan beschlossene Expedition vorausgehend, die Schnauze voll hat, den Proviant raubt und auf eigene Faust die Suche nach Rockefeller fortsetzt, wohingegen das Rationalistenpärchen zunächst erstmal mit der Suche nach dem Hedonistenpärchen beschäftigt ist, bevor es ebenfalls getötet wird. Diese unterschiedlichen Verläufe sind denn auch von den Kameras exakt aufeinander abgestimmt, will meinen, nach dem Überfall auf das erste Pärchen, setzt die Kamera des zweiten ein.

Und an dieser Stelle wird die Spaltung, die bisherig vielleicht plotimmanent erscheinen mochte, genremanifest: Genaugenommen haben wir es mit einem Hybrid, möchte man den Torture Porn denn als Subgenre anerkennen, zu tun: Im Gerüst des Kannibalenfilms schleicht sich der Torture Porn ein, und trotzdem referieren beide nicht mal entfernt in ihrer Präsentationshemmung auf die Kernelemente des jeweiligen Typus. Keine Folterungen, keine obligatorischen Fressszenarien, nirgendwo. Stattdessen: amerikanisch konnotierte Jugendliche im Urwald der Menschenfresser, deren Beschaffenheit ihren forschungsfreudigen Vorgängern in nichts nachsteht, obgleich bzw. weil ihre Herkunft scheinbar die Hybris diffus begleitet: Grenzkontrollen werden mit einem lapidaren 'I’m an American' quittiert, und das ist in etwa dasselbe Un- bzw. Selbstverständnis, welches schon in 'Hostel' die Figuren in die Bredouille trieb. Die Party wird also in den Dschungel verlagert, und sollte sie noch etwas Geld abwerfen, umso schöner, aber hierzu braucht es kein anthropologisches Erkenntnisinteresse mehr, sondern lediglich eine imaginierte Unantastbarkeit qua Nationalität, derer es in der Vorstellung der Figuren wohl einzig bedarf, um die Figur Rockefellers ausfindig zu machen. Aus organisatorischer Sicht jedenfalls kann das Vorhaben nur den sicheren Tod bedeuten: Die Nahrungsmittel sind auf ein Minimum beschränkt, auf einen Dschungelführer wurde verzichtet, und der Sonnenaufgang ist gleichbedeutend mit Katerstimmung. Was die Gruppe antreibt, ist ihr scheinbar unbeirrbarer Glaube, schon allein über die Rückversicherung ihrer nationalen Identität keiner Gefahr ausgesetzt zu sein.

Anders gesagt: Dem Dschungel droht nicht die globale Verdinglichung, sondern eine Amerikanisierung. Das Vergehen der Jugendlichen ist nicht ihre rationalistische Perspektive auf das Fremde, sondern die Perspektive ihrer Herkunft, und das erklärt dann auch die rückhaltenden Schauwerte des Films: Dass ihre Abstrafung nicht graphisch erfasst wird, mag dann das rächende Äquivalent zur von ihnen drohenden lebensweltlichen Okkupation sein. So wird dem Körper durch Marter nicht mehr Identität zugeschrieben, sondern er verschwindet, wird vom Dschungel unsichtbar verschlungen, so wie sich spiegelbildlich die Dominanz eines Lebensstils unsichtbar vollzieht. Ob dies nun allerdings beißenden Sarkasmus oder schnöden Konservatismus bedeutet, will noch entschieden werden.

Session 9

(USA 2001, Regie: Brad Anderson)

Augen / Blicke
von Sven Jachmann

Schön, wie der Film bereits mit der allerersten Einstellung sein narratives Prinzip etabliert: Die gewohnte Wahrnehmung wird hier buchstäblich auf den Kopf gestellt, dem Blick der Kamera sollte lieber mit …

Schön, wie der Film bereits mit der allerersten Einstellung sein narratives Prinzip etabliert: Die gewohnte Wahrnehmung wird hier buchstäblich auf den Kopf gestellt, dem Blick der Kamera sollte lieber mit Misstrauen begegnet werden. Gleichzeitig scheint sich hier eine entrückte Perspektive zu korrigieren; Erinnerungsfragmente zwingen den Blick förmlich zur Bodenständigkeit. Wir befinden uns in den Abgründen des unzuverlässigen Erzählens, und die Exposition lässt da keine weiteren Unschlüssigkeiten zu.

Im Auto unterhält sich Gordon, Chef seiner eigenen Gebäudereinigungsfirma, mit seinem Kollegen und Freund Phil über ein in Aussicht stehendes Engagement. Wir hören als erstes Phils Stimme, die mahnend und mit leicht autoritärem Unterton auf Gordon einredet. Im anschließenden Schuss-Gegenschusserfahren ist der Winkel jedoch ein wenig zu schief angesetzt, mit dem naheliegenden Effekt, dass beide aneinander vorbei zu reden scheinen und so recht dezent der Boden für die Skepsis in die Vertrauenswürdigkeit des Kamerablickes geebnet ist. Diese Methode ist heutzutage weiß Gott nicht neu; man könnte den Film abschätzig als Blaupause für Andersons drei Jahre später realisierten und von der Kritik hofierten „The Machinist' betrachten. Jedoch, und das ist es nunmal, was jede (auch vermeintliche) Genreerzählung zu einem hochkarätigen Diamanten schleift, der Weg ist das Ziel. Andersons Weg in „Session 9' ist unprätentiöser, vor allen Dingen erheblich selbstironischer ausgefallen, als im doch recht penetrant auf Verfall getrimmten Machinist. Sein Verlauf ist mit Spuren gespickt, Anhaltspunkten aber auch Irrwegen, die in erster Linie genregeschulte Sehkonventionen in die Enge treiben wollen.

Spätestens nachdem der Auftrag zur Sanierung eines seit den 80er Jahren leer stehenden Psychiatriegebäudes unter Dach und Fach ist, sich Gordon mitsamt seiner vierköpfigen Phalanx daran begibt, alle Artefakte des Vergangenen abzutragen, ist das Haunted-House-Motiv evident. 'Shining'-Referenzen, unheimliche Stimmen, zunehmende Spannungen in der Gruppe und so manche Szene, die direkt dem Baukasten des Horrorfilms entnommen sein könnte, zeugen davon. Insbesondere diese: Im Keller des Gebäudes findet Mitarbeiter Mike einen Karton mit den Unterlagen samt Tonbandaufnahmen einer ehemaligen Insassin. Neugierig an seinem Auge herumkratzend, öffnet er ihn mit Hilfe eines Messers. In einer schönen Parallelmontage sehen wir nun Gordon, der sich im selben Augenblick an der Wange verletzt; die düstere Tonspur leistet ihr übriges. Das Böse scheint entsprungen, Verdorbenes dringt hervor und wird von nun an die Gemüter in Beschlag nehmen. Meint man. Das ist auch gar nicht so falsch, allerdings wird sich dieses Böse von gar nicht allzu metaphysischer Natur präsentieren, wie der Film es konstant in seinem Duktus vorzugeben scheint. Stattdessen erweist sich das Auge selbst als schwächstes, angreif- wie manipulierbarstes, aber auch gefährlichstes Organ. Zahlreiche Detailaufnahmen, Gespräche, Inschriften, finale Attacken samt Vorgeschichte rücken es immer wieder an exponierte Stelle, so dass sich die anfangs etablierte Skepsis als vollkommen berechtigt heraustellen soll.

Nicht dem mutmaßlichen Haunted House ist die Gefahr inhärent, sie entspringt vielmehr dem fehlgeleiteten Blick nicht nur der Protagonisten: Unser Vertrauen in die Eindeutigkeit des Abgebildeten ist blanker Hohn.

Übriggebliebene ausgereifte Haltungen

(D 2007, Regie: Peter Ott)

Einen Matschwurf vom Abgrund entfernt
von Sven Jachmann

Grob gesagt läßt sich die Bandgeschichte der Goldenen Zitronen in zwei Phasen unterteilen: die Zeit vor und jene nach dem Mauerfall. Als Punk im Punk, als subkulturinternes Spiel mit Codes …

Grob gesagt läßt sich die Bandgeschichte der Goldenen Zitronen in zwei Phasen unterteilen: die Zeit vor und jene nach dem Mauerfall. Als Punk im Punk, als subkulturinternes Spiel mit Codes und Regeln einer starren Szene, die sich in den 1980ern entweder im plakativen Deutschpunk oder dem asketischen Straight Edge-Hardcore verfestigten, war ihr Auftreten zunächst auf die Irritation dieser missverstandenen Doktrin einer Selbstverwirklichung im Elend gerichtet. In Schlafanzügen und dererlei Verkleidungen mehr skandierten sie die Durchhalte- und Bekennerfloskeln der, ja, Mitstreiter einen Tick parolenhafter ('Für immer krank/ möchte ich sein/ für immer krank/ für immer bei der Krankenschwester/ für immer bei ihr sein') und vermengten das Klangschema mit Disco, Schlager, Glam, Pop, so dass dem Ergebnis bei noch so emsiger Suche keine Coolness oder Härte mehr abzuringen waren. Eine Identifikation mit den Inhalten war trügerisch (und sollte als Verfahren durchaus leitmotivisch auch das zukünftige Werk begleiten), weil sie stets mehr über den Zustand des Affen aussagen wollten, als ihn willfährig weiterhin mit Zucker milde zu stimmen. Diese Abgrenzung schien nach der 1986 erfolgten Tour im Vorprogramm der Toten Hosen, dem Bild-Skandal ums Stück 'Am Tag, als Thomas Anders starb' und Tim Renners 5-Jahres-Vertragsofferte bei Polydor zunehmend die letztverbleibende Möglichkeit, um nicht fortwährend vor einem Schnauzbartpulk das zur Farce geronnene Abbild der einstigen Parodie zu geben.

Das Publikum wurde dann ausgetauscht, als der Staat seine Fratze nicht mehr zu verbergen brauchte: Wiedervereinigung, Pogromstimmung in Hoyerswerda, Solingen etc. und Abbau des Asylrechts waren klare Wegmarken für eine politische Kultur des Regress, die auch ein reiferes Bandprofil forderten: Im Laufe der Jahre entwickelte sich hieraus eine völlig eigenwillige Collage aus HipHop, No und New Wave, Electro, Funk, Punk, Glamrock und eine Sprache der Zitation, die eigentlich kein genuines Autoren-Ich mehr kennt, sondern die Verhältnisse selbst durch Zitat und (Klang-) Montage erzählen lässt: vom gehorsamen Arbeitsethos, von verkrüppelten Beziehungen in den längst eingerissenen Sphären der Freizeit, vom Primat der Ware gegenüber dem Menschen, vom Revanchismus der Kunst.

Die Brüchigkeit des Kapitalismus setzt sich fort in der Identitätsverweigerung. So wie sich in den Songs die verschiedenen Stimmen und Positionen überlappen, gleicht auch die Bandstruktur einem Kollektiv, fernab vom zivilcouragierten Anstandsaufstand so vieler Phasenbetroffener: Töne werden nicht gespielt, sondern diskutiert eingesetzt, eine klare Zuweisung der Urheberschaft entzieht sich meist, und das Resultat pendelt zwischen gesungenem Diskurs und ästhetisierter Konsequenz einer nun mal missratenen Welt. Das ist keine Kritik, die konstruktiv im Parlament diskutiert werden will, sondern philantropisches Gespür für die Dialektik der guten Absicht, die sich trotzdem nicht zu echauffieren scheut.

Der Film bedient sich inszenatorisch dieses Prinzips. Inhaltlich zeichnet er akkurat die Historie nach, nutzt den Kommentar, setzt auf Talking Heads der einstigen wie derzeitigen Bandmitglieder oder sonst Involvierten, auf szenenahe Journalisten und Poptheoretiker. Aber er verweist gleichzeitig inhaltlich auf das Prozessuale, indem er die Bilder der Vergangenheit immer wieder mit den Studioaufnahmen der aktuellen Produktion kontrastiert, die ständige Reflektion abbildet, Gegenwart und Vergangenheit in Beziehung miteinander setzt und so dem Historisierungsverfahren der einschlägigen Rockumentarys entgeht. Da schreit so vieles nach Bruch und Relativierung: Die Interviews mit Urgesteine Ted Gaier und Schorsch Kamerun werden, teils dialogisch via Split Screen, von einem ergrauten Herrn verlesen, Gesprächspartner verschwinden aus dem verwackelten Bild oder sprechen im lauten Tumult eines Konzerts und sind kaum zu verstehen, minutenlange tonlose Archivbilder werden zur gegenwärtigen Studioaufnahme geschnitten. Alles macht deutlich: Dies hier ist nur ein Entwurf eines Verfahrens, das ständig in Bewegung ist. Entsprechend gleicht der Film einem Einordnungsversuch, dessen Schlusspunkt noch gar nicht eingetreten ist, dessen Bilder lediglich ein Deutungsangebot sind. Das mag für manchen eine elitäre Hermetik ausstrahlen; den Zitronen eher abholde Zeitgenossen werden sich durch den Film vermutlich nicht zu glühenden Anhängern wandeln. Daniel Richters Antwort auf die Frage, warum denn statt der Abgrenzung zum Schnauzbart nicht die Missionierung gewählt wurde, könnte genauso als Credo der Dokumentation herhalten (und spricht der Verweigerungshaltung des Punk wie der Autonomie der Kritik das Wort): 'Weil es die Mühe nicht wert ist. Du bist Künstler, weil du deinen eigenen Matsch verkleckern willst. Und wenn nur drei Leute sich bekleckern lassen wollen, dann ist das besser, auch für den Prozess, als wenn du auf dem Marktplatz stehst und Leute, die sich nun mal nicht bekleckern lassen wollen, mit Matsch beschmierst und die spannen alle nur die Regenschirme auf. Wozu soll das gut sein? Das macht dich nur unglücklich.'

Brinkmanns Zorn

(D 2006, Regie: Harald Bergmann)

Das Versprechen der Töne
von Sven Jachmann

Ein Spiel mit den medialen Realitäten: In „Brinkmanns Zorn' schnauft, grunzt, schimpft, trauert, monologisiert, dokumentiert der echte Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann jede Begebenheit ins Mikrofon, und all dies wird lippensynchron …

Ein Spiel mit den medialen Realitäten: In „Brinkmanns Zorn' schnauft, grunzt, schimpft, trauert, monologisiert, dokumentiert der echte Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann jede Begebenheit ins Mikrofon, und all dies wird lippensynchron von Eckhard Rhode ins Schauspiel und Bild übersetzt. Oder eben umgekehrt (der DVD-Directors Cut berücksichtigt auch Brinkmanns Super-8 Aufnahmen und unterlegt sie mit Dialogen und Monologen). Brinkmann schlägt auf Mülltonnen, erfasst das Schnattern der Enten, versucht penetrant wie empathiefrei seinen lernbehinderte Sohn zur Sprache zu führen, pinkelt in eine Nebengasse, beschimpft den Betonblock Köln usw. usf.

In Bergmanns Film wird das vorgefundene Material zum Destillat der Fiktion, und das lässt ihn irgendwo zwischen Dokumentar- und Spielfilm oszillieren. Hier sind alle Instrumente darauf ausgerichtet, dem Poeten Brinkmann ein filmisches Gesicht zu verleihen und zwar ausnahmslos mit Hilfe des bereits vorgefundenen Materials, den Tonbändern aus Brinkmanns Nachlass.

Der Film gibt sich redlich Mühe, aus den assoziativ vorgefertigten Dokumenten eine Geschichte zu entwickeln, weswegen das Präsentierte eben auch nicht als genuin Dokumentarisch begriffen werden sollte. Nicht der Schauplatz strukturiert das Geschehen, sondern es drängt umgekehrt das Geschehen dazu, den Schauplatz immer wieder aufs neue den Dokumenten zu überantworten, was gelegentlich nicht ohne Witz geschieht, etwa wenn ein Inlinekater das Szenario ohne Zweifel ins Hier und Jetzt befördert, obgleich der Schauplatz im Jahre 1973 angesiedelt ist.

Worum es Brinkmann geht: alles Erlebte, unmittelbar Gegenwärtiges detailgenau wie möglich mit Sprache zu fixieren und im Wissen um das Scheitern dieses Vorhabens aus der medialen Doppelung einen Bezug zur Wirklichkeit zu fixieren. Wohlwissend, dass dieser Vorgang keine Realität abbildet, aber vielleicht der Wahrheit am nächsten ist. Dieses Prinzip versucht sich auch Bergmann anzueignen, indem er den narrativen Rahmen den medialen Anforderungen anpasst. In den Wohnungen dominieren Halbtotale und Nahaufnahme den Bildausschnitt, unter freiem Himmel hingegen zittert die Kamera, entgleitet, verfolgt andererseits geradezu die Figur Brinkmanns, dem latent paranoide Züge nicht abgesprochen werden können und dessen Zorn sich fundamental an allem, ob Architektur oder Mensch, entlädt. Der Schnitt kopiert entweder seine Cut-Up-Technik oder die Kamera kontrastiert mit leichter Zeitlupe seinen assoziativen Wortschwall, um irgendwie eine Korrespondenz zwischen Ton und Bild zu finden, die in geschlossenen Räumen wiederum durch die Ruhe der Intimität ersetzt wird.

Hinter all dem verbirgt sich darüber hinaus noch die (eben erst durch den Film strukturierte) Biografie eines Künstlers, die Zurichtung des Materials zur erzählgeeigneten Plotkonstruktion oder eben ein unkoventionelles Verständnis einer adäquaten Literaturverfilmung. So wird Brinkmanns Methode in ein anderes Medium überführt, gleichzeitig aber auch eine in Teilen stimmige Biografie geformt. Die Impertinenz, mit der Brinkamm seinen sprachbehinderten Sohn zum Reden treiben will oder auch sein Umfeld unentwegt mit dem Mikrofon bedrängt, lässt die Ehe auseinanderbrechen und der Drang zum Dokumentieren erweist sich fortschreitend als Suche nach der Position des Subjekts in einer ausnahmslos durchverwalteten Welt, in der alles, die Wut wie die Trauer, die Literatur wie das Erleben, zumindest im brinkmannschen Verständnis, Kopie ist. Für diese Suche nimmt er also einiges in Kauf, und ob sie irgendwann mal von einem Ziel gekrönt worden wäre, bleibt ungewiss. Nach einer Lesung 1975 in Cambridge wird er von einem Auto angefahren und stirbt noch am Schauplatz. Ende der Geschichte.

The Wrestler

(USA 2008, Regie: Darren Aronofsky)

Ekstatische Körper
von Sven Jachmann

Darren Aronofsky ist ein Chronist des Untergangs. Und der (verborgenen) Süchte. Die Sucht wissen zu müssen, was die Welt zusammenhält oder ins Chaos stürzen wird, treibt den Mathematiker aus „PI' …

Darren Aronofsky ist ein Chronist des Untergangs. Und der (verborgenen) Süchte. Die Sucht wissen zu müssen, was die Welt zusammenhält oder ins Chaos stürzen wird, treibt den Mathematiker aus „PI' in die Paranoia, jene nach Glück, ein wenig Anerkennung und Unabhängigkeit mündet für die Protagonisten aus „Requiem for a Dream' in Abhängigkeit und Wahnsinn, dem unumkehrbaren Endpunkt. Der ist für jede Figur in Aronofskys Werk bereits mit der ersten Einstellung besiegelt, und der Weg dorthin ist ein dunkles Inferno aus Jump Cuts, Reißschwenks, Split Screens, ungewöhnlichen Kadrierungen, präzisem Musik- und Toneinsatz und dergleichen mehr – die Frage nach der verheerenden Wirkung sozialer Gewalt ist auch eine nach dem Einsatz der technischen Mittel. Der gesamte Apparat ist darauf ausgerichtet, das destruktive Potential der Selbstbehauptung in einer durch und durch abweisenden Welt zu beleuchten.

Das gilt auch für Randy the Ram, den einstmals in den 1980er Jahren begeistert gefeierten Starwrestler, von dessen Ruhm nur noch die Zeitungsmeldungen im Vorspann künden. Der Film setzt 20 Jahre später ein mit der Rückansicht auf Randy, der sich, hustend und körperlich schwer gezeichnet, in der Umkleidekabine einer Schulsporthalle von den gerade erduldeten Strapazen erholt. In dieser ersten Einstellung scheint bereits Aronofskys Abkehr von seinen stilistischen Manierismen durch: Das Schlachtfeld Leben wird nun vornehmlich auf den Körper selbst fokussiert, die einst exponierten inszenatorischen Mittel haben sich ihm unterzuordnen. Stattdessen wird das erwartete Bilderstakkato von der im Vergleich fast gediegen erscheinenden Handkamera Maryse Albertis ersetzt. Trotzdem ist bereits frühzeitig klar: Dies hier ist kein Pendant zur verspäteten Aufsteigergeschichte eines Rocky Balboa, der Sog in den Abgrund hat längst eingesetzt. Das zeigt sich nicht nur in Randys hilflosen Versuchen, seinem Leben, wenn auch verspätet, Halt zu verschaffen, nachdem er mit knapper Not backstage einen Herzinfarkt überlebt, der ihn für immer aus dem Ring zwingt: Der (seit Jahren vernachlässigte) wiederbelebte Kontakt zu seiner Tochter scheitert ebenso wie die Annäherungsversuche zur Stripperin Cassidy. Dass es soweit kommen konnte, ist Folge des Mythos einer Zeichenwelt, die Ruhm verspricht, aber mit ihm das Fundament der identitären Selbstbesinnung absorbiert: Randy ist Relikt einer vergangenen Epoche, und hieraus resultiert auch die Tragik der Story: nämlich seinem Unvermögen, diesen Status als Relikt weniger zu akzeptieren als überhaupt zu begreifen und damit, dass das, was er als Zeichen verkörpert, nur noch von einem kleinen Kreis Eingeweihter (oder Unbedarfter: Die ansässigen Kinder im Trailerpark bekommen gar nicht genug von The Ram) erschlossen werden kann. In manchen Momenten ist dies noch tragisch-komisch, etwa wenn Randy einen Nachbarsjungen durch ein pixeliges 8-Bit-Nintendospiel beeindrucken will, in dem er selbst eine Spielfigur ist, stattdessen aber schwärmerisch in die Finessen von „Call of Duty' unterwiesen wird. In den meisten Fällen ist es bitter: Die schlecht besuchten Autogrammstunden scheinen einzig eine Ansammlung geschundener und längst vergessener Imagekörper zu sein.

Den ekstatischen Körper sehen wir bei den seltenen Ringkämpfen. Dann ist die Kamera nah dran und der Schnitt folgt der Dynamik der früheren Werke. Das Gesicht bleibt aber oftmals ausgespart – den Fixpunkt bildet die maschinelle Funktion des Körpers Publikumsreaktionen zu erzeugen. Außerhalb des Seilgevierts folgt seine Manipulation: der Besuch beim Friseur, im Solarium, im Gym, der Konsum von Steroiden. Es folgt aber ebenfalls der Eintritt in eine Welt, in der der Körper seine Zeichenhaftigkeit verloren hat: Hinter der Fleischtheke, wo er wochentags zu arbeiten gezwungen ist, um die Miete für den Wohnwagen aufzutreiben, verblassen Randys Performerqualitäten: Die Kunden reagieren mit Irritation. Erst nachdem ihn ein Fan belustigt identifiziert, verschreibt er sich vollkommen der Welt im Ring, um daran zu scheitern.

Dies ist die Bruchstelle, zwischen der Randys In-Ring-Character und seine Identität verwischen und die abweisende Welt zum Vorschein kommt: Es ist nicht die Ruhmsucht, die Randy vor das Publikum treibt, sondern eine Einsamkeit, die durch die Kunstfigur erst geboren wurde und nur durch die Rückkehr in den Ring wieder behoben werden kann. Sie trat dann ein, als die Simulation ein Leben außerhalb ihrer selbst nicht mehr gewährte, als der Ruhm zum manifesten Fetisch wurde. Im Prinzip stellt Randy gleich zwei Simulationen dar: Hinter der Identität außerhalb des Rings lauert die Einsamkeit, auf den Performer wartet nur noch der Tod. Dass Mickey Rourkes zu Recht Oscar-prämierte Rolle einige Stationen dessen eigener Karriere reflektiert, mag richtig sein. Diese Sicht unterschlägt aber eine weitere Karriere eines tragisch gescheiterten Akteurs, dem das Sujet wohl den Großteil seiner Inspiration verdankt (und dabei wird mir wohl jeder, der Barry W. Blausteins Dokumentarfilm „Beyond the Mat' gesehen hat, beipflichten): Jake »the Snake« Roberts, dem 'echten' Randy the Ram.

Monga – Gangs of Taipeh

(TW 2010, Regie: Doze Niu Chen-Zer)

Beschränkter Charme
von Lukas Foerster

Am Anfang gehen die fünf Jungs noch in die Schule. Doze Niu filmt die Bildungsanstalt wie ein Gefängnis. Knastähnliche Uniformen, sinnloser Drill, beengte, entfärbte Gänge. Von Anfang an ist klar, …

Am Anfang gehen die fünf Jungs noch in die Schule. Doze Niu filmt die Bildungsanstalt wie ein Gefängnis. Knastähnliche Uniformen, sinnloser Drill, beengte, entfärbte Gänge. Von Anfang an ist klar, wohin die Bewegung gehen muss: raus hier, über die Mauer, in die bunten Straßen, zwar nicht unbedingt ins echte Leben, aber doch immerhin in den Gangsterfilm.

Die antimoderne Welt des Gangsterfilms wird – gerade im asiatischen Kino – strukturiert vom Ritual. Blutsbrüderschaft, Treueschwur, Religion. Doze Nius zweiter, mit seinen knapp zweieinhalb Stunden Laufzeit eindeutig zu lang ausgefallener Spielfilm „Monga“ beschreibt die Initiation einer Gruppe Jugendlicher in den Ritus. Fünf Jungs, drei davon hinreichend individualisiert: Dragon trägt eine Fokuhila-Frisur – der Film spielt in den Achtzigern – und ist nominell der Anführer, im Grunde aber ein Emo avant la lettre, die gesamte zweite Filmhälfte über ist er chronisch verheult und er scheint zu wissen, dass ihm das steht. Eigentlich hat der coole Macchiavellist Monk die Fäden in der Hand, der einzige, der ihm Paroli bieten könnte, ist der Neue: Mosquito, ein agiler Melancholiker und ewiger Außenseiter, dessen vier, fünf Gesichtsausdrücke allesamt in erster Linie Weltschmerz kommunizieren. Die beiden anderen, Monkey und A-Lan, prügeln sich einfach nur unbeschwert und unreflektiert durchs Leben.

Im heimatlichen Taiwan war „Monga“ ein veritabler Blockbuster. Mit der reflektierten, entschleunigten Ästhetik des Neuen Taiwanesischen Kinos (das durchaus auch Gangsterfilme hervorgebracht hat: Hou Hsiao Hsiens „Goodbye, South, Goodbye“; Edward Yangs „A Brighter Summer Day“) hat das alles natürlich nichts mehr zu tun. Eher erinnert „Monga“ an die Triadenfilm-Schwemme im Hongkong-Kino der neunziger Jahre: Etwa an die seinerzeit überaus erfolgreiche „Young and Dangerous“-Serie, in der stets perfekt frisierte Popsternchen mehrere Jahre lang durch Hochglanzkulissen rannten und sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Auch die fünf Jungs in „Monga“ sehen eher nach Mitgliedern einer Boyband aus, als nach Kleinkriminellen – und in der Tat sind die drei zentralen Schauspieler in Taiwan populäre Teeniestars.

Was dem Film im Vergleich zu noch den schwächeren Hongkong-Filmen fehlt, ist ein Begriff von seinem Handlungsort. Monga, das titelgebende berüchtigte Viertel Taipehs, nimmt nie hinreichend Gestalt an, alle Schauplätze wirken austauschbar, verflacht, aufdringliche Ausleuchtung ersetzt kohärente räumliche Inszenierung. Eine Szene ist in blaues Licht getaucht, die nächste in gelbes, die übernächste in rotes. Wie die Panels eines Comics.

Man mag dem Film zu Gute halten, dass er noch in seinem Pathos konsequent billig bleibt, dass ihm – abgesehen von einigen technischen Spielereien in der Anfangsphase – alles Prätentiöse fremd ist. Das gilt auch für die obligatorisch bittersüße Liebesgeschichte: Wenn die Prostituierte Ning und Mosquito im Bordell nebeneinander liegen und auf einem Walkman gemeinsam kitschigen Asiapop hören, während um sie herum die Betten knarren und die Freier stöhnen, dann bekommt Doze Niu die Erbärmlichkeit seiner Figuren und ihrer Welt für einmal tatsächlich ziemlich genau zu fassen. Aber es ist ein Glückstreffer: die Musik ist auch im restlichen Film auf ähnlichem Niveau und alles in allem natürlich affirmativ gemeint. Seinen beschränkten Charme verdankt der Film seiner unbedingten Hingabe an die Klischees der ostasiatischen Pulp Fiction. Aber wirklich gutes Pulp-Kino entwickelt in seiner Form ein Verhältnis zu den Klischees – nicht unbedingt ein kritisches oder subjektives, aber doch irgendeines, irgendeine Form semantischen Widerstands. Im Fall von „Monga“ sind die Beschränkungen der Klischees ganz klar die Beschränkungen des Films.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Crosby, Stills, Nash & Young – Déjà Vu

(USA 2008, Regie: Neil Young)

Patriotische Pazifisten
von Andreas Thomas

Es gibt einen alten Sketch von den Monthy Pythons, da rennt ein aufgeregter Rekrut zum General und ruft mit wichtig rollenden Augen: „Nein, ich will nicht mehr Soldat werden, denn …

Es gibt einen alten Sketch von den Monthy Pythons, da rennt ein aufgeregter Rekrut zum General und ruft mit wichtig rollenden Augen: „Nein, ich will nicht mehr Soldat werden, denn wussten Sie schon: MAN KANN DABEI GETÖTET WERDEN!“ Ein bisschen kann man diese Überraschung mit jener der bushtreuen Amerikaner vergleichen, die zuerst für den amerikanischen Angriffskrieg auf den Irak waren und sich nun wundern, dass sie seitdem eine stets anwachsende Zahl toter Soldaten zu beklagen haben.

In Neil Youngs (unter dem Pseudonym Bernard Shakey gedrehten) Film „Crosby,Stills, Nash & Young – Déjà Vu“ kommen versehrte und enttäuschte Irak-Veteranen zu Wort, um ihre Söhne trauernde Mütter, sich betrogen fühlende Wähler – und die durch Neil Young wieder belebte Band „Crosby, Stills, Nash & Young“, die sich ihrer politischen Rolle zu Zeiten des Vietnamkrieges rückerinnert und mit den von Young geschriebenen Protestsongs seines Albums „Living With War“ auf die US-amerikanischen Bühnen stieg. Der Film „Déjà Vu“ begleitet die Anti-Kriegs-Tournee vom Norden in den Süden der USA von den „blauen“ in die „gelben“ Staaten, dorthin wo die konservativen Republikaner dominieren, die mit ähnlichem Fanatismus George W. Bushs „war against terror“ bejahen wie sie die Leidenschaft der Lieder des deklarierten amerikanischen Patrioten (der eigentlich gebürtiger Kanadier ist) Young lieben, der nach den Anschlägen des 11. September noch den Einschränkungen der Bürgerrechte mittels des „patriot act“ zugestimmt hatte.

Nun geht eine Schockwelle durchs Publikum in Atlanta, das CSNY mit ein Paar Songs in schönste Country-Rock-Schunkellaune erhoben hat, als Young im gleichen sing-along-Duktus anhebt, man möge den Präsidenten wegen Betrugs unter Amtsanklage stellen. Ein Drittel verlässt mit erhobenen Mittelfingern den Saal, und mit dubiosen Argumenten: „Niemand, der nicht sein Leben für das Vaterland riskiert hat, darf den Krieg kritisieren und: die Regierenden sind doch viel klüger als wir“ (der Sprecher, ein junger Mann, beweist gleichzeitig, was er sagt), angstbestimmt und unreflektiert: „Die muslemischen Terroristen im Irak versuchen, alle freien Amerikaner zu töten“ (dass Al Quaida vor dem Krieg keinen Nährboden im Irak und dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen besaß, wird verdrängt) oder völlig hirnlos und angepasst: „Die Musik von Neil Young lieben wir, aber er ist leider ein bisschen politisch geworden, Sorry.“

Dass schon allein eine eigene politische Meinung einen Bürger disqualifizieren kann, darauf verfallen nur totalitäre Staaten, oder Staaten, in denen das Selberdenken aus der Mode gekommen ist. Aber eben weil das amerikanische Hirn durch Indoktrination obligatorisch unterfordert und das amerikanische Gefühl durch Panikmache permanent überfordert ist, gelingt es CSNY im Jahr 2006 ihr Land da abzuholen, worin es am tiefsten steckt: in einem so irrationalen wie nationalen Zustand der Enttäuschung und Ratlosigkeit, angesichts ansteigender Opfer unter den Soldaten. Wo bisher Paranoia und kindliche Verlassenheitsängste herrschen, bieten CSNY den Menschen nun stimmungsvolle Hymnen zum Mitsingen und Mittanzen an, neue Identifikationsangebote mit ihrer Nation, Lieder von der Hoffnung auf einen starken und entschlossenen neuen „Anführer“, möge er auch „schwarz“ oder eine „Frau“ sein, Lieder, die weniger gegen den Krieg als vielmehr nationalistisch und, wenn man es so übersetzen will, egozentrisch sind. Lieder für Menschen, die nur dann zu Pazifisten werden, wenn sie einen Krieg verlieren.

Auf der emotionalen Schiene erreichen die schönen alten und schlichten und die neuen ein wenig zu eingängigen Protest-Songs Eltern, die in Angst um ihre Töchter und Söhne leben, Vietnamveteranen, die angesichts des Irakkriegs eine Art Déjà Vu ihrer Vergangenheit zu erleben vermeinen und „Hippieveteranen“, auch sie genuin eher emotionale als intellektuelle Wesen, die im Rentenalter noch einmal einen Hauch von Hippienostalgie spüren dürfen. Mit Politik hat all das natürlich herzlich wenig zu tun.

Das Schlimme aber ist, dass es nur so zu funktionieren scheint: Eine Nation, die in der Lage ist, zweimal denselben Präsidenten zu wählen, der nicht nur nachgewiesenermaßen aufgrund einer bewussten Falschaussage Krieg über ein anderes Land gebracht, sondern auch menschenrechtswidrige Haftbedingungen und Foltermethoden eingeführt hat, scheint kaum mehr mit rationalen Argumenten erreichbar zu sein, sondern nur noch über ihr verletztes patriotisches Bauchgefühl. So sehen wir immer wieder weinende, gekränkte und gerührte amerikanische Staatsbürger, allzu oft die amerikanische Flagge und die Ästhetik der amerikanischen Militäreinrichtungen und allzu oft CNN-Bilder mit den unten eingeblendeten Zahlen getöteter amerikanischer Soldaten (Präziser Bodycount: 4113, Stand: 5.Juli 2008). Auf die Zahl der irakischen Kriegsopfer aber wartet man im Film vergebens, sie beruht freilich auch nur auf Schätzungen. Seit Kriegsbeginn im März 2003 sollen zwischen 650 000 und einer Million irakische Zivilisten umgekommen sein.

Das Deutsche Kettensägenmassaker

(D 1990, Regie: Christoph Schlingensief)

Blut und Boden und Schleim
von Andreas Thomas

Nur bei einer zu schreibenden Filmkritik war mir so mulmig wie bei dieser: bei der zu „The Third Society“ von J.A. Steel, dem bis an ihre stählernen Zähne bewaffneten, bis …

Nur bei einer zu schreibenden Filmkritik war mir so mulmig wie bei dieser: bei der zu „The Third Society“ von J.A. Steel, dem bis an ihre stählernen Zähne bewaffneten, bis in die tödlichen Haarspitzen durchtrainierten Kampfschwein, das mir ihre unvorstellbar misslungene DVD eigenhändig aus USA zuschickte: mehr ein Befehl als eine Bitte um Rezensierung. Und nun ist Schlingensief dran, der im Interview auf der DVD „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ selig lächelnd erzählt, wieviel Spaß es bei der Premiere des Films gegeben habe, besonders als dieser eine „Redakteur“ ihm sagte: „Was du machst, ist Scheiße!“ und er einen seiner Lakaien beauftragte, den Mann doch mal eben von hinten an den Eiern zu packen und hochzuheben. Was für ein Fest, als er dann vornüber fiel…

Auch sehr freue ich mich auf diese Kritik, weil eine tragende Rolle in diesem Film (Dietrich) von dem lieben Co-Herausgeber und Förderer der filmzentrale Dietrich Kuhlbrodt, dem Schlingensief-Fan Nummer 1 innerhalb der deutschen Filmkritik, verkörpert wird. Dass seine Gattin Brigitte Kausch (Brigitte) auch mitspielt, macht alles nur noch unverfänglicher.

Okay: Dieser Film ist nicht nur Scheiße, er ist mehr als das: Er ist Scheiße plus das Gedärm, das sie produzierte, plus Reste der Tiere, deren Gedärm die Scheiße produzierte. Wobei wir schon beim Allegorischen wären, denn von nichts kommt nichts, und in dieser „Überhöhung“ erst ist zu erkennen, dass wir alle Scheißer einer Scheiße sind, genauso wie wir alle Schiss haben und dass wir alle irgendwie irgendwo irgendwann entweder ver- oder ausgeschissen haben oder haben werden. Scheiße, eine deutsche Spezialität.

Scheiße spielt im „Deutschen Kettensägenmassaker“ nur eine vergleichbar untergeordnete Rolle – genau wie im Metzgereifach, denn hier geht es ums Handwerk, um das Zeug um die Scheiße herum, um den goldenen Darm-Boden und um die hohe Kunst der Wurstzubereitung, eine andere deutsche Spezialität – im Vergleich zur texanischen des T-Bone-Steaks. Verarschen lassen wir Deutsche uns nicht, aber verwursten.

Im Jahre 1990 hat der Westen mit seiner 41-jährigen, schon leicht inzestuösen, Wurst-Erfahrung unerwartet neues, ein wenig graues (konnte man dann mit Farbstoffen auf frisch trimmen) Rohfleisch aus dem Osten gewinnen können. Jenen Vorgang nannte man „Wiedervereinigung“. Und selbiges Ereignis war Anlass für diesen Film, dessen Drehbuch Schlingensief – einerseits inspiriert durch Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“, (Teil 1 und 2) andererseits durch die bananenschwenkenden, „Wir sind das Volk“-skandierenden Menschenmassen beim Grenzübergang Ost-West, innerhalb von 14 Tagen fertig hatte. „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ bringt der Slogan des Films die Geschichte auf den Nenner, und Schlingensief korrigiert im Interview etwa 10 Jahre später: „Nicht einmal Wurst, sondern einfach nur Grütze“ sei rückblickend aus ihnen, den Brüdern und Schwestern aus dem Osten, geworden.

Zur Handlung:

Clara (Karina Fallenstein) aus Leipzig macht zuerst Haustier und Gatten (Susanne Bredehöft) nieder, dann über die Grenze (noch pseudobewacht von u.a. VOPO Irm Hermann) nach Westen, wo sie sich mit ihrem Lover Artur (Artur Albrecht) verabredet hat. Doch Artur hat keinen ausgeprägten Sinn für Romantik. Seitdem er im Westen ist, ist er „gestählt“ und leidet unter Zeitmangel. So hat er für Clara, aus Wiedersehensfreude, gleich zwei Matratzen auf die Straße gelegt, damit es sofort los gehen kann. Sein Vergewaltigungsversuch aber misslingt, weil ihm der Schädel von einem debilen Teutonen (Volker Spengler) weichgekloppt wird. Dieser ist inzestuöses Produkt einer Westfamilie, die, seit die Mauer gefallen ist, in ihrem Mercedes-Cabrio durchs Ruhrgebiet zieht – ganz wie John Wayne in „Hatari“ – um die gutgläubigen Tiere des Ostens einzustimmen auf den großen Verkauf: Zuerst werdet ihr tot! (Auf welche Weise Ihr hernach Euer Fleisch opfert, ist unbedeutend!) Und schließlich werdet ihr gegessen!

Unsere Westler zieren ihre zwanghaften blutigen Tötungsdelikte mit deutschem, allzudeutschem Jargon. So besteht in Großdeutschland nun wirklich keine Gefahr mehr, missverstanden zu werden, und alles passt. Und wenn Udo Kier in einer Doppelrolle einmal als Hitler-Double mit einem Hakenkreuz als Oberlippenbart und später dann als USA-Rückkehrer (Johnny) (der er ja auch ist) auftritt, der überkandidelt eine Show daraus macht, wenn er seine mit Hochprozentigem beträufelte Vokuhila-Minipli entzündet („Johnny breeennt!“), dann ahnen wir, dass hier die Zeichen und Symbole sprechen – solange wir denken und nicht fühlen wollen, weil das ja unseren ganzen Hormonhaushalt und guten Geschmack nachhaltig infizieren könnte.

Alfred Edel spielt den Haupterben der deutschen Tragödie. Er tut es eingedenk des mit Totenkopf gefüllten Wehrmachthelms, den er als „Vater“ bezeichnet und den er nicht sterben lassen kann – weil er definitiv untot ist. Edel spricht den Chef der Metzgerei und Edel spricht uns den deutschen Vater, nach dessen simpler Leichen-Ordnung sich das Deutschland dieser Metzgerfamilie zurücksehnt – angesichts der doch komplexeren postmodernen Schlachte-Kultur – allein: der Nazi-Patriarch schweigt, damit Edel uns sagen kann, was er immer noch denkt. Genauso wie Hitchcock uns per Anthony Perkins verriet, was Frau Bates nicht mehr sagen konnte, aber wollte!

Überhaupt die Zombies hier, all die Untoten und all das Untote. Deutschland per se ist vergammelt, versammelt, verdammt und drin in dieser kruden, stümpernden Vergangenheits- und Gegenwartswurst. Letztlich einlassen müsste man sich schon darauf, dass im „Texas Chainsaw Massacre“ genau so viel Surrealismus steckt wie im „Goldenen Zeitalter“ eines Bunuel – um dessen deutsche Antwort als das zu begreifen, was sie wirklich sei….Denn wenn wir unser Unbewusstes denken, können wir uns freuen über einen der besten deutschen Filme der Nachkriegszeit, sollten wir aber beginnen zu fühlen, werden wir kapieren, dass Christoph Schlingensief uns bereits jetzt voll an die Eier/-stöcke genommen hat.

Die Dinge des kapitalistischen, westdeutsch-gewendeten ostdeutschen „life-style“ werden nicht mehr gezeigt, sondern rohest versinnlicht. Der gefühlte, wie eine Kettensäge vibrierende, Film-Text ist der der Gewalt, der psychotischen Finalität, und die erzählte Geschichte ist die vom Immerwiederkehren des Vergewaltigen, Massakrieren und Verdarmen. Der Film ist weit jenseits konventioneller Geschichtsklitterung angelangt, er geht triebhaft, hemmungslos und irrational dem latenten Paradigma der beiden vereinigten Deutschlands auf den Leim und deshalb bis zum Ende auf den Grund: „In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es egal, ob es gut ist oder schlecht!“

„Das Deutsche Kettensägenmassaker“ zählt, neben etwa von Sternbergs „Der blaue Engel“, Staudtes „Der Untertan“, Kluges „Die Patriotin“, Fassbinders „Lola“, Schlöndorffs „Die Blechtrommel“, zu den filmischen Schlüsselwerken der deutschen Geschichte, weil der Film Geschichte da verortet, wo sie eigentlich passiert: in dem, was feuilletonistischer Geist gern verdrängt, im puren Körper (und seiner Verwendung), und heute und gestern: im Grinsen des Totalkapitalismus, im systemimmanenten Verdikt zum mentalen Töten, Sterben, Quälen, Leiden. Der Film über das Irresein in Deutschland. Adorno nannte dergl. noch höflich: „Das Unbehagen in der Kultur“.

Zu wenig geschleimt?

Wenn Ärzte töten

(D 2009, Regie: Hannes Karnick, Wolfgang Richter)

Der alte Mann und das Meer
von Andreas Thomas

Leider fängt das Distinktionsproblem dieses Dokumentarfilms zum Thema Ärzte im Dritten Reich schon mit seinem Titel an, der sich so reißerisch wie ein B-Krankenhaus-Horror-Film gibt. Des Weiteren aber wussten die …

Leider fängt das Distinktionsproblem dieses Dokumentarfilms zum Thema Ärzte im Dritten Reich schon mit seinem Titel an, der sich so reißerisch wie ein B-Krankenhaus-Horror-Film gibt. Des Weiteren aber wussten die Regisseure Hannes Karnick und Wolfgang Richter anscheinend nicht so recht zu unterscheiden zwischen den Medien Buch und Film, weil sie Zweiteres benutzen als sei es Ersteres…

Seit Jahrzehnten erforscht der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton die psychischen Konditionen für Individuen in totalitären Gesellschaftssystemen oder ideologischen Zusammenhängen. Er beschäftigte sich mit den psychologischen Lebensbedingungen in der Volksrepublik China, befragte Überlebende der Atombombenabwürfe von Japan oder Vietnamkriegsteilnehmer, um deren mentale Strategien zu erforschen, mit Erlebnissen umzugehen, die über das Normalmaß hinaus belastend sein müssen.

Lifton untersucht gleichermaßen die Folgen für das menschliche Bewusstsein nach Kriegs- oder anderen Extremsituationen wie auch das ideologisch geprägte Denken einer großen Anzahl von Menschen, ohne welches Krieg und Homizid nicht möglich wären.

Zu ihnen zählen bekanntlich auch einige deutsche Ärzte, welche, angeleitet von Leuten wie Dr. Josef Mengele, direkt in Auschwitz einerseits mit zynischen medizinischen Experimenten an wehrlosen Opfern betraut waren, und denen andererseits, und zwar an oberster Stelle – das ist weniger im Bewusstsein der Öffentlichkeit – der Einsatz der Gaskammern, also die aktive Tötung der darin befindlichen Menschen überantwortet war. Vergasung als Ärzteauftrag, dergleichen Erkenntnis ist eine der besonderen, deren dieser Film eines Lobes zu würdigen sei.
Konjunktiv. Deshalb, weil ein Film Film ist und nicht tausend Worte machen kann wie ein Buch – aber Bilder, derer sich „Wenn Ärzte töten“ enthält, da wo es gut gewesen wäre.

Die Kamera verharrt meistens in Liftons spartanischem Studierzimmer und beobachtet den über achtzigjährigen Autor und Miterfinder der psychohistorischen Wissenschaft beim Nachdenken und Nachformulieren dessen, was 23 Jahre zuvor in seinem Buch „The Nazi Doctors“ redigiert und lektoriert und angesichts des Themas in gebotener Gründlichkeit erschienen ist. Mit jedem Satz, mit jedem Gedanken steigert sich der Eindruck, dass das Wesentliche hier nicht unterkommen kann, dass aber auch die gelegentlichen Fragen der beiden Regisseure eher die Kette der Liftonschen Gedanken unterbrechen, als dass sie dem Film helfen, auf einen thematischen Kernpunkt zu kommen: „Wie kommt es, dass Ärzte in kurzer Zeit zu Mördern werden können?“ heißt eine Frage, die direkt nach einer fünfminütigen Ausführung Liftons darüber, dass Ärzte sich prädestinierter als andere dazu fühlen mögen, über Tod und Leben zu entscheiden, weil sie sich seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte mit dem Mystischen assoziierten und auch assoziiert wurden, alles Gesagte annulliert und den Autor dazu zwingt, wieder neu anzufangen.

Und immer wenn Lifton etwas von Gewicht sagt, wie z.B.: „Nach dem Krieg hat mir ein Nazi-Arzt erzählt, dass er als Geburtshelfer jetzt Leben zur Welt bringt. Er hat dabei gedacht, dass er vorher Leben beendet hat, aber er hätte es nie gesagt“, dann wird sensibel eine dezente, nachdenkliche Musik über seinen Monolog geblendet, so dass wir auch alle mitbekommen, dass hier etwas ganz Empfindliches und Wichtiges gesagt wurde. Undenkbar wäre solch eine emotionale Lenkung etwa in einem Claude-Lanzmann-Film.

'Wenn Ärzte töten' wird die Leistungen von Robert Lifton sicherlich nicht schmälern, auch wenn der Film kaum Versuche unternimmt, Lifton näher zu kommen als es eine falsche Ehrfurcht nahe legt. Aber so bleibt es bei den Bewunderern, hinter der Kamera, des Denkenden, vor der Kamera, und bei den Pausen mit Musik und mit dem Blick auf die leichte Meeresbrandung, die der Zuschauer erhält, um nachdenklich sein zu dürfen.

Still Walking

(J 2008, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Normal ist, was sich sehen lässt
von Florian Reinacher

Einmal im Jahr kommt die Familie Yokoyama zusammen, um des ältesten Sohnes zu gedenken. Dieser, so erfährt man sehr früh, kam vor Jahren schon beim Versuch ums Leben, einen kleinen …

Einmal im Jahr kommt die Familie Yokoyama zusammen, um des ältesten Sohnes zu gedenken. Dieser, so erfährt man sehr früh, kam vor Jahren schon beim Versuch ums Leben, einen kleinen Jungen vor dem Ertrinken zu retten. Für einen lauen Sommertag entführt uns 'Still Walking' in ein kleines Küstenstädtchen, hinein ins Elternhaus von Ryota (Abe Hiroshi) und dessen Schwester Chinami (You), um diesem schönen, melancholischen Ritual beizuwohnen. Wie kaum ein anderer seines Faches versteht es der japanische Autorenfilmer Hirokazu Kore-eda dieses recht ereignislose Ereignis in seinen vielen teils ernsten, teils verspielten und zuweilen auch komischen Abläufen und Schattierungen auszumalen, ebenso die vielen kleinen und großen Geschichten aus dem Familienleben, die Geschäftigkeit und die Ruhe zu erzählen. Die ganze Festivität steht unterm Diktum der Alten, von der Zubereitung des Essens bis zu den nicht abreißenden Sticheleien des Vaters, für den der Zweitgebohrene eine konstante Enttäuschung ist. Dieser hat es nämlich versäumt, anders als sein toter Bruder, rechtzeitig in die Fußstapfen von Vater Shohei (Harada Yoshio) zu treten und den Arztberuf zu ergreifen, von dessen Prestige und überragender Wichtigkeit sich der Alte unumstößlich überzeugt zeigt.

Zu allem Überfluss bringt Ryota auch noch seine neue Ehefrau, die Witwe Yukari (Natsukawa Yui) und deren Sohn aus erster Ehe mit, was für den eigensinnigen Vater ein kaum zu verkraftender Affront gegen die Anständigkeit und das Gebot der Normalität darstellt. Und auf Normalität – dies wird nicht nur an der immer wiederkehrenden Frage danach deutlich – kommt es an. Die Normalität der Familie – und auch das ist typisch für die Filme Kore-edas – ist dabei immer bestimmt von einer gewissen Abwesenheit. Schon in seinem 2001 veröffentlichten 'Distance' versichern sich die Protagonisten ihres Normal-Seins erst durch das Sprechen über und das Erinnern an die abwesenden Personen. In 'Nobody Knows' erwarten die vier Kinder ständig die Rückkehr der abwesenden Mutter, bis diese Wartehaltung selbst normal wird und in seinem letzten Spielfilm 'Air Doll' von 2009 steigert sich die Abwesenheit eines Mannes sogar zur fantastischen Belebung einer Aufblaspuppe, die sich dann in Tokyo auf die Suche nach einer eigenen Identität aufmacht.

Die Totenfeier in 'Still Walking' entpuppt sich im Laufe der Geschichte als im doppelten Sinne verstellte Trauerarbeit. Auf der einen Seite gibt es das Außen des familiären Hauses. Dort ist der Ort einer Maskerade, welche die Familie als geschlossene idyllische Einheit zeigt. Der Vater ist dabei Teil des Spiels, wenn er sich von den Nachbarn auf seinen täglichen Spaziergängen immer noch als „Doktor“ anreden lässt, obwohl er seit langem seine Praxis wegen eines Augenleidens nicht mehr betreiben darf; die Mutter, die selbst beim gemeinsamen Aufstieg zum Friedhof – Anstiege, Hügel, Berge und Treppen kommen häufig vor in Kore-edas Filmen und lassen sich als äußere Zeichen einer inneren Überwindung lesen – der offenbar unverwundenen Trauer über den toten Sohn keinen Raum gibt und selbst am Grab, wenn auch auf sehr liebevolle Art, den Prozess des Abschieds in seinem einstudierten Ablauf konserviert; der Sohn, der sich mit dem Handy am Ohr geschäftig gegenüber den Nachbarn zeigt, obwohl der arbeitslose Kunstrestaurator hier in der Rolle eines Bittstellers auftritt. Im Inneren des Hauses ist die Trauerarbeit auf eine andere Weise verstellt. Hier zeigt sich, dass besonders der Vater den toten Sohn schon deshalb nicht verabschieden kann, weil er in einem ungerechten Verdikt auf ihn all jene Hoffnungen projiziert, die der Zweitgebohrene bisher enttäuscht hat.

Ryotas Frau Yukari befindet sich als Fremde in Mitten dieser beiden Welten und ist damit fast eine der interessantesten Figuren in Kore-edas Film. Im Haus erweist sich die Witwe als Reibepol, als „gebrauchtes Modell“, wie Ryotas Mutter Toshiko (Kiki Kirin) sie nennt, an dem sich Mutter und Tochter über viele kleine symbolische Details ihrer eigenen Überlegenheiten versichern können und für die der Vater zunächst nur unverhohlene Abweisung übrig hat. Sie ist zudem eine ungeschickte Lügnerin, der die moralischen Bedenken der falschen Aussage im Wege stehen, zu der sie ihr Mann überredet, damit dieser nichts über seine schlechten Verdienstverhältnisse erzählen muss und ohne die sie sich wahrscheinlich nahtloser ins Maskenspiel der familiären Konstruktion einlassen könnte. Sie stellt damit aber eben jene Konstruktion auch infrage und veräußert sie als Motiv einer Abwesenheit von Abwesenheit, die im Inneren des Hauses herrscht, das nämlich zu klein und zu dünnwandig ist, als dass so etwas wie ein wirklicher Rückzugsraum für den einzelnen möglich wäre.

Nach Außen hin ist sie jedoch ein notwendiger Teil des Ganzen, ohne den das Bild der intakten Familienstruktur im Sinne väterlicher Traditionsvorstellungen gar nicht funktionieren würde. Dies fällt bei den beiden Szenen auf, in denen man die nach außen hin wichtige Konstellation sieht: Beim Gang zum Friedhof auf dem sich Großmutter, Schwiegertochter, Sohn und Enkelsohn zur harmonisch melancholischen Reflexion über die Verstorbene zusammenfinden und gemeinsam den mühseligen Aufstieg zum Friedhof meistern; bei der Abschiedsszene, als der Patriarch zusammen mit der Großmutter den neuen Verwandten die Hand gibt, als äußeres Zeichen der Reverenz. Ohne diese Oberfläche einer vermeintlichen Geschlossenheit ist die Existenz einer erfüllten Familienidee nichtig, die von den Beteiligten immer wieder als die alles bestimmende Frage nach Normalität aufgeworfen wird. Was kann diese Normalität überhaupt noch sein, nachdem das katastrophale Ereignis die Strukturen der Familie so tiefgreifend erschüttert hat? Kore-eda beantwortet diese Frage nicht leichtfertig, handelt sie vielmehr über einen originär filmischen Kniff aus.

An Yukari und ihrem Sohn demonstriert er nämlich, wie es mit der Sichtbarkeit steht in 'Still Walking', was gesehen werden kann und darf, oder was sich zeigen lässt und was nicht. Es gelingt Hirokazu Kore-eda auf meisterhafte Weise, über die Strategien des Zeigens von Normalität im Film diese Frage zu reflektieren, indem er der Figur Yukaris so etwas wie eine funktionale Macht zuschreibt und so die Nebenrolle zur heimlichen Hauptrolle erhöht. Normalität wird hier buchstäblich als eine Nebensache vorgestellt, die es an sich nicht gibt und die zunächst nur in der Außenwahrnehmung, als deren inszenierte Geschlossenheit existiert. Mit dieser Verschiebung der Ordnung von Sichtbarkeit erweitert er nicht nur die Forderungen des Autorenfilms, den Film von der „Tyrannei“ des Bildes als narrative Begleiterscheinung zu befreien, ohne das Bild dabei zu suspendieren. Er schafft sich so auch ein Höchstmaß an bildnerischer Freiheit, wie sie nur selten anzutreffen ist im japanischen Gegenwartskino. Diese Freiheit braucht jedoch seine inneren Opfer und Kore-eda wird nicht müde uns eben dies in seinen Filmen immer wieder zu versichern. Die Gemeinschaften, die er aufruft, stellen die innere Distanznahme, die sich paradoxerweise aus einem Zuviel an Nähe ergibt, stets ins Zentrum ihres Wirkens und ringen den verschiedenartigen Begegnungen einen anderen Gebrauch sozialer Praxis ab. Er lotet die mentalen und körperlichen Kosten aus, die es braucht, um das soziale Band zwischen den Individuen in seinen Filmen gleichermaßen zu knüpfen und zu lösen.

Obwohl Kore-eda im Vergleich mit seinen früheren Versuchsanordnungen hier ein sehr persönlichen Bild zeichnet, in dem der Regisseur, wie er selbst sagt, vieles über das Verhältnis zwischen ihm und seinen eigenen Eltern preisgibt, fällt der Film, was das Experimentieren mit dem Möglichkeitsraum des Normalen angeht, nicht aus dem Rahmen seines Werkes. War es in 'Distance' noch die abgelegene Waldhütte, in der sich die Protagonisten zusammenfinden, um das Geheimnis über eine obskure Sekte zu lüften, der jeweils einer der Angehörigen zum Opfer gefallen ist, in 'Nobody Knows' die tokyoter Wohnung, die als innerer Ausschlussort fungiert, wo die Kinder vor dem Zugriff der Außenwelt sicher sind und zugleich von diesem Außen mehr und mehr abgegrenz werden, oder in 'Air Doll' die Junggesellenwohnung des vereinsamten Mannes, der dort seiner Obsession für Liebespuppen nachgeht, bis dieser Wunsch im buchstäblichen Sinne ein Eigenleben entwickelt und auf die Straße tritt, so erprobt Kore-eda hier die Porösität der elterlichen vier Wände. Er zeigt uns was es heißt, diese Durchlässigkeit durch Rituale und Normalisierung abzudichten, damit im Inneren ein Leben mit den Toten möglich ist. Dies gelingt ihm sowohl cinematographisch als auch narrativ auf wunderschöne Weise. Sein visuelles Einfühlungsvermögen, sein feiner Sinn für die Aufteilung von Raum und vor allem sein sensibler Umgang mit den stets als ambivalent vorgestellten Figuren, machen 'Still Walking' unterm Strich zu einem der sehenswertesten Filme dieses Kinoherbstes.

Erstveröffentlichung in: f.lm

Full Metal Village

(D 2007, Regie: Sung-Hyung Cho)

Integratives Bangen
von Sven Jachmann

Ihr Regiedebüt „Full Metal Village“ nennt die südkoreanische Regisseurin Sung-Hyung Cho – nicht ohne Ironie – im Untertitel einen Heimatfilm. Mit fast schon ethnographischem Blick portraitiert sie die innere Dynamik …

Ihr Regiedebüt „Full Metal Village“ nennt die südkoreanische Regisseurin Sung-Hyung Cho – nicht ohne Ironie – im Untertitel einen Heimatfilm. Mit fast schon ethnographischem Blick portraitiert sie die innere Dynamik des kleinen Dorfes Wacken, wie es sich allmählich auf den alljährlichen Ansturm zehntausender Metalfans zum bereits traditionellen Wacken-Open Air vorbereitet. Dieser kurzfristige Ausnahmezustand ist es, was die Dorfbewohner zusammenführt und den Rekurs zum titelgebenden Heimatfilm vollzieht. Allerdings steht hier nicht der unmittelbare Zusammenprall zweier vermeintlich gegensätzlicher Kulturen im Mittelpunkt. Dafür nehmen die 20 Minuten Festivitätenschilderung deutlich zu wenig Platz ein.

Zunächst bleiben wir lange Zeit allein mit den Bewohnern und ihren ganz alltäglichen Empfindungen, ihren Sorgen und Freuden gleichermaßen. Da wird von einem der ansässigen Bauern die semantische Breite des Rinderbegriffs erläutert und selbstgemolkene Milch unter stoischer Beobachtung auf 40 Grad erhitzt, Teenies trainieren für ihre ersehnten ersten Gehversuche als Model, arbeitslose Bauarbeiter betonen ihre Rolle als vergessene Pioniere des Festivals, rüstige Bauernpärchen bekunden etwas ruppig ihre bereits über 40 Jahre anhaltende Liebe, auch wenn der Mann später eingestehen wird, dass diese Zeit selbstverständlich nur mit „einer Freundin“ zu bewältigen sei. Diese Offenheit mag verblüffen, aber zu diesem Zeitpunkt haben wir schon einiges über die Methode der Regisseurin gelernt.

Einmal, relativ zu Beginn, ist sie vor der Kamera zu sehen, als ihr vom Bauer mit gutmütigem Lächeln der Unterschied zwischen Bullen und Ochsen erklärt wird, was sie nickend mit Nachfragen dankt, die vielleicht nicht ohne Grund etwas zu naiv anmuten. Wer den Untertitel „Ein Heimatfilm von Sung-Hyung Cho“ übersehen hat, darf sich nun jedenfalls nachträglich ihrer offensichtlich asiatischen Herkunft versichern. Denn dezent webt der Film auch einen Diskurs über Xenophobie im beschaulichen Idyll ein, der sich im weiteren Verlauf, nicht vordergründig, aber doch beständig steigert, bis er, die Symbolik ist nicht schwer zu entziffern, am Beginn des Festivals kulminiert. Auch wenn wir Sung-Hyung Cho nicht mehr sehen, ist sie doch präsent: gelegentlich als Off-Stimme, manchmal auch als angesprochene Protagonistin: „Kennt ihr das gar nicht?“ und “Bei uns sagt man dazu …“. Eine kleine Differenz zwischen ihr und wir ist bereits markiert. Später wird sich der arbeitslose Bauarbeiter über die billigen polnischen Arbeitskräfte echauffieren, Oma Irmchen en detail vom Schicksal Vertreibung sprechen, kurz darauf gar, wenn die Festivaltage gekommen sind, erneut die Flucht zur weit entfernt lebenden Freundin antreten, weil ihr die Satansanbeter und Friedhofschänder zu großes Unbehagen bereiten, während ihre Enkelin begeistert Geschichtsbücher zum Nationalsozialismus durchblättert, die in ihrer reißerischen Aufmachung sicher nicht der Schulbibliothek entliehen sind. Als kuriosen Höhepunkt könnte man dann ihre Aussage bezeichnen, beseelt von der Hoffnung, das Schicksal der Ostpreußen und iher Oma auch „richtig“ zu verstehen, dass ihr größter Wunsch darin bestände, einmal wenigstens für eine Stunde den Zweiten Weltkrieg mitzuerleben.

Man merkt durchaus, dass Sung-Hyung effektive Mittel gefunden hat, um ihre Figuren zum Sprechen zu bringen. Trotzdem dominiert der versöhnliche Tonfall. Das Dorfleben nimmt seinen Lauf, seine Bewohner wirken schrullig und völlig harmlos und werden mit dezentem Witz in Szene gesetzt, wie auch ihre Tätigkeiten, die sich vornehmlich um Vorbereitungsarbeiten drehen. Die Ruhe vor dem Sturm, die dann vorbei ist, als die Kühe ängstlich die Weide verlassen, wenn auf der Tonspur der Metalsound hereinbricht. Die dramaturgische Zuspitzung ist inszenatorisches Programm, doch ein Eklat bleibt aus. Die betrunkenen Besucher sehen allenfalls düster aus, ihr Gemüt aber ist freundschaftlich. Wenn die dörfische Blaskapelle auf dem Festival zum Tanze bittet, vereinen sich Bewohner und Besucher auf der Tanzfläche, jeder zwar mit seinem eigenen Ritual, aber die Welt scheint zu Gast bei Freunden.

Nun bestechen Gäste insbesondere durch ihre Eigenschaft, früher oder später wieder zu verschwinden. Die Demarkationslinie der gemeinsamen Begegnung ist offensichtlich, wird aber nicht weiter verfolgt: Für die Besucher ist der Festivalbesuch ein rauschdurchsetzter Kurzurlaub, für die Anwohner ein Abwechslung versprechendes Intermezzo, kurz genug, um keine ordnungsdestabilisierenden Erschütterungen zu hinterlassen. Die Präsenz der Regiesseurin zeitigt sich als Spiel mit Angst vor dem Fremden und handfesten Ressentiments, gleichwohl sollen sich all diese Denkstrukturen durch die reale und aktive Begegnung als null und nichtig erweisen. „Die sind gar nicht schlimm. Die sehen nur anders aus.“ Bis zu diesem Punkt bleibt die Kamera dabei. Zu einem „Und sie bleiben ja nicht für immer“ dringt sie nicht vor. Zum Schluss scheint sich das halbe Dorf einzufinden, um gemeinsam die unüberschaubaren Reste des Gelages zu beseitigen, dieselbe Sequenz, mit der der Film eröffnet wurde. Gemeinsam lässt sich das Andere erdulden, scheinen die Bilder zu suggerieren, und der Diskurs über Xenophobie, über die Heimat in der Fremde gerinnt notgedrungenen zum Arrangement mit dem Unvermeidlichen, weil Unabwendbaren und schließlich für wenige Tage Prosperität versprechenden. Die polnischen Arbeitskräfte hingegen werden Störenfriede bleiben, weil sie als imaginierte Konkurrenten den Platz auf dem „eigenen“ Feld beanspruchen. Auch das kann Heimat bedeuten, wovon „Full Metal Village“ dann aber doch, bei aller Herzlichkeit, kein Zeugnis ablegen möchte.

Malevil

(F / D 1981, Regie: Christian de Chalonge)

Was tun?
von Sven Jachmann

Die atomare Vernichtung braucht keine Bilder der Zerstörung, auch keine insgeheime Koketterie mit der unbändigen Kraft der totalen Vernichtung: Wenn sich im beschaulichen Naturidyll des französischen Dorfes Malevil urplötzlich die …

Die atomare Vernichtung braucht keine Bilder der Zerstörung, auch keine insgeheime Koketterie mit der unbändigen Kraft der totalen Vernichtung: Wenn sich im beschaulichen Naturidyll des französischen Dorfes Malevil urplötzlich die Detonation ereignet, befinden sich die sieben Protagonisten im Weinkeller des Bürgermeisters. Blitze flackern hinter den Türritzen, die steigende Hitze lässt die Eingesperrten sich fast zeitlupenartig winden und das folgende Schweigen ersetzt jeden Schauer des Infernos. Der erste Blick nach draußen fällt auf eine graue Steppe.

Im Kino der letzten Hitzeperiode des kalten Krieges war der große Knall nicht selten bereits beschlossene Sache. Auch in „Malevil“ gilt es nun vornehmlich zu klären, wie sich auf den Trümmern zukünftig Zivilisation noch denken ließe. Dass diese Verhandlungen vor allem schweigend stattfinden, sich in den Handlungen beweisen, weil scheinbar niemand die Ursachen der Katastrophe kommunizieren möchte, verleiht dem Film seine entrückte Stimmung, irgendwo pendelnd zwischen endgültiger Resignation und stiller Hoffnung auf einen archaischen Neubeginn. Fast pittoresk fährt die Kamera das ausgetrocknete Flussbett ab, die verstummten Vogelgesänge werden von den Figuren simuliert. Aber es bleibt bloß Spiel mit der Normalität im Nirgendwo. Alle finden ihre Aufgaben, ohne dass es großen Austauschs bedarf, autark versucht man sich in der Burgruine einzurichten, und es soll auch tatsächlich gelingen, obgleich es der Intensität der Endzeitstimmung keinen Abbruch beschert: Da scheinen die Bedeutungen von Gesten und Aussagen längst als Relikt des vorherigen Lebens irgendwo unterm Aschehaufen zu verkümmern oder wollen neu gefunden werden. Aber die langen Einstellungen der Gesichter zeugen von der Furcht vor der Ungewissheit, die nur durch kleine Lichtblicke, wie einer sich langsam entfaltenden Liebe, erhellt wird.

Bis hier ist „Malevil“ eine bedrückende Parabel des unabdingbaren Durchhaltewillens des Menschen gegen jede politische Gewalt, schlimmstenfalls eben auch gegen die eigene Vernichtung. Mit dem Auftritt einer zweiten Gruppe, die sich unter der Herrschaft des faschistoiden Führers Fulbert in einem Zugtunnel eingerichtet hat, schlägt dieses Verfahren über in einen Disput der politischen Selbstverständnisse, an dessen Ende der blanke Verteilungskampf steht. An dieser Stelle gerät die flottierende Stimmung des Films ins Wanken. Was zuerst, dank der surrealen Inszenierung der vernichteten Welt als Raum und Abbild der Befindlichkeit der in ihr Überlebenden, die undurchscheinbaren Motivationen der Figuren skizzierte und somit das Gefühl der Ausweglosigkeit äußerlich wie innerlich erfasste, gerät ein wenig zu einem Stellvertreterkrieg, aus dem jedoch nicht so recht ersichtlich wird, weshalb er eigentlich geführt wird, scheint doch jeder vom Regime Fulberts abgestoßen zu sein. Glücklicherweise verkommt dieser Konflikt jedoch nicht zum sozialdarwinistischen Kommentar, sondern bleibt politisch motiviert. Das gilt auch für den pessimistischen Schluss, in dem Helikopter jäh in die langsam wieder gestaltbare Welt einbrechen. Das Gebiet wird evakuiert und zur militärischen Experimentierzone erklärt. Aus ihren schockierten Gesichtern ist abzulesen, dass den Überlebenden die Entscheidungsfähigkeit, welche ungewisse Zukunft nun die aussichtsreichere sei, langsam abhanden gekommen ist.

Poison

(USA 1991, Regie: Todd Haynes)

Identitätsfalle Genre
von Sven Jachmann

Dass queer nicht einzig auf den geschlechtsspezifischen, sondern auf die Irritation jedweden Identitätsbegriffs referiert, kann nun in Todd Haynes Debütwerk, welches gern als Initialklassiker des New Queer Cinema apostrophiert wird, …

Dass queer nicht einzig auf den geschlechtsspezifischen, sondern auf die Irritation jedweden Identitätsbegriffs referiert, kann nun in Todd Haynes Debütwerk, welches gern als Initialklassiker des New Queer Cinema apostrophiert wird, in aller Ruhe nachvollzogen werden. Wie auch in seinem Bob Dylan-Biopic „I`m not there“, in dem nicht weniger als sechs verschiedene Schauspieler der Figur Dylan ein Gesicht verleihen, ist auch bereits in „Poison“ diese zentralmotivische Ausrichtung in Haynes Schaffen spürbar.

Der Film erzählt drei ineinander verwobene Geschichten, die formell und narrativisch zwar wenig, motivisch aber sehr viel gemein haben: „Hero', „Horror' und „Homo'. Stilistisch einer TV-Reportage gleichend erzählt „Hero“ die Geschichte vom siebenjährigen Richard Beacon, der seinen Vater tötete und anschließend, laut Aussage seiner ihn in höchsten Tönen idealisierenden Mutter, einfach aus dem Fenster flog. Er selbst bleibt, mit Ausnahme einer kurzen Einstellung, abwesend; es sind die interviewten Gesichter, die uns Einblick in sein Seelenleben verschaffen. „Horror“ indes steht in der Tradition der 50er Jahre SciFi- und Horror-B-Filme und transformiert die darin eingelagerte (folgt man zumindest einer fast schon zur Kulturgeschichte verdichteten Rezeptionsebene) Kommunismusparanoia in eine sehr offensichtliche Aidsparabel.

In herrlich kruder Laboratmosphäre isoliert ein Wissenschaftler den Sexualtrieb, und nachdem er, abgelenkt durch seine neue Assistentin, versehentlich von der Mixtur trinkt, überfällt ihn eine Art Pockenpest, die nicht nur die Libido verstärkt, sondern sich durch Körperkontakt epidemieartig verbreitet. „Homo“ zuletzt arrangiert Elemente des Knast- und Arthouse-Kinos zu einer tragischen Liebesgeschichte zweier Inhaftierter, die sich bereits aus ihrer gemeinsamen Zeit im Erziehungsheim kennen und im machistischen Milieu der Institution gezwungen sind, ihre Homosexualität einzig als sadomasochistische Herrschaftsbeziehung auszuleben, um der Ausgrenzung zu entgehen. Was bei dem einen über Verdrängung kanalisiert wird, mündet bei dem anderen in der Adaption dieser Gewaltverhältnisse und letztlich in einer Vergewaltigung.

Verbindendes Element der drei Geschichten ist die Stigmatisierung der Außenseiter-Figuren. Dabei steht nicht ein Plädoyer für die Akzeptanz des Unbekannten im Fokus, sondern die Reaktionen der Umwelt auf potentielle Erosionsgefahren des status quo. Das zeigt sich bereits in der Verbindung des scheinbar Unverbindlichen: Die Leerstellen zwischen den Sequenzen drängen zu ihrer Unterfütterung mit Sinnrelevanzen, zumal sie selbst bereits das identitäre Gefüge der einstmals schließlich originären Genreerzählungen aufbrechen, sei es mit Mitteln des Experimentalfilms oder mit erzählfremden Kameraperspektiven. Inhaltlich erweisen sich die Erzählstränge zunehmend als Panoptikum individueller wie struktureller Exklusionsmechanismen gegenüber allem als deviant Deklariertem: Der kleine Richard ist ein Schwächling und wird dafür mit Prügel bedacht, gegen die er nicht mal aufbegehrt, sondern sie sogar forciert; der entstellte Wissenschaftler wird von einem Mob durch die Straßen gejagt, bis er, nach einem kurzen Appell an die Meute, in den sicheren Tod springt (Masken seines Konterfeis werden gleich vor Ort verkauft). Die Häftlinge unterliegen einem derart rigidem System der Selbstverleugnung, dass die einstmalige Misshandlung des einen (mit geöffnetem Mund muss er sich von seinen Folteren bespucken lassen) die Stimulation seines Vergewaltigers befördert, dessen Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit sich beständig als kitsch-poetischer Kontrast zum trist-grauen Knastalltag offenbart, bis die Realität die Bilder einholt und grausam überschattet.

Haynes spielt hier mit der strengen Codierung dichotomer Zeichensysteme: das, wie es ist schließt das, wie es sein könnte bereits kategorisch aus. Roberts Identität wird uns durch seine Abwesenheit als Konstruktionsleistung seines Bekanntenkreises vermittelt, die sich in ihrer Diagnose des pathologischen Befunds einig sind und das Erinnerungsvermögen des Häftlings hat sich der milieuspezifischen Realität solange unterzuordnen, bis es von ihrer Gewalt bis in die letzte Faser durchdrungen ist. Aber so unmöglich innerdiegetisch ein Ausbruch aus diesen Gesellschaftsgesetzen auch sein mag, so konsequent wird er dann doch in der Transformation der Genremodi vollzogen.

Im Tal von Elah

(USA 2007, Regie: Paul Haggis)

Auslaufmodell Humanismus
von Sven Jachmann

9/11 als traumatischer Bezugspunkt bestimmt schon seit längerer Zeit den Bilderkosmos Hollywoods: manifest etwa in Oliver Stones „World Trade Center“, latent in den jüngsten Apokalypsevisionen „I am Legend“ und „Cloverfield“. …

9/11 als traumatischer Bezugspunkt bestimmt schon seit längerer Zeit den Bilderkosmos Hollywoods: manifest etwa in Oliver Stones „World Trade Center“, latent in den jüngsten Apokalypsevisionen „I am Legend“ und „Cloverfield“. Schon die exzessive Gewalt in „Hostel“, so wollte es der Gesellschaftskritiker in manchem Filmkritiker, sei im Kern als Reflex der Folterbilder aus Abu Ghraib zu deuten, die selbst wiederum dem Diskurs der Mythologien eine weitere Note hinzuzufügen wussten: Nicht bloß die Wahrheit stürbe als erste im Krieg, sondern mit ihr nun auch die Humanität. An letzteren Strang knüpft Paul Haggis mit seiner zweiten Regiearbeit nach dem Debüt „Crash“ an und führt das Trauma 9/11 anhand des Irak-Kriegs ins handfeste Narrativ seiner geopolitischen Folgen.

„Im Tal von Elah“ erzählt von der Gegenwart des Krieges als phantomale Erscheinung. Nicht das Schlachtfeld ist sein Raum, sondern die Öde New Mexicos, wo der pensionierte Militär-Polizist Hank Deerfield (Tommy Lee Jones) auf der Suche nach den Mördern seines Sohnes Michael schmerzhaft seinen fast pathologisch anmutenden Patriotismus in die demütige Geste der Enttäuschung überführen wird. Nachdem die verstümmelte Leiche Michaels, der erst wenige Tage aus seinem Irak-Einsatz zurückkehrte, in der Nähe des Militärstützpunktes gefunden wurde, macht sich Deerfield eigenhändig auf, die Spuren der Tat zusammenzufügen. Unterstützung erhält er dabei lediglich von der Polizistin Emily Sanders (Charlize Theron), die dabei beständig ihr Vorhaben seitens der männlichen Kollegenschaft torpediert sieht.

Die Rahmung der Geschichte gehorcht in toto den Konventionen des Kriminalfilms. Das whodunit-Prinzip motiviert die Handlungen der Figuren, die Frage nach dem Tathergang ist das entscheidende Spannungsmoment. Zunächst als mutmaßlichen Nebenstrang etabliert, öffnet der Film jedoch im weiteren Verlauf ein Panoptikum an Bedeutungen, was der Krieg aus Menschen macht: nämlich Tote, versteinerte Patrioten, traumatisierte Mütter, apathische Soldaten. Und was er hervorruft: Devianz, Desillusion, gebrochene Vaterlandsliebe und einen Mikrokosmos an leerer, adressatenloser Kommunikation, an deren Ende die Gewalt als letztes Medium der Rückversicherung des Ichs verbleibt.

Wie das geht? Zunächst erstmal durch die Erzeugung medial gedoppelter Authentizität: Durch die vorerst verzerrten Videos aus Michaels beschädigtem Handy, die Deerfield von einem Computer-Crack rekonstruieren lässt, erlangt der Ort Irak Präsenz und die Figur Michaels eine dezente Kontur. Weil diese Videos unbearbeitet und deswegen glaubwürdiger sind, können wir ihnen mehr Vertrauen schenken als der massenmedialen Bildproduktion. Die Kontur Michaels wächst nun mit den fortschreitenden Ermittlungen: Was zunächst einem irgendwie typischen Soldatenalltag ähnelt, entpuppt sich zunehmend als Reise in den Irrsinn. Dem zunächst unbedachten Fußballspiel mit den Kindern eines ungenannten Ortes folgt ein zunehmend rauer Ton der Soldaten untereinander und kulminiert in einer sadistischen Folterung an einem Gefangenen. Den düsteren Erkenntnissen gleicht sich die Beschaffenheit des Ortes an: Gebrochene Soldaten vergessen sich in Drogen, belästigen Tänzerinnen eines Nachtclubs; ein anderer bringt den Hund seiner Freundin um, später sie selbst. Dies alles geschieht bloß auf der Tonebene, lenkt aber den Blick zunehmend auf die Schäbigkeit des Ortes, die immer auch die Schäbigkeit des Krieges nachzeichnen soll. Blumige Panoramaaufnahmen sind in dieser Welt latenter Verzweiflung ohnehin nicht zu erwarten.

Letztendlich dann die erschütternde Erkenntnis: Es war ein befreundeter Soldat, der Michael nach einer durchzechten Nacht umbrachte. Über 40 Stichwunden, Kopf und Hände abgetrennt, aber die Leiche konnte nicht mehr begraben werden. „Wir hatten Hunger“ sagt der Angeklagte stoisch zu Deerfield. „Es tut mir leid, dass wir ihren Sohn verloren haben.“

Aber hieraus spricht nicht die Banalität des Bösen, auch kein schizophrener autoritärer Charakter, der die Orte des Krieges und des Friedens nicht mehr zu trennen weiß, sondern schlicht die Banalität der falschen Kriegsführung. Nicht ohne Grund will Deerfield den Ergebnissen erster Ermittlungen, in denen noch davon ausgegangen wird, dass Michael wegen einer gruppeninternen Prügelei einfach zurück gelassen wurde, keinen Glauben schenken: Kein Soldat kämpfe Schulter an Schulter und würde dann so etwas tun. Als Vertreter einer anachronistischen Ordnung repräsentiert er ein überkommenes Solidaritätsethos, das den Prinzipien moderner Kriege nicht mehr Stand hält. Seine Katharsis erlebt er, ganz didaktisch, stellvertretend für den Zuschauer und die stilistischen Finessen des Films sind in Gänze auf diesen Effekt ausgerichtet: Nachdem alle Fragen geklärt sind, bekommen wir eine zuvor fragmentierte Video-Sequenz aus dem Irak nun in voller Länge präsentiert: Michaels und ein Kollege überfahren ein Kind. Niemals stehen bleiben, lautet der Befehl, die Gefahr eines Hinterhalts sei zu groß. An dieser Stelle besitzen die Authentifizierungsstrategien keine Relevanz mehr: Michaels steigt trotzdem aus und urplötzlich sehen wir sein zum Schock erstarrtes Gesicht aus der Warte eines imaginären Erzählers. Es verdichtet sich unweigerlich nur ein einziger Sinn: Seht her, das macht dieser Krieg aus unbescholtenen Bürgern! Unter solchen Bedingungen verabschiedet sich jedweder Anflug von Humanität, und zu welch entrückten Charakteren das führt, haben wir ja nun gesehen!

Dahinter verbirgt sich nicht mehr als das larmoyante Pathos des enttäuschten Patrioten, und das muss auch Deerfield realisieren, als er zum Schluss ein zweites Mal die amerikanische Flagge hisst. Allerdings verkehrt herum. Ein S.O.S.-Zeichen, wie wir zuvor erfuhren. Dieses Amerika hat Probleme, und dem Kritik simulierenden Tenor des Films folgend, helfen hier womöglich auch keine Blumen in den Gewehrläufen mehr, sondern nur noch ein paar ernste Worte mit den militärischen Machthabern.

Ein Kind zu töten

(ESP 1976, Regie: Narciso Ibáñez Serrador)

Schuld und Sühne?
von Sven Jachmann

Es ist nicht so einfach mit Serradors hierzulande seit 1984 durch eine Indizierung von der Öffentlichkeit ausgeschlossenem Terrorfilm: Die im Booklet angeführten Antragsbegründungen sind zu irrwitzig, als dass man den …

Es ist nicht so einfach mit Serradors hierzulande seit 1984 durch eine Indizierung von der Öffentlichkeit ausgeschlossenem Terrorfilm: Die im Booklet angeführten Antragsbegründungen sind zu irrwitzig, als dass man den Verantwortlichen auch nur einen Hauch Medienkompetenz zusprechen möchte. Denn die Geschichte um das junge Ehepaar Tom und Evelyn, die auf der spanischen Insel Almanzora eigentlich nur einen ruhigen Urlaub verbringen möchten, dort aber mit einer ganz und gar irdischen Gefahr konfrontiert werden, nämlich einer fröhlich lächelnden Schar von Kindern, ist weder exploitativ, noch entschuldigt sie Gewalt gegen Kinder, wie man in besagtem Antrag besorgt konstatierte. Ob er allerdings die Frage 'Wer kann ein Kind töten?', so der Originaltitel, seinem inszenatorischen Programm gemäß befriedigend löst, ist zweifelhaft. Dessen Implikationen berücksichtigend sollte er wohl eher lauten 'Wer tötet Kinder unter welchen Umständen?', aber das klänge in der Tat etwas zu thesenhaft.

Sicher jedenfalls ist, dass das im Horrorfilm nach wie vor außergewöhnliche Setting und so manche ebenso außergewöhnliche Szene darauf fokussieren, im Zuschauer einen Reflexionsprozess auszulösen. Das beginnt mit der durchaus auf Provokation getimeten Exposition, in der schwarzweiße Archivbilder getötete und verletzte Kinder aus verschiedenen realen Kriegen präsentieren. Jeder Schnitt auf das nächste Ereignis wird dabei von Kindergesängen begleitet, die stets in einem kollektiven, unschuldigen Lachen münden. Erwachsene tun Kindern schreckliche Dinge an. Es setzt sich fort in der auch genreuntypischen Diskrepanz zwischen mediterraner Idylle, die fast ausnahmslos sonnendurchflutet bleibt und kindlicher Unschuld, die nicht durch Alterität angetastet wird. Der Schrecken entsteht überhaupt erst dadurch, dass die Kinder in schönster Landschaft bei ihren grausigen Taten nie den Habitus des kindlichen Liebreizes abstreifen. Entsprechend gehemmt versucht sich das Paar ihrer Attacken zu erwehren, nachdem unmissverständlich klar geworden ist, dass die Kinder einen Rachefeldzug gegen alle Erwachsenen angetreten haben. Aber sie bleiben nun mal Kinder, auch wenn sie beim Pinata-Spiel statt einer mit Süßem gefüllten Pappfigur einen halbtoten Mann mit einer Sichel traktieren.

Wollte man vom Backwood-Programm des Horrorfilms ausgehen, das ja nun zwei Jahre zuvor mit 'Texas Chainsaw Massacre' seinen wohl immer noch wichtigsten Vertreter hervorbringen sollte, dann ist es nicht die pervertierte Kehrseite der Zivilisation, die hier zur Gefahr wird und von den potentiellen Opfern eine Assimilation erfordert, um ihrer wieder Herr zu werden, sondern das manifeste Konzept Zivilisation und die in ihr verankerten Rollen selbst: Auch in ihrer Unschuld können Kinder Böses tun, so wie ihnen von Erwachsenen trotz ihrer Unschuld, so zeigte es bereits die Exposition, jederzeit Böses angetan werden kann.

Aber hätte sich aus der Unauflösbarkeit dieser pessimistischen Prämissen nicht das viel radikalere Werk ergeben? Auch wenn keine endgültige Klärung der Motivationen, keine Rationalisierung und keine Katharsis erfolgen, führt der Film dennoch im Finale ein metaphysisches Element ein, wenn er den Kindern quasi telepathische Fähigkeiten zuweist, die in letzter Instanz selbst das ungeborene Kind Evelyns zur Rebellion zwingen werden. Das schwächt zwar nicht den brillant inszenierten Horror der Erzählung, aber ihren gesellschaftskritischen Impetus doch erheblich. Dass im Anschluss hieran Toms Vorgehen vollends rücksichtslos ausfällt, wirkt da fast schon genrekonform.

Eine ähnliche Konformität würde man sich allerdings bei anderen DVD-Anbietern wünschen, wenn es um Fragen der Qualität und Ausstattung geht. Denn beides ist auch bei dieser Edition wieder exzellent geraten.

Breaking the Waves

(DK 1996, Regie: Lars von Trier)

Religion revisited
von Andreas Thomas

Spätestens seit Nietzsche wird jeder halbwegs aufgeklärte Mensch die filmische Thematisierung eines Gottesopfers als etwas problematisch empfinden, was Lars von Trier ('Europa', 'Die Idioten') nicht davon abgehalten hat, 1996 dem …

Spätestens seit Nietzsche wird jeder halbwegs aufgeklärte Mensch die filmische Thematisierung eines Gottesopfers als etwas problematisch empfinden, was Lars von Trier ('Europa', 'Die Idioten') nicht davon abgehalten hat, 1996 dem Kinogänger mit 'Breaking the Waves' genau diesen Stoff, im Brustton der Überzeugung, zuzumuten. Dass der Film mit Preisen überschüttet wurde, ist entweder Beleg für eine orientierungslose Filmkritik oder für die Raffinesse eines der intelligentesten Filmemacher der Gegenwart

Die junge, naive und kompromisslos empfindsame Bess, Mitglied einer kleinen, streng religiösen Gemeinde an der schottischen Küste zu Beginn der siebziger Jahre, heiratet Jan. Was seine Freunde verwundert: Nach der Trauung gibt es kein Glockengeläut. Die puritanische Gemeinde besitzt aus Prinzip keine Kirchenglocken. Weil Bess das Leben ohne Jan, der wochenlang auf einer Bohrinsel arbeiten muss, nicht erträgt, betet sie in einem ihrer vielen Zwiegespräche zu 'Gott' (wobei sie 'Gottes' Antworten sich selbst mit sonorer Stimme gibt), dass Jan für immer bei ihr bleiben kann. Als Jan nach einem Arbeitsunfall als fast vollständig Gelähmter zu ihr zurück gebracht wird, gibt Bess sich selbst die Schuld. Jan, angesichts der Hoffnungslosigkeit seines Zustandes, und weil er Bess ein glückliches Leben ermöglichen will, bittet Bess sich einen anderen, fähigen Liebhaber zu suchen. Weil Bess darauf mit absolutem Widerwillen reagiert und ihre Freundin Dodo ihm klar macht, Bess würde alles für ihn tun, versucht er Bess glauben zu machen, er selber würde darin einen Ersatz für ihr gemeinsames Sexualerleben finden, und es würde ihm dadurch wieder besser gehen, wenn sie sexuell mit anderen Männern verkehrt, und ihm davon berichtet. Im festen Glauben, Jan mit ihren Kontakten zu helfen, versucht Bess vergeblich einen jungen Arzt zu verführen, masturbiert sie angeekelt einen Mann in einem Bus, lässt sich von einem anderen neben einer Straße penetrieren, erstattet Bericht – alles ohne Erfolg: Jans Zustand verschlechtert sich. Da Bess‘ Aktivitäten der kleinen Gemeinde nicht verborgen bleiben und sie den Fehler begeht, während eines Gottesdienstes zu sprechen, was Frauen streng untersagt ist, wird sie exkommuniziert, und schließlich, als Maßnahme des jungen Arztes zu ihrem Schutz in eine Psychiatrie eingewiesen, aber sie kann fliehen. Als aber dann 'Gott' ihr im Gebet nicht mehr antwortet und sie von Dorfjungen als 'Nutte' verhöhnt und mit Steinen beworfen, von ihrer eigenen Mutter ausgestoßen wird, vollzieht sie ihr Opfer: Sie begibt sich als Hure bewusst auf ein Schiff mit zwei gewalttätigen Matrosen – auf der Hinfahrt spricht 'Gott' wieder zu ihr- und stirbt bald darauf an ihren Misshandlungen im Krankenhaus.

Dem wie durch ein Wunder geheilten Jan, der weiß, dass 'sündige Seelen' wie ihre in ihrer Gemeinde der Hölle überantwortet werden, gelingt es mit seinen Freunden ihren Leichnam aus dem Sarg zu stehlen und ihr auf der Bohrinsel eine Seebestattung zu ermöglichen. Am Morgen wird er geweckt, weil hoch am Himmel über der Bohrinsel Glocken hängen und läuten.

Die Geschichte von Bess lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Eine junge Frau opfert ihr Leben für das Leben ihres Mannes. Für sich genommen ist das der Stoff einer tragischen Liebesgeschichte und durchaus vorstellbar, wenn auch selten genug. Aber 'Breaking the Waves' handelt auch von einem Wunder und von einem Gott, der dafür das Opfer fordert, und hier beginnt das, was den Film schwer verdaulich macht. Denn eigentlich ist nicht mehr erkennbar, ob Bess sich für Jan opfert oder für ihren Gott, dessen (sichtbares!) Ziel nicht ihr (irdisches) Glück, sondern ihr physisches Leiden und ihr Tod ist, und Bess‘ Geschichte wäre leichter nachvollziehbar, solange sie erkennbar aus einem Irrglauben heraus geschähe, aber durch Einführung eines wundertätigen Gottes am Ende wird dessen Existenz behauptet,- vor allem aber dessen unmenschliche Praxis sanktioniert. Wer immer schon Probleme damit hatte, der Passionsgeschichte Christi einen Sinn abzugewinnen, wird hier gnadenlos daran erinnert: Alleingelassen und schwach, dem Spott der Kinder ausgesetzt, annähernd gesteinigt, schiebt Bess ihr Mofa, als würde sie ihr Kreuz tragen. 'Mein Gott, warum hast du mich verlassen?' soll Jesus im Todeskampf gesagt haben, 'Es war alles nicht wahr.' sagt die sterbende Bess, die gesehen hat, dass Jan trotz ihres Martyriums noch nicht geheilt ist. Am Morgen nach ihrer Bestattung läuten am Himmel die Glocken für alle hörbar, sie ist auferstanden, wie Christus an Ostern. Bess ist eine Heilige, eine Märtyrerin.

Gnadenlos ist der Film vor allem dadurch, dass er hervorragend gemacht ist. Die von Emily Watson hinreißend gespielte Bess nimmt uns so sehr mit in ihre Wahrnehmung, dass wir am Ende ihrer Logik folgen und unserer eigenen misstrauen müssen. Die (auf Breitwand formatierten) wackeligen Handkameraaufnahmen erzeugen eine bis dato im Kino selten gesehene Präsenz und Authentizität, eine Technik, die sich erst mit dem später von Trier mitbegründeten 'Dogma-Stil' etablierte. Eine mit viel Hingabe und Können gearbeitete Filmerzählung mit einer zweifelhaften Kernaussage? Unterstellt man (dem zum kritischen Katholiken konvertierten Atheisten) Lars von Trier gute Absichten, kann man – mit ein wenig Toleranz – zu folgendem Ergebnis kommen:

Alles, was Bess tut, tut sie aus reiner Liebe, nur um Jan zu retten, und beinahe widersinnigerweise rettet sie ihn auch genau deswegen. Die Unbedingtheit einer spirituellen Überzeugung ist für uns museal. Die Naturwissenschaft (unsere moderne Gottheit) lehrt uns, so lange an unseren Erkenntnissen zu zweifeln, bis ihr Gegenteil erwiesen ist. Bess in ihrem Glauben wider jegliche Vernunft praktiziert das exakte Gegenteil dessen, worauf unsere atheistisch-rationale Zivilisation stolz zu sein sich angewöhnt hat. Vielleicht könnte eine Verortung des Menschen seiner selbst in der Welt mehr sein als eine Anhäufung von zufälligen Notwendigkeiten, sie könnte, auch ohne einen Gott, eine Art spirituelles Credo beherbergigen. Aber wie dem auch sei: 'Breaking the Waves' bleibt ein kleiner Geschichtsexkurs der christlichen Religion inclusive deren Perversitäten. Welchen Standpunkt man zu diesem Film auch bevorzugt, er wird einem alles andere als bequem gemacht. Dies ist der Affront, den uns Lars von Trier beschert, und er versteht dabei die Meisterschaft, weder die eine, die vernünftige, noch die andere, die religiöse Seite überzeugend und unhinterfragt siegen zu lassen. Trier proklamiert zwar den Gott und das Wunder, aber man meint dabei, ein hinterlistiges, fast gemeines Augenzwinkern zu entdecken.

Er zeigt uns Konflikt und Reibung, und er beweist mit 'Breaking the Waves', dass in Sachen Religiosität vielleicht noch nicht das allerletzte Wort gesprochen worden ist – oder vielleicht doch? Es gelingt von Trier dem Zuschauer geistige Mühsal aufzubürden. Wer Filme zur Entspannung benötigt, sollte 'Breaking the Waves' tunlichst meiden.

Dorfpunks

(D 2009, Regie: Lars Jessen)

Kommerzpunk
von Andreas Thomas

Platsch! Ein Riesenwelle überrollt einen gelangweilten Jüngling, ein paar laute, schnelle Akkorde: Slime skandieren: Weg mit dem Scheißsystem. Punk ist Anfang der Achtziger auch endlich in der norddeutschen Provinz angekommen. …

Platsch! Ein Riesenwelle überrollt einen gelangweilten Jüngling, ein paar laute, schnelle Akkorde: Slime skandieren: Weg mit dem Scheißsystem. Punk ist Anfang der Achtziger auch endlich in der norddeutschen Provinz angekommen. Einen „Jugend-Tsunami“ nennt Rocko Schamoni das Ereignis, das sein Leben grundlegend neu definiert hat. In seinem autobiografischen Roman Dorfpunks ist dies eine Metapher, im gleichnamigen Film von Lars Jessen („Am Tag als Bobby Ewing starb“) wird die Punk-Taufe zum plitschnassen Mitfühlkino.

Mit recht konventionellen Mitteln versucht Jessen dem Trumm eines Phänomens nahe zu kommen, das schon das anekdotische Memoirenstück von Schamoni postum nur mühsam zu transzendieren verstand. Eine rapide zu Zeichen, Sprache und Style mutierte jugendliche Kulturrevolution, die im Buch dahinter noch spürbar, im Film aber überlagert ist von fast dreißig Jahren Post-Punk, Funpunk, Kommerzpunk. So sieht der stets neckisch lächelnde Roddy Dangerblood (Cecil von Renner), der Held aus dem schleswig-holsteinschen Schmalenstedt, im Film schon aus wie die Schwiegermüttersöhne einer weichgespülten Band wie Green Day, und der im Film durchdefinierte MTV-Body seiner (im Buch diversen, hier zu einer zusammengeschnurrten) Angebeteten, trägt keine Spuren der alternativ-punkigen oder Popper-Ambivalenzen der achtziger Jahre mehr.

Was eigentlich am besten an „Dorfpunks“ funktioniert, ist das Milieu, das platte Land und dessen derb-lakonische Bewohner, das „Leben an der Peripherie“, wie Jessen es bezeichnet, das sich bis heute kaum verändert hat. Für Roddy und seine Clique von typgerecht besetzten Landeiern mit überzeugenden Laiengesichtern ist Punk die Initialzündung, um sich von der Lethargie zu befreien und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. „Gestern waren wir noch scheiße, heute sind wir eine Band.“ Und nach dem Bandstand: „Zweitletzter zu sein ist irgendwie scheiße, letzter zu sein ist geil!“ Schon manchmal blubbert im Film der wahre Schnack, die wahre Stumpfheit, der wahre Punk nach oben. Zu vereinzelt aber sind diese Blasen der Beobachtung und dem Film will nicht recht gelingen, mehr zu sein als die Summe dieser Teile, so als zitiere er nur, aber als wisse er nicht, wovon er spricht.

Punkig ist Rocko Schamonis Einleitung im Presseheft: „Die Bilder sind eigentlich völlig egal, Schauspieler – nicht so wichtig, Inhalt – ergibt sich schon irgendwie, entscheidend ist der Sound. In diesem Fall haben wir einige der besten Songs der frühen 80er lizensieren dürfen.“ Der Mann wird wissen, wovon er spricht – Lars Jessen sagt: „Rocko hat mir Sachen vorgespielt, von denen ich noch nie etwas gehört hatte.“ – Ich sage: Es ist faszinierend zu sehen, wie ein Film es schaffen kann, die versammelte Energie seiner Film-Musik aufzuheben. Oder ist Punk etwa doch tot?

Das Fest

(DK / S 1998, Regie: Thomas Vinterberg)

Der Patriarch, der Täter
von Andreas Thomas

Christian, Ende Zwanzig, beschuldigt seinen Vater, einen wohlhabenden, saturierten Hotelier, ausgerechnet an dessen 60. Geburtstag und vor versammelter Gästeschar, ihn und seine Schwester in deren Kindheit wiederholt sexuell missbraucht zu …

Christian, Ende Zwanzig, beschuldigt seinen Vater, einen wohlhabenden, saturierten Hotelier, ausgerechnet an dessen 60. Geburtstag und vor versammelter Gästeschar, ihn und seine Schwester in deren Kindheit wiederholt sexuell missbraucht zu haben. Vier Kinder haben der Hotelier Helge und seine Frau herangezogen, von denen Tochter Linda den Freitod gewählt hat. Wie ihr Zwillingsbruder Christian hat die erwachsene Linda unter Depressionen gelitten, bei ihm führten sie zu psychotherapeutischen Maßnahmen. Der Tod der Schwester brachte ihn offenbar zum Handeln.

Flatterig, als wäre der Boden unsicher wie bei einem Erdbeben, wackelt die Kamera und unsicher und angespannt trifft die Familie zum väterlichen Geburtstag im dänischen Landhotel ein. Die z.T. eher dem klassischen Thriller entlehnte Bildauswahl unterstreicht die Subjektivität. Durch die bewegliche digitale Videokamera (später auf Kinoformat aufgeblasen) jedoch wird diese Subjektivität mit neuen Perspektiven und Geschwindigkeiten ausgestattet. Teilweise wirkt ‚Das Fest‘ zwar wie ein Familienvideo, in dem wir nur manchmal tatsächlich das sehen können, was gerade interessant ist, weil der liebe Verwandte keinen Blick fürs Wesentliche hat. Selten bekommt der Zuschauer einen Überblick über die Szenerie, aber dann wird die Kamera immer wieder überraschend professionell als unterstreichendes Mittel eingesetzt. Durch seine häufig suggestiv-manipulative Oberfläche ist „Das Fest“ sogar geradezu un“dogma“tisch.

Jedes Geschwister ist mit einem Klischeechen bekleidet, aber das gibt es auch jenseits von „Derrick“, nämlich in einem Milieu, das Klischees gebraucht, um seine Wahrheiten zu verbergen. Michael ist das Enfant Terrible, der Schwache, Jüngste, der eine seelische Disbalance durch Alkoholabusus, Rohheit gegen Frau und Kinder, und ein allgemein erhöhtes Aggressionspotential kompensiert. Helene ist die Geflohene, eine Studentin der Anthropologie (ein Wort das ihrer Mutter ungern über die schmalen Lippen geht), die exotische Männer und eher die Liebe als den einen liebt. Christian hat sich schon lange nach Frankreich abgesetzt. Er ist der Stille, Sensible, und wegen seines angeknacksten, aber wachen Reflexionsvermögens auch Handlungsmotor und auslösendes Moment (wie alle Künstler und Revolutionäre). Dieses Typisierende aber beraubt keine der Figuren ihrer Lebendigkeit, und wer in einer größeren Familie aufgewachsen ist, findet in diesem „Fest“ sicherlich einiges von hohem Wiedererkennungswert.

Übrigens muss „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ Pate gestanden haben bei „Das Fest“. Alle Rahmenbedingungen sind vorhanden: Das Oberhaupt feiert seinen 60. Geburtstag, die Kinder mitsamt ihren psychischen Defiziten reisen an. Die Enthüllung einer Krankheit/Aberration des Vaters/der Kinder führt zu Eskalation und Reinigung. In beiden Fällen wird Krankheit durch Härte gegen sich und die Familie hervorgerufen. In der „Katze“ wendet sich dieser patriarchische Zynismus, zum Krebs geworden, gegen den Vater selbst und zwingt ihn, mithilfe eines Sohnes, sein Leben zu überdenken. Im „Fest“ ist die Krankheit a priori in die väterliche Person integriert, systemimmanent, schon immer hat er eine seinem Lebensstil eigene Destruktivität ausgelebt, nach außen, mittels gewohnheitsmäßiger Penetration zweier seiner Kinder, aber auch hier ist es der leidende, lebensuntüchtige Sohn, der lange Gedeckeltes thematisiert. In beiden Filmen ist die Krankheit bösartig und unheilbar, in der „Katze“ aber kann der Vater noch eine Wandlung zur Selbsterkenntnis und Läuterung, sprich Offenheit und daher Vergebung, vollziehen. Derartiges ist dem Vater im „Fest“ versagt. Sein Zynismus erscheint unveränderlich, ihm bleibt nur die soziale und familiäre Ächtung, eine Versöhnung ist im „Fest“ nicht denkbar.

Der Vater wird entmachtet. „Das Fest“ ist eigentlich die Geschichte einer Revolution, eines Tyrannen- wenn nicht -mordes, dann –sturzes, und eines Machtwechsels. Bis zuletzt schützt den Despoten sein Machtapparat, sein jüngster Sohn, einige Hotelangestellte und (natürlich) seine Logenbrüder. Der Revolutionär, Christian, wird weggeschafft, vorübergehend mundtot gemacht, aber er hat Verbündete im „Pöbel“: seine Schwester und vor allem sein Jugendfreund, jetzt Chefkoch, der, vermittelst seines Küchenpersonals aus der Kellerküche heraus subversiv agiert. Bezeichnenderweise der wenig geachtete, aber verbissendste und autoritätsgläubigste Vasall des Königs, der Sohn Michael, wird nach dessen Abdankung fast zu dessen Mörder. Die Gesellschaft (also die Geburtstagsgesellschaft) richtet ihr Fähnlein nahezu gleichgültig nach dem Wind. Sie überhört die unerhörten Vorwürfe Christians und lässt sich zur Kaffeepause oder zur Polonaise umleiten. Selbst nach dem Staatsstreich tanzt sie sorglos in die Nacht hinein, als wäre immer noch der Jubilar zu feiern. Als wär’s ein Stück von Büchner.

Thema des Films ist ein Tabu, das bis heute, wo doch angeblich alles thematisiert werden kann, nicht tiefer oder ernsthaft behandelt worden ist, kaum im Kino, im Fernsehen höchstens zum Zweck der Sensationsvermarktung. Bekannt ist, dass die Dunkelziffer bei Kindesmissbrauch in der Familie weit höher liegen muss als bei anderen Delikten, weil die häufig schwer geschädigten Opfer selbst, wenn überhaupt, oft erst nach Jahrzehnten in der Lage sind, darüber zu sprechen und meistens die passiv beteiligten Elternteile die aktiven durch ihr Schweigen schützen. Kindesmissbrauch kann man nicht mit anderen gesellschaftlich geächteten Straftaten gleichsetzen, und auch durch die hervorragende Darstellung eines durch seinen Vater geschädigten Sohnes stellt „Das Fest“ klar, warum.

Das Merkwürdigste: Der Kreis der direkt Betroffenen, der Geschwister, ist in keinem Moment in der Lage, sich über das Kernproblem der Familie, die väterlichen Misshandlungen auszutauschen. Man feiert zwar einen Sieg, aber scheut sich, das Besiegte zu bezeichnen, es zu artikulieren – kaum anders, als es vor der Revolte üblich und angeordnet war. Das ist vielleicht der schwächste Punkt des „Fests“, weil der Film dadurch an der Oberfläche der Entrüstung verharrt, aber ihre Ursache nicht ausbuchstabiert, vielleicht aber auch der authentischste und analytischste.

Denn möglicherweise handelt „Das Fest“ ja nicht nur vom Aufsehen erregenden „Outing Vatis, des Kinderschänders“, sondern auch von der Unfähigkeit der Familie (der Gesellschaft) sich mit der Phänomenologie eines psychologischen und soziologischen Backgrounds institutionalisierter Abgründigkeiten dieser Art zu befassen. Dann hätte „Das Fest“ Tiefe. Wir kennen das ja, den tief verwurzelten Hass auf „Kinderschänder“, der oftmals mit einer Lynchjustiz kokettiert – aber parallel dazu viele aufgedeckte Fälle innerhalb der „besten Familien“ und die allgemein ungeklärte Frage, wie es dazu kommen kann. Christian sagt zu seinem Vater: „Ich habe nie verstanden, wieso du es getan hast.“ Dessen Antwort „Ihr wart nicht mehr wert.“ ist immerhin ein Erklärungsansatz: Verachtung, und natürlich nicht zu viel, sondern zu wenig Liebe…

Neu in der Filmgeschichte ist (nach meinem Kenntnisstand) die Personalunion des bürgerlichen, klassischen Patriarchen, der vor allem von den 68-ern und deren Filmen ausgiebig bekämpft worden ist (sein Revival ist ein Kuriosum des 90-er-Jahre-Films), mit dem Sexualtäter, die Ergänzung psychischer Druckmittel mit früher sexueller Demütigungspraxis – als Erziehungsmethode. Vorsichtig sage ich: Dieser Aspekt ist interessant, umso interessanter, wird er – und dadurch ein (un)bewusster Teil der in Europa praktizierten „Pädagogik“ – im Licht jener hohen Dunkelziffer.

Hostel 2

(USA 2007, Regie: Eli Roth)

Der Mensch als Ware
von Sven Jachmann

Es gibt in der Filmgeschichte nicht viele Beispiele für Sequels, die ihre Vorgänger qualitativ zu übertrumpfen schafften. Eli Roth hat mit dem zwei Jahre später vorgelegten Nachfolger seiner Torture-Porn-Burleske ein …

Es gibt in der Filmgeschichte nicht viele Beispiele für Sequels, die ihre Vorgänger qualitativ zu übertrumpfen schafften. Eli Roth hat mit dem zwei Jahre später vorgelegten Nachfolger seiner Torture-Porn-Burleske ein solches Kunststück vollbracht. Vermutlich liegt es daran, dass das Drehbuch diesmal die Story wesentlich origineller zu dehnen versteht, indem man sich nicht einzig auf das nunmehr weibliche Kanonenfutter konzentriert, sondern die innere Struktur der Mordorganisation Elite Hunting samt ihrer Kundenschar miteinbezieht.

So stehen nicht nur die drei amerikanischen Kunststudentinnen Whitney (Bijou Phillips), Beth (Laura German) und Lorna (Heather Matarazzo), quasi die Pendants zu den männlichen Protagonisten aus „Hostel‘, die es durch die Geschicke eines auf sie angesetzten Models zum Partyurlaub in die slowakische Provinz verschlägt, im Mittelpunkt der Geschichte, sondern auch gleichberechtigt ihre zukünftigen Peiniger Stuart (Roger Bart) und Todd (Richard Burgi), deren Weg vom Vertragsabschluss, der Initiation durch ein tätowiertes Symbol bis zur Anreise samt Hotelunterbringung mitverfolgt wird. Baute der Vorgänger seine Schockmomente eher auf das Unwissen der Figuren, sich inmitten der waldumzäumten Fremde mit einer straff organisierten Folter-Organisation, dem Anderen in der Fremde, konfrontiert sehen mussten, deren innere Verfasstheit indes undurchsichtig blieb, weil ihre bloße Präsenz den Schrecken evozierte, so spielt „Hostel 2′ viel stärker mit diesem Vorwissen des Zuschauers. Auf der einen Seite ist bereits mit der Ankunft der Protagonistinnen alles und jeder verdächtig, auf der anderen Seite wird dieser Verdacht auch erhärtet, weil Roth sich nun die Zeit nimmt, nicht nur in Gestalt Stuarts und Todds, den funktionalen Ablauf des Apparats zu erläutern und so mit den Mitteln der Suspense die unvermeidlich absehbar leidtragenden Figuren dem Zuschauer näher zu bringen.

Die Gewalt der zweiten Hälfte ist immer noch drastisch und unschön anzusehen, aber gar nicht mehr selbstverliebt cartoonesk dem Überbietungsmodus verhaftet, wie er beim Vorläufer spätestens im völlig hektischen Finale eintrat. Sie erscheint eher dekadent, morbide und durch den sexualisierten Subtext (die Blutdusche oder die finale Kastration) wesentlich stärker an ihrer Konnotation als ungebremster bzw. ungefilterter Ausdruck von Machtverhältnissen interessiert, der wiederum im Sinne einer kapitalistischen Verwertungslogik so ungefiltert gar nicht stattfinden kann. Denn das Geschäft will zunächst abgewickelt, der Vertrag eingehalten werden. Nicht ohne Grund verkehren sich die Motivationen der zwei amerikanischen Folter-Touristen, wenn das Großmaul Todd plötzlich gehemmt, der einst zweifelnde, introvertierte Stuart umso sadistischer auf ihre Opfer reagieren.

Die Lust an der Zerstörung des Körpers wird hier also zweierlei verwaltet: Es braucht zunächst Beschaffung, Abwicklung und Bereitstellung der Ware (Roth hält in einer wirklich grimmigen Montage die Ersteigerung der noch ahnungslosen Mädchen von einer durch und durch bösbanalen Kundenschaft fest), dann aber eben auch einer entsprechenden psychischen Disposition, um der Phantasie Taten folgen zu lassen (auch hier ist der zeitlupengedehnte Marsch der beiden Mörder in spe zu den Zellen ihrer Opfer, ihr mimischer Kampf zwischen Entscheidungszwang, Beklemmung und insgeheimer Vorfreude, bevor sich die Türen der Folterkammern öffnen werden, voll bedrückender Tragik und Ekel zugleich, zumal sich Täter und Opfer zuvor bereits auf einem Stadtfest begegneten). Diese Disposition ist im Preis jedoch nicht inbegriffen. Wer den Job nicht vertragsgerecht erfüllt, ist selbst nur noch Fleisch, als Kunde untauglich und wird, wie der letztlich doch zu ängstliche Todd, infolgedessen entsorgt.

Dieser Teil könnte als ziemlich platt geratene Kapitalismusparabel zu den Akten gelegt werden, aber auch hier wird das Spiel mit den Erwartungshaltungen fortgesetzt. Denn die Entanonymisierung der Opfer führt nicht zu ihrer erhofften Rettung, sondern bildet vielmehr den Triebmotor der Attraktivität der Gewalt, die spätestens an dieser Stelle als Demonstration sexueller Omnipotenz manifest wird. Die Degeneration bleibt nicht allein an der Grenzüberschreitung einer moralischen Hemmschwelle stehen, an der alles, eben auch die Verfügbarkeit über den Körper, verwertet werden kann, sondern setzt sich buchstäblich im Versuch der körperlichen Zurichtung und Unterwerfung des “anderen” Geschlechts fort. Wenn sich also Stuart nach der versuchten Vergewaltigung Beths schließlich selbst auf dem Folterstuhl wiederfindet, nach der für Beth erfolgreich verlaufenden Verhandlung mit dem Gründer von Elite-Hunting schließlich selbst Opfer der ihm zuvor zuspielenden Ökonomie wird, dann kann seine finale Kastration eben auch als geschlechtsidentitäre Neutralisierung seiner Macht aufgefasst werden, der die ökonomische vorausging. Das mag den Genderdiskurs nicht neu ins Rollen bringen, aber der Film scheint seine gewalttätigen Bilder doch wesentlich differenzierter zu reflektieren, als es noch sein Vorgänger vermochte.

Dark Horse

(DK / IS 2005, Regie: Dagur Kári)

Projekt: Anpassung
von Andreas Thomas

„Gerade, als du von A- und B-Steuer geredet hast, da hast du mich schon verloren. Mir wird ganz schwarz vor Augen. Ich möchte einfach sterben“, sagt Daniel zum Finanzbeamten mit …

„Gerade, als du von A- und B-Steuer geredet hast, da hast du mich schon verloren. Mir wird ganz schwarz vor Augen. Ich möchte einfach sterben“, sagt Daniel zum Finanzbeamten mit dem angeklebten Scheitel und dem Pullunder und der muss konstatieren: „Das ist nicht normal.“

Wie schon in seinem Erstlingsfilm „Noí Albinói“ berichtet der isländische Regisseur Dagur Kári wieder einmal parteilich von der Norm, der Anorm und dem Verlierer. Nur macht er in „Dark Horse“ (in Schwarzweiß und schwarz auf weiß) gleich klar, dass der wahre Verlierer das „System“ ist. Nämlich deshalb, weil es Menschen in Kategorien, Bürokratien, Steuerklassen sperren will. Für den jungen Daniel liegt der einzige Weg zum Überleben – und darin ist er ein Bruder von Michel aus „Außer Atem“, von Martin aus „Zur Sache, Schätzchen“ und von Renton aus „Trainspotting“– in der Verweigerung staatsbürgerlicher Pflichterfüllung.

Daniel vereinigt alle Attribute des Außenseiters auf sich: Er ist Individualist, also trägt er immer dasselbe T-Shirt, hat er immer die Kopfhörer auf den Ohren mit dem Bach’schen Präludium in C-Dur in allen Variationen und darum fährt er einen alten, kleinen Fiat 500. (Davon gibt es auf der Erde noch kaum mehr als drei, oder?). Der niedliche Daniel ist nicht dafür geschaffen, Rechnungen zu bezahlen, weil er nicht dafür gemacht ist, Geld zu verdienen. In nahezu jeder Faser seines Seins ist er die Verneinung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit. Daniel ist der wahre Bohemién der Postmoderne. Im Unterschied zum kreativen, aber durchschnittlich angepassten Designer der Gegenwart sitzt er (noch) nicht in einem PR-Büro, in dem jeglicher Kunst der letzte freie Geist ausgetrieben wird, sondern schafft er noch Bildwerke, deren Anfertigung strafrechtlich verfolgt wird. Denn Daniel ist ein Sprayer, ein letzter Avantgardist also. Nur weil er sich Brötchen kaufen muss – nicht um Geld zu verdienen! – nimmt Daniel auch Auftragsarbeiten an. Er produziert sogar Werbung, aber Werbung für die Liebe, Brautwerbung nämlich, wenn er die Hauswände vor dem Fenster diverser zukünftiger Bräute im Auftrag ihrer Bräutigame mit ihrem Namen verziert.

Die Kälte des Nordens muss die Wortkargheit erfunden haben. Denn auch der Skandinavier Daniel ist einer jener merkwürdigen „Typen“ mit lakonischem Habitus, ein (hier glücklicherweise nicht zu) liebenswerter Outdrop – die Sorte also, die seit den Kaurismäki-Brüdern immer mehr europäische Filmkomödien unterwandert hat – und natürlich kommt so einer nicht allein. Mit seinem Kumpel, einem verpeilten und neurotischen Fatty-Typ namens „Opa“ (Ende 20), verbindet Daniel eigentlich nur, dass man sich gegenseitig auf einfallsreiche Art behindert und auf die Nerven geht. Subtilisierte Laurel und Hardys sind sie und sie erinnern ein wenig an die unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaften der Nerds aus Kevin Smith’s „Clerks“.

Eigentlich könnte alles weiter seinen nonkonformen Gang gehen, wäre der erotischen Liebe nicht. Und nur jene ist’s, die solid verwucherte Männersymbiosen sprengt, die dem jungen Mann das Herz bricht, ihm den geliebhassten Freund und schließlich auch den Samen entwendet. Ab jenem Augenblick, da Daniel den Namen seiner Herzensdame in eigener Sache (und orthografisch unkorrekt: er ist schließlich Legastheniker) plakatiert, beginnt sein Leben aus dem Ruder zu geraten. Die Liebe nimmt, aber sie gibt auch unendlich viel mehr, manchmal zu viel, um einer Anarchie so ganz treu bleiben zu können. Aus dem autarken Verweigerer wird ein irritierter Träumer – und mit Träumern hat das „System“ ja schon immer leichtes Spiel gehabt.

„Kopf hoch Baby, lehn dich an mich, es wird schon irgendwie geh’n“ sang einst der welterfahrene Frank Farian. In Euphemismen dieser Art und also darin, dass Daniel beginnt, der gesellschaftlichen Keimzelle „Familie“ seine persönliche Zuversicht und seinen persönlichen Tribut zu zollen, schlummert schon das Aufweichen der kreatürlichen und kreativen Kanten unseres Symphatieträgers, die uns doch die ersten zwei Drittel des Films subversive Freude bereitet hatten. Nun treten die Systeme Biologie und Gesellschaft ihren Siegeszug an. Darüber kann kaum hinweg trösten, dass „Dark Horse“ im letzten Drittel sein zuvor etwas überstrapaziertes Witzemachen vergisst und zwei seiner weltflüchtigen Protagonisten statt reden nur noch atmen lässt: in großen, leeren Landschaften und kleinen, leeren Hotelzimmern. Zwei Herren machen einen Abstecher in ein anderes Land und zugleich wechselt auch das Genre: Eine Komödie der Beengten mutiert zum existenziellen Drama, schier zu einem modernen physischen Kino der Gegenwart. Eine ganz andere, fesselndere Verunsicherung entsteht so, die Regisseur Kári aber wohl kaum unter Preisgabe des Plots hätte weiter entwickeln können. Vielleicht driftet deshalb der Film sicherheitshalber scharf vorbei an einer interpretatorischen Offenheit, die weder transzendieren noch nihilisieren will, sondern gegen Ende nur dazu da war, gefährlich konformistische Sehnsüchte zu wecken nach einem Konfektionsglück im Du und Du und Du.

Doppelt traurig ist daher Daniels Abschied von Jugend, Individualität und Anarchie, und folgerichtig todesnäher ist sein Einstieg ins Projekt Menschengeschlecht. Doch wenn dann sechs Fiat 500s die Landstrasse herabtuckern und seine niedliche Francesca für ein paar Sekunden in Farbe erscheinen darf, bleibt dem Kritiker nichts anderes übrig, als einmal rundherum gerührt gewesen zu sein. Scheiße, Daniel, du und ich, sind wir jetzt etwa erwachsen geworden?

Bugs! – Abenteuer Regenwald in 3D

(GB 2003, Regie: Mike Slee)

Effekt frisst Insekt
von Andreas Thomas

Insekten in 3D? Da erwacht der Mann im Kinde und sein Forschergeist, praktiziert sich die 3D-Brille auf die Nase, legt die Scheibe in den Player und glaubt zu schielen. Wenn …

Insekten in 3D? Da erwacht der Mann im Kinde und sein Forschergeist, praktiziert sich die 3D-Brille auf die Nase, legt die Scheibe in den Player und glaubt zu schielen. Wenn unter 3D zu verstehen ist, dass man statt einer gleich drei parallel sich abseilende Spinnen sieht, dann ist „Bugs!“ wohl in 3D gedreht. Vielleicht sich erst dran gewöhnen? Doch nach zehn Minuten setzen zeitgleich mit einer sehr vagen räumlichen Wahrnehmung leider vor allem erste Anzeichen von Kopfschmerz ein. Also die Brille zur Seite gelegt, das Ganze zurück auf Start in der alternativen 2D-Version. Hier endlich kommen die Eier, Larven, Puppen, Raupen, Schmetterlinge, Fliegen, Gottesanbeterinnen hochauflösend und scharf ins Bild, doch was wird uns dergestalt präsentiert? Nichts Wissenwerteres und optisch Revolutionäreres als das, was uns täglich im Fernsehen geboten wird oder wir im Biologieunterricht sehen durften. Im Gegenteil, das Hauptaugenmerk der Macher schien tatsächlich der Technik zu gelten, deren Spielereien und nicht den Geheimnissen der Natur.

Auffallend ist in „Bugs!“ tatsächlich die Abwesenheit jeglicher biologischer Neugierde. Der natürliche Lebensraum „Regenwald“ und die spezifischen Charakteristika der gezeigten Arten müssen den Machern als eine Art Störfaktor gegolten haben, denn, wie im „Making of“ zu sehen, kauften sie den Hauptschauplatz, eine Indianerhütte, einem Eingeborenenvölkchen ab, um sie aus dem überschwemmungssicheren Dorf zu entfernen und sie malerischer aber völlig unauthentisch direkt an einem Flusslauf wieder aufzubauen. Dortselbst werden in die nun von Menschen unbewohnte Kulisse Kerbtiere befördert, um sich zu entpuppen und gegenseitig zu fressen (sehr viel mehr lernen wir nicht, weil die Macher offenbar nicht mehr Hintergrundswissen hatten). Als man in einer Höhle Krabbelaktivitäten vorfindet, werden tiefe Löcher gebuddelt, damit die Riesen-3D-Kamera nah genug heran rankommt und weil eine normale Höhle doch zu wenig nach einer „echten“ Höhle aussieht, werden kurzerhand woanders Moose ausgerupft, um damit den Höhlenboden zu dekorieren.

Diese also stark gefakten, aber wenigstens in einem (nicht näher bezeichneten) Regenwald gefilmten Szenen machen jedoch nur etwa ein Drittel des Films aus, denn die Hauptdreharbeiten fanden im authentischen englischen Studio statt, wie das Making of (das mit 45 Minuten länger ist, als der nur 38 Minuten kurze Film selbst) offenherzig und mit völlig unangebrachtem Stolz verrät. Hierhin transportierte und baute man jene Original-Indianerhütte also zum zweiten Mal auf und platzierte die in Boxen gesammelten und mitgebrachten, da „interessant aussehenden“ Geziefer so lange in fotogenen Perspektiven, bis sie das taten, was sie sollten. Das konnte Stunden dauern, und muss nicht nur die Nerven des Teams sondern auch die Gesundheit der Tiere strapaziert haben. Es ist fast ein Wunder, dass das Making of nicht auch noch damit angibt, wie viele Insekten für die Dreharbeiten sterben mussten. Das Peinlichste ist, dass der Film in Zusammenarbeit mit dem WWF, dem World Wildlife Fund, entstand.

Das Interessanteste am Film, da symptomatisch für den Zeitgeist, aber sind seine Wertigkeiten. Der „Spiegel“ etwa bejubelte die „atemberaubende Imagepflege, für alles, was krabbelt, kreucht und fleucht“, und bringt so auf den Punkt, was zeitgenössische Teenager mit der Deutschen Telekom und zeitgenössischen Insekten gemeinsam haben: Die perfekte Hülle, die gewiefte Public Relation, die eindrucksvolle Präsentation. Dass gerade eine sozial verkorkste, aber teuer angezogene Generation heranwächst, dass die Werbung das einzige ist, was bei der Telekom wirklich funktioniert, dass „Bugs!“ Insekten zwar in sensationslüsterner Großaufnahme, aber rücksichtslos und desinteressiert an der Kreatur vorführt und sich im Endeffekt nicht von irgendeinem Insekten-Horrorfilm unterscheidet, wen interessiert das schon, so lange ein „Image“ stimmt?

Irgendwann mal in den Siebzigern hatte ein gewisser Horst Stern mit einer Sendung namens „Bemerkungen über die Spinne“ das deutsche Fernsehpublikum wirklich seines Atems beraubt, nicht weil er Spinnen unter einem 3D-Mikroskop festklemmte, sondern weil er sie wirklich aufmerksam beobachtete! Das Wundersame war damals die unbekannte Lebensweise der Tiere und nicht die Eitelkeit, mit der ein Regisseur sein viel zu teures Equipment vorführt…

Ferien

(D 2007, Regie: Thomas Arslan)

Nix geht mehr
von Andreas Thomas

Wie dem imaginären „Berliner Schule“-Lehrbuch entnommen, so ist „Ferien“, der neue Film von Thomas Arslan („Dealer“, „Der schöne Tag“) gedreht. Starre Kadragen, eine gestrenge Vermeidung aller Theatralik, eine Distanz, so …

Wie dem imaginären „Berliner Schule“-Lehrbuch entnommen, so ist „Ferien“, der neue Film von Thomas Arslan („Dealer“, „Der schöne Tag“) gedreht. Starre Kadragen, eine gestrenge Vermeidung aller Theatralik, eine Distanz, so kühl, dass man sie mit Gleichgültigkeit verwechseln könnte. Erfahrene Darsteller in Höchstform wie Angela Winkler, Uwe Bohm oder Karoline Eichhorn spielen an, so scheints, gegen eine Form, die sich zum Inhalt erklärt hat.

Denn wenn „Ferien“ mit seiner ersten nüchternen Kameraeinstellung bereits die Erkenntnis vorwegnimmt, dass der Mensch allein sei, sein Leben ein glückloses Fatum und nichts ihn daraus befreien könne, dann sind die anschließenden Handlungsstränge nur noch Redundanz: Vier Generationen einer Familie mit irgendwie gutbürgerlichem Background treffen sich in der hochsommerlich flirrenden Uckermark, um Ferien zu machen, was eigentlich bedeutet, um vorhandene Konflikte nicht auszutragen, um eine Ehekrise nicht in den Griff zu bekommen, um das Sterben der Großmutter nicht verbalisieren zu können. Jeglichem Ausbruchsversuch ist schon im Ansatz sein Scheitern anzusehen und jede Hoffnung lächelt auf ihre Träger so müde und angestrengt zurück, wie die von Angela Winkler verkörperte Mutter und Großmutter auf ihre Kinder und Kindeskinder. Krampf! Arslans Absicht, „eine Balance zwischen den einzelnen Strängen zu finden und diese im Verlauf des Films in Schwingung zu versetzen“ misslingt angesichts des asketischen, nahezu unbeweglichen stilistischen Rahmen, der vor nichts so sehr zurückzuschrecken scheint, wie vor Bewegung, und wo keine Bewegung sein darf, da darf auch nichts schwingen, kaum ein Gefühl der, aber schon gar nicht ein Gefühl für die Protagonisten.

Eine (unausgesprochene) Ideologie der „Berliner Schule“ scheint auf einen Kunstbegriff gegründet, der lauten könnte: Erhabene Kunst muss ernst sein und sie wird mittels (protestantischer) Strenge und Entsagung und Stoizismus hergestellt. Die hohe Präzision und die Nüchternheit, die dieses Verfahren zwangsläufig zeitigt, führt in den glücklichsten Fällen (und Ulrich Köhlers „Montag kommen die Fenster“ ist ein solcher) zu klischee- und überwältigungsfreien Annäherungen an die Wirklichkeit – solange sich ihr der Blick des Autors nicht verschließt. Doch manchmal, wie in „Ferien“, droht schon der rigide Rahmen zum Bild an sich zu werden.

Genährt wird die Ästhetik dieses fatalen Verdikts in „Ferien“ durch einen Kontrast: Das Scheitern menschlicher Glücksuche wird inszeniert in einem friedlichen Sommerparadies, in (und immer wieder separiert von) der Kulisse einer zugleich vollkommenen und gleichgültigen Natur, der in langen, unbewegten Kadrierungen die Qualität einer autonomen, tragenden Rolle zugedacht ist. Inhaltlich erinnert „Ferien“ an den Abgesang des Bürgertums tschechowscher Sommerdramen, ästhetisch an die esoterische Vorbegrifflichkeit der Filmsprache von Apichatpong Weerasethakul („Tropical Malady“), des thailändischen Regisseurs, von dessen Filmen Thomas Arslan unübersehbar beeinflusst ist. Tschechow ist’s weniger geworden, Weerasethakul mehr; und das in den gelungeneren Momenten von „Ferien“.

Aber bitte warum immer diese „Berliner Schule“-Phobie vor Milieus und sozialem Hintergrund? Arslan sagt, er wollte „die Figuren nicht zu sehr soziologisieren. Eine Figur und ihr Verhalten“ sei „ja letztlich nicht durch sowas zu erklären.“ Nicht nur, aber auch, möchte ich erwidern. Man macht ja nicht gleich Polit-Kino mit einem pädagogisch-aufklärerischen Impetus, wenn man gelegentlich durchscheinen lässt, dass die Figuren eines offenbar in der deutschen Gegenwart spielenden Films auch irgendwie mit der Gesellschaft, Politik und Ökonomie diese Landes assoziiert sind?

Filme der Dardenne-Brüder z.B. beweisen, dass die vorurteilslose Aufmerksamkeit gegenüber dem Sujet Mensch und die Film-Erzählung, die sich einer zwar empathischen Schilderung aber nicht einer Manipulation des Zuschauers bedient, weder einem künstlerischen Kino im Wege zu stehen braucht, noch hysterische Grenzen errichten muss, vor allem und jedem, was eventuell die Gestalt soziologischer oder gar politischer Erkenntnis annehmen könnte.

Bei solch erklärter Eliminierung alltäglicher Wirklichkeit aus dem Kunst-Werk nimmt es nicht wunder, wenn Arslan, wie er sagt, die Welt als „zugleich konkret und seltsam irreal“ wahrnimmt.. Übrigens war das bei seinem Film „Dealer“ ein wenig anders. Da gab es noch Milieu (ohne Klischee) und Drama (ohne Überwältigung). „Ferien“ nun ist der vorläufige Sieg der strengen „Form“, eine undialektische, puristische Durchführung des ideologisch-technischen Überbaus, der mir an der „Berliner Schule“ nur gefällt, wenn er sich an irgend etwas in der Erzählung reiben kann. Doch „Ferien“ bleibt „Schul“-System at its worst: stumpf und taub durch zuviel Abstand, programmatisch ätherisch-pessimistisch und ohne jede Überraschung, weil der Zufall, der sich Leben nennt, aus seiner Szenerie verbannt ist. Da kann der Wind noch so existentiell durch die Linde streichen.

Hans im Glück

(CH 2003, Regie: Peter Liechti)

Drei Akte übers Aufhören
von Andreas Thomas

Zu Fuß von Zürich nach St. Gallen, von seinem Wohnort zur Stadt, in der er aufgewachsen ist, führt den Schweizer Peter Liechti das Filmprojekt „Hans im Glück“ – und seine …

Zu Fuß von Zürich nach St. Gallen, von seinem Wohnort zur Stadt, in der er aufgewachsen ist, führt den Schweizer Peter Liechti das Filmprojekt „Hans im Glück“ – und seine Rosskur, mit der er sich die täglichen 50 Zigaretten abgewöhnen will. Vom ersten Schritt an wird nicht mehr geraucht, die Kamera dokumentiert die lange Reise, das Tagebuch hält Gedanken fest. Scheinbar richtungslos wurden hier Gedanke, Assoziation und Bild, und Bildschnipsel aus ganz anderen Filmen am Schneidetisch zusammengefügt zu einem Film, der künstlerische Dokumentation ist, oder Poesie im Reality-Format, zugleich Abbilden und Abschweifen.

Der Nebel des Nikotinrauschs wird ersetzt durch die Nahsicht auf die Heimat, die Ostschweiz, die – wer vermag da die inneren von den äußeren Perspekiven zu unterscheiden? – je nach Entzugsleid unschöner aussieht. Die Ungeduld im Krieg gegen das Nikotin – die weitgehend unausgesprochen bleibt – entlädt sich so einmal in der Wut auf die Leute, aber die Neugierde auf die Unabhängigkeit und die innere Veränderung während der Loslösung vom Gift, und der offene Blick auf das Land, seine Landschaften, seine Menschen und die ewig laufenden Füße des nichtrauchenden Rauchers treiben Film und Filmemacher voran.

Eine Schweiz, in der nichts mehr so ist wie früher, Schweizer, die so leben, als sei alles noch immer so wie früher, Touristenfolklore, überschwemmte Gebiete am Bodensee, Busse, Unwetter im Gebirge, die Poesie von Parkbänken im Regen, stundenlanges Warten auf den Moment, an dem der Zug über die Brücke fährt und immer wieder Raucher. Mitunter raucht alles: Silvesterraketen, Flugzeuge, und Zigarren in Kindermündern, Zigaretten in Mündern todkranker Lungenkrebspatienten. Dazwischen Portraits der Lieblingstiere: Gazellen, Fische. Und dann ein Besuch bei den Eltern, die letzte Filmaufnahme der Großmutter. Straßenbahnen, Sessellifte, eine Heroinabhängige, coole Jugendliche, denen man ansieht, wie anstrengend das Coolsein sein muss. Assoziierte Splitter der Straßen, der Hotels, Ausschnitte eines Schweizpanoramas, schier zusammenhangslos, die auf ihre Dechiffrierung warten und ihr atemloser Sammler:

„Seit das Rauchen kein Problem mehr ist, wird mir das Denken zum Problem. Kaum hör ich auf mit dem Rauchen, fang ich schon an mit dem Denken. Wo früher das Denken limitiert war, da denk’ ich heute völlig ungebremst drauflos. Das bedeutet nicht größere Denkschärfe oder Denktiefe, vielmehr ist es eine Art gedankliches Hyperventilieren. Schon gegen Mittag hat sich mein Denken im Grunde erschöpft bei dieser Gedankenraserei – dann geht’s aber den ganzen Tag noch weiter.“

Monologe vom Überdruss, vom Unglück und Glück der Langeweile, Reflexionen über die Endlichkeit, ein Kreisen ums Altwerden und Altsein, um die Angst vorm Tod, um die eigene Feigheit und um die Würde alter Menschen wechseln ab mit Beobachtungen des scheinbar Banalsten. Eine Markierung des Schwerpunkts durch immer größere und freiere Pirouetten. Die Schweiz als Kosmos, die Person Liechti als Mikrokosmos, aber eine Trennung zwischen beidem ist nicht möglich, das eine geht durch das andere hindurch und das andere ist im einen enthalten: Der Mensch, in eigener Transformation begriffen und als Transformator der Außenwelt; in diesem Film ist er Privatestes und Gesamtkunstwerk in einem.

Liechti bleibt ein paar Wochen lang rauchfrei. Dann genießt er das schöne Gefühl, der eigenen Schwäche nachzugeben, und raucht wieder so viel wie vorher. Der zweite Marsch im Sommer und der dritte Marsch im Herbst über jeweils andere Routen folgten notgedrungen – war er noch nicht fertig mit dem Rauchen oder mit dem Film? Ein Drama braucht drei Akte – und die Schweiz etwa drei Jahreszeiten.

Irgendwann dann der Peterer, Liechtis Hans im Glück, der mit seinem tänzelnden, glücklichen Schwein spazieren geht und am Ende darauf reitet. Liechti, in diesem Augenblick so weit entfernt wie nie von Nikotingelüsten, erkennt: „Zigaretten hätten den feinen Zauber sofort zerstört und Peterers Verrücktheit auf öbszöne Spielchen reduziert. Nikotin ist eine kalte, vulgäre Droge, die einem bald einmal den Zugang verwehrt zu delikateren Realitäten.“

„Hans im Glück“ ist ein Marsch zwischen vielen Polen, zwischen Gift Nikotin und Gegengift Schweiz, von einer Gegenwart zu einer Vergangenheit und zurück, vom Prosaischen zur Prosa, vom Bild zum Wort zum Bild, vom Wissen zur Erfahrung, von der Antwort zur Frage. Der Fußmarsch als Ziel, undenkbar ohne Vertrauen in ein verstecktes Dazwischen.

Ein gutes Herz

(DK / FR / IS / D / USA 2009, Regie: Dagur Kári)

Schule des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Dunkelgrau, kalt und in bläuliches Licht getaucht, erscheint New York in Dagur Káris neuem Film „Ein gutes Herz“. Die Behausungen seiner beiden Protagonisten liegen an den finsteren Rändern der Gesellschaft. …

Dunkelgrau, kalt und in bläuliches Licht getaucht, erscheint New York in Dagur Káris neuem Film „Ein gutes Herz“. Die Behausungen seiner beiden Protagonisten liegen an den finsteren Rändern der Gesellschaft. Von dort aus führt der isländische Regisseur in einer einleitenden Parallelmontage den bärbeißigen Barbesitzer Jacques (Brian Cox) und den jungen Obdachlosen Lucas (Paul Dano) zusammen. Weil Jacques seinen mittlerweile fünften Herzinfarkt erleidet und Lucas einen Selbstmordversuch unternimmt, landen beide im Krankenhaus. Hier, im Angesicht des Todes, beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft, die sich auch als Vater-Sohn-Beziehung oder als Lehrer-Schüler-Verhältnis beschreiben lässt und die auf umfangreichen, das Leben verändernden Austauschprozessen beruht.

Denn es sind vor allem die mitunter fast schon stereotypen Gegensätze der Charaktere, die Dagur Kári dramaturgisch nutzt, um deren Annäherung als ebenso skurrile wie komische Verwandlung zu erzählen. So wird aus dem prinzipientreuen Misanthropen Jacques, der zu viel raucht und trinkt und sich in seinen wüsten Schimpftiraden konsequent rassistisch, frauenfeindlich und homophob gebärdet, irgendwann ein milder Menschenfreund mit (mehrdeutig) gutem Herzen; während der in seiner gutmütigen Freundlichkeit zunächst naive, unbeholfene Außenseiter Lucas an Stärke und Selbstbewusstsein gewinnt. Jacques‘ heruntergewirtschaftete Spelunke wird dabei zu einer Art Schule des Lebens. Als Katalysator fungiert aber auch die hübsche April (Isild Le Besco), die eines Abends triefend nass das „Haus der Austern“ als Asyl aufsucht.

Ihre Rolle sowie die mit ihr verbundene Liebesgeschichte bleiben allerdings merkwürdig unterbelichtet und uninspiriert. Dagur Kári, der mit seinen unkonventionellen Indie-Filmen „Nói Albínói“ und „Dark Horse“ bekannt wurde, ist mit seiner kalkulierter und auch vorhersehbarer wirkenden neuen Arbeit wohl im Arthouse-Mainstream angelangt. Weitgehend treu geblieben ist er seinem Interesse für Randfiguren und einem lakonisch-schrägen Tonfall, zu dem das tragische, ins Gleichnishafte überhöhte Ende dann aber doch nicht ganz passen will.

Au Revoir Taipeh

(TW / D / USA 2009, Regie: Arvin Chen)

Französisch für Fortgeschrittene
von Florian Reinacher

Natürlich gibt es für einen Film kaum eine gefälligere Sache, als wenn das Publikum am Ende mit einem breiten Lächeln auf den Lippen den Kinosaal verlässt. Wer kennt nicht den …

Natürlich gibt es für einen Film kaum eine gefälligere Sache, als wenn das Publikum am Ende mit einem breiten Lächeln auf den Lippen den Kinosaal verlässt. Wer kennt nicht den heilsamen Effekt eines stimmigen Happyends und wer schmunzelt nicht gerne über einen gelungenen Komödienfilm, auch wenn es sich dabei um eine romantische Komödie handelt. Obwohl sich bei diesem Schlagwort ein Großteil der Audienz nun mit Grausen an die retortenhaften Hollywooduntaten von Sandra Bullock und Konsorten erinnert fühlen wird, sollte man dennoch nicht ausschließen, dass es auch jenseits dessen, was uns von dieser Seite des Atlantik aufgetischt wird, andere Spielarten gibt, die dem Genre zuträglich sind und ihm auf eigentümliche Weise zum Nutzen gereichen. „Au Revoir Taipeh“ ist genau so ein Film, in dem alles gut geht, man sich am Ende im Kinosessel entspannt zurücklehnt, sich freut, dass die Welt sich auf eine so liebevolle Art zu drehen vermag und bei dem man das Gefühl hat, dass irgendwie alles richtig gemacht wurde. Das Spielfilmdebüt des taiwanischen Regisseurs Arvin Chen folgt zwar fast schulbuchmäßig allen Genrekonventionen von der französischen Liebeskomödie über die amerikanischen Gauner- und Heistfilme der 70er und 80er Jahre, er bearbeitet diese jedoch auf eine sehr originäre und kenntnisreiche Weise und schafft es, das Genre der Romantikkomödie ins Portrait einer Stadt zu transformieren.

Die Geschichte handelt von dem unglücklich verliebten Kai (Jack Yao), dessen Freundin ihn gerade verlassen hat und der er nun in Paris nachspüren will, wofür er nachts in einer 24-Stunden-Buchhandlung fleißig französische Anfängerlektüre liest. Dort lernt er auch die schüchterne Buchhändlerin Susie (Amber Kuo) kennen, die in der Nachtschicht arbeitet und sich zudem sehr an Kais Sprachlernversuchen interessiert zeigt. Leider kommt Kai mit seinen Verdiensten im elterlichen Nudelimbiss nur leidlich über die Runden und um an Geld zu gelangen, wendet er sich an den Ganovenboss 'Bruder' Bao (Frankie Gao). Dieser verspricht ihm, die Reise zu finanzieren, wenn Kai als Gegenleistung ein mysteriöses Päckchen nach Paris liefert. Baos Neffe Hong (Lawrence Ko), der die zwielichtige Immobilienfirma des Oberganoven leitet, bekommt Wind von der Sache, wittert einen großen Coup und setzt seine nichtsnutzigen Gehilfen auf Kai an, der zu allem Überfluss auch noch Susie ungewollt in die Sache mit hineinzieht. Als sich nun noch ein beziehungsfrustrierter Polizist in die Angelegenheit einmischt, beginnt für beide eine 85minütige turbulente Jagd durch Taipeh, in der sie nicht nur ihren Verfolgern entkommen müssen, sondern vor allem auch sich selber zu finden beginnen.

Obwohl dies alles so klingt, als sei es schon mehrfach dagewesen, schafft es Arvin Chen dennoch, dem so oft gesehenen Thema eine visuell ausgeklügelte Nuance zu verleihen. Der Film spielt nämlich fast ausschließlich nachts, wenn Taipeh bereits im Schlaf liegt und irgendwie doch niemals richtig schläft. Er zeigt eine andere Seite der sonst so quirligen Metropole und beweist nicht nur ein sehr feines Fingerspitzengefühl für Dramaturgie und wohldosierten Slapstick, er hat auch ein ausgesprochen gutes Händchen für die Auswahl der Spielorte: belebte Nachtmärkte, eine Buchhandlung, die durchgehend geöffnet hat, eine verlassene Imbissbude, Hinterhöfe, ein Park in dem nachts zur immer wiederkehrenden Themenmusik Synchrontanz geübt wird, oder ein heruntergekommenes Bordell. Die Liebesgeschichte, die hier inszeniert wird, scheint unter diesem Gesichtspunkt vor allem eine Liebeserklärung an die Stadt zu sein, für die Arvin Chen mit seinem 2006 gedrehten Kurzfilm „Mei“, der auf der 57. Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, bereits das Präludium komponiert hatte.

Um seine Figuren kümmert sich Chen zudem auf sehr liebevolle Weise. Dies wird vor allem in einem unausgesprochenen Verhältnis deutlich, in dem sie zueinander stehen. Alle Protagonisten teilen nämlich dieselbe Leidenschaft für die in Taiwan sehr beliebten Fernsehdramen, in denen es, wie im 'echten Leben', vor allem um Verbrechen, Liebe und Leidenschaft geht. Mit diesem immer wiederkehrenden Motiv verweist Chen zum Einen auf eine gewisse visuelle Schlichtheit in der Komposition seines Films. Die Kamera spielt dabei eine ebenso einfache Rolle, wie die Schauspieler. Eben dieser Sinn für die Reduktion des Komplexen ist es aber, die dem Film letztlich so gut zu Gesicht steht. Er ist clownesk und trotzdem nicht fahrig, romantisch aber nicht verkitscht, komisch aber nicht kalauerhaft. Zum Anderen kommt eine angenehme Selbstironie in die Geschichte, die sich sehr schön auf die gesamte Grundstimmung von „Au Revoir Taipeh“ ausweitet.

Unterstützung für sein Projekt fand Arvin Chen bei einem Altmeister des Neuen Deutschen Films. Wim Wenders, der für „Au Revoir Taipeh“ der ausführende Produzent war, hat auf die Entwicklung des Konzepts behutsamen Einfluss ausgeübt. Zu keiner Zeit drängt sich aber so etwas wie die Wenders‘sche Handschrift auf. Im Gegenteil schafft es Arvin Chen mit „Au Revoir Taipeh“ eine lockere Komödie zu inszenieren, in deren Subtext stets der Versuch einer eigenen, außergewöhnlichen Perspektive auf die Stadt Taipeh mitschwingt.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Astronaut Farmer

(USA 2006, Regie: Michael Polish)

Reise zum Mittelpunkt der Familie
von Sven Jachmann

Charles Farmer vereinigt in sich gleich zwei moderne Repräsentanten der Eroberung: Westerner und Astronaut. Denn der träumerische wie idealistische Farmer und ausgebildete Astronaut wünscht sich nichts sehnlicher als die Erfüllung …

Charles Farmer vereinigt in sich gleich zwei moderne Repräsentanten der Eroberung: Westerner und Astronaut. Denn der träumerische wie idealistische Farmer und ausgebildete Astronaut wünscht sich nichts sehnlicher als die Erfüllung seines Lebenstraums: Mit einer selbstgebauten Rakete die Erde zu umkreisen. Nicht jeder Traum ist indes einfach zu realisieren. Der Schuldenberg nimmt existenzbedrohende Ausmaße an, und nachdem der Kauf von 10.000 Litern Treibstoff zudem das FBI aufmerksam werden lässt, droht das Projekt zu kippen, zumal sich Farmer nun auch noch unter dauernder Beobachtung der Presse befindet, die ihn zum amerikanischen Helden zu stilisieren versucht, aber auch gleichermaßen geschickt für seine Zwecke vereinnahmt wird. Das kann ihn aber nicht beirren, denn den Mann treiben gleich zwei Aufgaben an: zum einen den traumatisch nachwirkenden Suizid seines Vaters zu verarbeiten und darüberhinaus als aufrechtes Vorbild für seine Kinder zu fungieren. Dass die gesamte Familie notwendigerweise für dieses Ein-Mann-Unternehmen vereinnahmt wird, ist nämlich der Motor, der die ganze Geschichte vorantreibt und die gesamte Produktion zum uramerikanischen Bilderbogen glättet. Nachdem er sich durch einen missglückten, trotzig wie unbedacht beschlossenen Startversuch direkt ins Krankenhaus beförderte, liegt es nun an der Familie – den ohnehin längst Leidtragenden seines therapeutischen Wahns – seine überbliebenen Identitätstrümmer zusammenzufügen. Die Kinder sollen begreifen, dass es stets lohnenswert ist, Träume zu entwickeln und sie zu leben, drum wird schleunigst eine zweite Rakete gemeinsam gebaut und auf den Namen „Dreamer' getauft. Und die Erdumrundung wird diesmal auch gelingen. So pathetisch das nun auch klingen mag, mit solch ernstem Gestus wird es uns denn tatsächlich dargeboten.

Die Exposition zeigt einen Astronauten zu Pferd, der im Breitwandformat vor malerischer Kulisse ein entflohenes Kalb einfängt. Aber entgegen allen ersten Vermutungen spielt der Film nicht mit der ikonographischen Zurichtung popkultureller Stereotypien, im Gegenteil, er setzt allen Ernstes ihren Mythos gleich doppelt fort. Der familiär besetzte Boden, die Farm, wird ins All fortgetragen, auch wenn der einzige Nutznießer des Vorhabens bloß Charles ist, dessen fixe Illusion die Familie an den Rande der Obdachlosigkeit treibt, sei es finanziell, sei es reputativ, denn es versteht sich von selbst, dass die Regierung den Griff nach den Sternen schon aus Integritätsgründen nicht zulassen will.

Was wir geboten bekommen, ist die Abkehr von paternalistischer staatlicher Bevormundung, ein Plädoyer des radikalen Individualismus, die Kultivierung des eigenen Traums, die schon als didaktischer Fingerzeig ein Fanal für den Nachwuchs erzeugen soll, darüberhinaus auch noch institutionenskeptisch daherkommen will und doch nicht mehr bedeutet als narzisstische Inanspruchnahme aller verfügbaren Ressourcen des Familienoberhaupts, auch der des Humankapitals, der Familienmitglieder. Denn tatsächlich besteht deren einzige Funktion darin, ihre Pflicht zu erfüllen, um daraus zukünftig zu lernen, sich dem Vater anzudienen, um daraus traumfähig zu werden. Dass Manie und pathologischer Zwang zufällig doch zum Erfolg führen können, dass sich manchmal hinterm romantischen Blick knallharter Rational Choice verbirgt, dass die Abkehr vom großen Kollektiv scheinbar auch nur seine Ankunft im Kleinen bedeutet, dass das vorgeblich ironische Spiel mit der Arbitrarität der Zeichen unglaublich eindeutig ausfallen kann und dass die Restauration des Familienidylls selbst nach „Der Eissturm', „Happiness' und Co. immer noch derart offenkundig aufgefahren wird, sind wohl die Eindrücke, die man aus diesem Lehrstück, es drängt sich einfach auf, bildgeronnener Hermann-Philosophie mitnimmt. Und die kann man lesen oder im Fernsehapparat anschauen. Genug ist genug.

The Signal

(USA 2007, Regie: David Bruckner, Dan Bush, Jacob Gentry)

Welt am Draht
von Sven Jachmann

Der Untergang der Menschheit im zeitgenössischen Kino verwischt zunehmend die Demarkationslinien zwischen den Bedrohungen: An Ursachenerklärungen besteht ohnehin immer weniger Bedarf, und von wem eigentlich die größere Gefahr ausgeht – …

Der Untergang der Menschheit im zeitgenössischen Kino verwischt zunehmend die Demarkationslinien zwischen den Bedrohungen: An Ursachenerklärungen besteht ohnehin immer weniger Bedarf, und von wem eigentlich die größere Gefahr ausgeht – dem Machtapparat, den sich meist wahllos formierenden Gruppen Überlebender oder den Infizierten selbst – wird beim Ausbruch des Chaos immer unübersichtlicher. Jüngere Beispiele hierzu sind „28 Weeks Later', „[REC]' oder „Diary of the Dead'. „The Signal' nun fügt der erodierenden Ordnung eine pikante, höchst effektive Note hinzu.

Stellten sich die Gefahrenherde der oben genannten Beispiele für die Protagonisten zunehmend als menschengemacht heraus, so blieb doch stets die Quelle der Bedrohung identifizierbar: Dank der Physiognomie und des Gebarens stiftete der rasende Zombie wenigstens die, wenn auch ziemlich aussichtslose, Sicherheit des Weglaufens. In „The Signal' wird selbst diese Gewissheit fragil, denn auch wenn die Menschen aufgrund eines psychedelischen, via Massen- und Telekommunikationsmedien verbreiteten Signals reihenweise dem Wahnsinn verfallen, äußert er sich doch bei allen unterschiedlich, zumal die Befallenen dem Irrglauben unterliegen, rational zu handeln und dementsprechend zielgerichtet vorgehen. Die Zuweisung Freund/Feind ist unmöglich, ein Ausbruch kann jederzeit erfolgen. Kontingenter und folglich desillusionierter kann das Setting eigentlich nicht mehr ausfallen.

Gesplittet in drei Teile, die in dieser Gemeinschaftsproduktion dreier Debütanten jeweils von einem anderen Regisseur inszeniert wurden, ist die Geschichte um das Dreiecksverhältnis von Mya (Anessa Ramsey), ihrem Ehemann Lewis (AJ Bowen) und dem Liebhaber Ben (Justin Welborn – der Name allein legitimiert jede Teilnahme!) situiert (wobei übrigens ein jeder der bisher unbekannten DarstellerInnen ein beeindruckendes Schauspiel unter Beweis stellt). Dabei ist jeder Episode bei teilweise zeitlicher Überschneidung die Perspektive einer Figur vorbehalten. Obgleich der Stil bei diesem Vorgehen eine erstaunliche Geschlossenheit beweist, wechselt doch sichtlich, manchmal zum Nachteil, der Tonfall der Episoden. Mit Mya erfolgt die notwendig knappe Heranführung an die Figurenkonstellationen, um sodann ganz vom einbrechenden Wahn in die Umwelt abgelöst zu werden. Einer der raren Momente im Kino, in dem Paranoia gar nicht ausgeprägt genug sein kann. Mit dem Wechsel auf den gehörnten Ehemann Lewis und seiner Suche nach Mya verlagert sich der Terror der äußeren Welt in die Intimität des trauten Heims, und der omnipräsenten Gefahr wird durch Einlagen der Groteske eine Verschnaufpause gewährt. Während einer obskuren Geburtstagsparty beargwöhnen sich die skeptischen Teilnehmer solange, bis die Gewalt umso unverminderter wieder einsetzt. An dieser Stelle ist auch der Bildebene nicht mehr zu trauen. Die irritierte Frage nach den Konstanten der Realität kann auch der Zuschauer nicht selten nur noch posthum beantworten. Mit Blick aufs Interieur, den Prämissen des schwarzen Humors, der Rollenfunktionen der Figuren und ihrer gemeinsamen medialen Fixierung sowieso, etabliert sich jedoch ein Bruch im Plot, der, so scheint es, das Geschehen beiläufig dazu nutzen will, satirisch die Konstitution der bürgerlichen Familie zu attackieren. Der krasse Wechsel von slapstickhafter Situationskomik zu brachialer Gewalt offenbart zudem vornehmlich den allen Vorannahmen entgegenwirkenden Taschenspieler und wirkt ob seiner Dissonanz reichlich deplaziert. Warum den Zusammenbruch der Institutionen durchexerzieren, wenn draußen bereits das Inferno tobt? Der dritte Teil vereint die Suchenden, greift auf die Härte der ersten Hälfte zurück, mit dem Unterschied, dass Erklärungsansätze für das Phänomen geboten werden, die aber gleichermaßen dem Wahn geschuldet sein könnten. Das korrespondiert mit den Empfindungen der Protagonisten und ihrer Aussicht auf ein Leben in dieser zukünftigen Welt: in der der Retter mit altruistischem Antlitz sich urplötzlich als lachender Mörder entpuppt. Keine Möglichkeit, hierin noch irgendeinen Funken Hoffnung aufkeimen zu lassen.

Paranoid Park

(F / USA 2007, Regie: Gus Van Sant)

Jugendkultur des Todes
von Andreas Thomas

Nicht erst in seiner Todes-Trilogie („Gerry“ (2002), „Elephant“ (2003), „Last Days“ (2005)), die sich stilistisch merklich von seinen konventionelleren Filmen („To Die For“ (1995), „Good Will Hunting“ (1997), „Even Cowgirls …

Nicht erst in seiner Todes-Trilogie („Gerry“ (2002), „Elephant“ (2003), „Last Days“ (2005)), die sich stilistisch merklich von seinen konventionelleren Filmen („To Die For“ (1995), „Good Will Hunting“ (1997), „Even Cowgirls get the Blues“ (1993), „Forrester- Gefunden“ (2000)) unterschied, interessierte sich der amerikanische Regisseur Gus Van Sant vor allem für die Generation der Heranwachsenden der gegenwärtigen USA. Schon seine Frühwerke wie „Mala Noche“ (1985) oder „Drugstore Cowboy“ (1989) waren mit ihren provisorisch unbürgerlichen Lebensstilen und eskapistischen Gegenmodellen stumme Antworten einer auf sich selbst zurückgeworfenen Jugend an die nicht funktionierende, „heile“, materialistische Welt ihrer Eltern.

Jugend in ihrer Orientierungslosigkeit („Gerry“), mit ihrem Leben in einer parallelen Realität des Drogenkonsums („Drugstore Cowboy“) oder in ihrer Flucht in den erweiterten Selbstmord („Elephant“) ist zugleich Symptom einer kranken Gesellschaft, aber ihr Zustand dient Van Sant implizit auch als Beweis für die ausgeprägte Sensibilität adoleszierender Jugendlicher und für ihre noch unverkümmerte Fähigkeit, einerseits das „falsche“ Leben zu identifizieren und andererseits darauf Reaktionen zu zeigen, seien es selbstzerstörische oder auch, manchmal, kreative und alternative. Fast immer sind es bei Van Sant die Heranwachsenden, denen es auffällt, dass die Welt, in die sie hineinwachsen sollen, nicht akzeptabel ist; und ihnen bleibt meist nichts, außer – so oder so – verhaltensauffällig zu werden.

Die Jugend in der Trilogie empfahl sich, indem sie (leise oder laut) starb und so fortan der Welt nicht mehr zur Verfügung stand. Selbst Punk, oder, wenn man so will, die letzte genuin große jugendliche Gegenkultur oder -revolte, die durch Nirvana-Sänger Kurt Cobain verkörpert wurde, entleibte sich (im Film „Last Days“) freiwillig, als die Musikindustrie es geschafft hatte, schneller zu sein als sie, und den cobainschen Urschrei direkt als Mainstream-Produkt auf den Markt warf, ihn a priori bejahte, so schluckte und zum Verschwinden brachte.

Mit seiner „Todes-Trilogie“ malte Van Sant ein reichlich finsteres und finales Gemälde dessen, was vielleicht noch ansatzweise wie Jugendkultur aussah und erklärte damit implizit das Ende der Hoffnung auf Veränderung. Nur am Rande, etwa in der Figur eines offenen und empathischen Schülers, von welchem in „Elephant“ sich ein Punkerpärchen fotografieren lässt, existierte auch in Van Sants Todes-Trilogie immer noch eine Art utopischer Gegenentwurf, die Ahnung von jugendlicher Authentizität, Autonomie und Selbstbewusstsein. Es scheint sogar, so radikal und vollständig Jugend unter den ihr gegebenen Bedingungen leiden und sterben muss, weil die Welt der Erwachsenen in allen ihren Eigenschaften der Jugend komplett konträr ist, so unkorrumpierbar und anders und geradezu immun aber ist sie, falls sie überleben sollte.

In „Elephant“ jedoch wird der junge Fotograf eines der vielen Opfer zweier unglücklicher, bis an die Zähne bewaffneter Jungen; in der Trilogie entledigt sich Adoleszenz noch ihrer selbst, inklusive ihrer Chancen zur autonomen Alternative. Alex aber, der jugendliche Protagonist von „Paranoid Park“ überlebt, obwohl er mit der Gefahr spielt. Alex (Gabe Nevins) ist ein „Sk8er Boy“, wie ihn Avril Lavigne besingt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass seine Freundin Jennifer auch wie Lavigne aussieht, was aber nicht bedeutet, dass Van Sant das Popsternchen-Double gut abschneiden lässt, denn in Form und Inhalt steuert der Film eher gegen Konsum und Konsumierbarkeit. Jennifer ist ein magersüchtiger Cheerleader und zu ihrem MTV-Lebensstil gehören Sachen wie ein cooler Skater als Freund und eine frühzeitige Entjungferung durch selbigen. Deshalb zerrt sie ihn bei einer Party auch direkt ins Schlafzimmer. Was dort folgt, ist Oberfläche ohne inneren Bezug, ohne seine Beteiligung und wirkt wie eine „sachliche“ Vergewaltigung. Nach Vollzug macht sie Meldung übers Handy an die Freundin.

Alex selbst (und Van Sant) ist weniger an einer fristgerechten Defloration als an der so genannten „Skater Community“ interessiert, ihren philosophischen, ästhetischen, sozialen Äußerungen. Weil Alex spürt, dass das echte Existieren outside normal life passiert, beschließt er, mit einem Freund den Paranoid Park zu besuchen, ein großes Arreal mit illegal gebauter Skaterbahn, ein Treffpunkt für junge Punks, Skater und andere, „denen es noch beschissener geht als uns“. Alex’ anfängliches Zögern kommentiert sein Freund mit: „Nobody is ever ready for ‚Paranoid Park’ “ und diese Ansage könnte als Anleitung für die Wahrnehmung des gleichnamigen Films dienen, dessen nonlineare, hyperreale und assoziative Erzählform immer noch an die Trilogie erinnert, aber nicht mehr so plakativ gegen den Strich möglicher Kausalketten gebürstet ist. Man hat den Eindruck, als habe Van Sant sich genügend gelöst von der cineastischen Konvention, so als wäre das betonte „Anders erzählen“ nicht mehr so sehr nötig, um einen selbstverständlichen und eigenen Stil zu behaupten.

„Paranoid Park“ ist ein handwerklich unbefangenerer, heitererer und freierer Film als seine Vorgänger, was vielleicht auch an seinem Sujet liegt: Die fatale Schwere von Lähmung, mangelnder Perspektive und Tod weicht einem neuen unmittelbaren Blick in die eigene Existenz, „like different levels“, verglichen mit dem Normalen, Vorgeschriebenen, andere Levels mit anderen Spielregeln, als den einseitigen und einengenden der neoliberalen Gesellschaft und ihren sichtbarsten Exponaten, den an ihren Schülern uninteressierten Lehrern und den kaputten Typen, die sich Eltern nennen, aber vor lauter Kaputtsein nichtmal mehr ihre Rollen als Eltern spielen können. Die Jugendlichen bei Gus Van Sant sind immer und von vornherein auf sich allein gestellt, alles, was sie von den Erwachsenen lernen können, ist, wie man möglichst vermeiden muss zu werden. Auch Alex’ Eltern leben getrennt und als Alex wirklich einmal dringend seinen Vater braucht, teilt der ihm mit, dass er in Zukunft überhaupt nicht mehr für ihn da sein wird. Die Alternative ist entweder, die Werte der Älteren zu übernehmen und daran zu Grunde gehen oder sich radikal von ihnen abzuwenden und eigene Regeln aufzustellen, die Welt mit anderen Augen sehen lernen.

„Paranoid Park“ gebraucht die Perspektiven der Skater, hat private Super8-Filmaufnahmen eingebaut, eine Welt im Fluss, im Zeitraffer und in Zeitlupe, ist zu 50 Prozent eine Meditation aus Bewegung und Klang. Darüber und darunter ein manchmal ironisch, manchmal hochsensibel eingesetzter Score von der für Van Sant bekannten Ambient Music bis zu Filmmusikzitaten aus Fellinis „Amarcord“ und „Julia und die Geister“, und der Film verlässt sich mit Recht vertrauensvoll auf die vorsprachlichen, nichtszenischen, jenseits der Handlung liegenden Aussagen von Bild und Ton, sodass der Plot, der auf dem gleichnamigen Roman von Blake Nelson basiert, etwa gleichberechtigt mit ihnen koexistiert. In seinem Zentrum und tatsächlich auch im Zentrum des Films steht der Tod eines Parkwächters, für den Alex eventuell Mitverantwortung trägt. An der Frage dieser Verantwortung laboriert Alex und reift er auch, und er lernt anhand des Paradoxons „Paranoid Park“ und „Parkwächter“ etwas über die Inkompatibilität zweier paralleler Welten.

Van Sants Film ist ein nach-postmodernes künstlerisches Manifest eines Seins jenseits materieller und normativer Zwänge, das sich inhaltlich und formell möglichen Tautologien oder Klischees zu entziehen versteht, – „als wäre das Bild auf einmal wieder berechtigt, die Pracht der Welt in sich zu tragen“, schrieben die Cahiers du Cinéma über den Film im Oktober 2007. Mit „Paranoid Park“ beschreibt der Regisseur nicht nur die Möglichkeit eines bewussten, autonomen, „richtigen“ Lebens im „falschen“, er erkennt auch, trotz seiner 56 Jahre, mit den Augen eines Jugendlichen, wie und dass solches entgegen aller Aussichtslosigkeit, an der seine vorigen Helden starben, möglich sein könnte. Nach den letzten drei Van Sants war derartiges kaum zu erwarten. Man kann „Paranoid Park“ als einen nicht leichtfertigen, dennoch positiven und beinahe schon utopischen Film verstehen.

Water

(CAN 2005, Regie: Deepa Mehta)

Ghandi-Regenschirme
von Andreas Thomas

Wer hat wen geschlagen? Natürlich mal wieder der Mann die Frau. Diesmal in Indien und zwar als bis in die Gegenwart reichender Dauerzustand. – Schlimm genug, wenn kleine Mädchen mit …

Wer hat wen geschlagen? Natürlich mal wieder der Mann die Frau. Diesmal in Indien und zwar als bis in die Gegenwart reichender Dauerzustand. – Schlimm genug, wenn kleine Mädchen mit alten Männern verheiratet werden. Aber falls der Gatte stirbt, was im Fall der Chuyia im Film „Wasser“ bereits in ihrem neunten Lebensjahr geschieht, fühlt sich seine Familie nicht mehr für die Witwe verantwortlich und sie wird einem speziellen Ashram überstellt, einem Haus, in dem hinduistische Witwen den Rest ihres Lebens in Armut und Entsagung verbringen müssen.

Auch dass sich manche von ihnen, um die Ashram-Kasse aufzustocken, inoffiziell prostituieren dürfen, wirft kein besseres Licht aufs honorige indische Partriarchat, und wenn sich selbiges auch kleine Kinder wie Chuyia zum Zeitvertreib ins Bett holt, dann scheints ja zu klappen mit der idealen Verquickung von männlicher Rücksichtslosigkeit, Macht und der Instrumentalisierung religiöser Dogmen für männliche Interessen,- der Mann und die Religion: eine unheilige Allianz, die allerorten funktioniert hat und funktioniert. Wo, wenn nicht in den großen Weltreligionen, war – und ist noch – Frauenfeindlichkeit am tiefsten und effektivsten verankert?

Deepa Mehta, die von hinduistischen Fundamentalisten mit Morddrohungen versehene Regisseurin von „Water“, schlägt einen Weg ein, den auch andere Regisseurinnen beschreiten: Den eines geringeren Widerstandes, der sich in diesem Fall manifestiert durch Anleihen beim Schicksalsroman: Eine niedliche und freche Kindwitwe, eine alte Witwe, die sich niedlicherweise nach Süßigkeiten sehnt, eine bildschöne Witwe im besten Heiratsalter, zur Prostitution verdammt, des weiteren: einen gut aussehenden, bebrillten Ghandi-Anhänger, der nicht nur, wie Ghandi, Jurist ist, sondern auch mit dem berühmten Ghandi-Regenschirm spazieren geht und sich in die bildschöne Witwe verliebt; (sein Vater hat sich von ihren Fähigkeiten aber auch schon regelmäßig überzeugen können, was ihm dann doch den Spaß verdirbt), schließlich dann Klischee-Ghandi selbst, der einen eigens für ihn auf einem Bahnhof errichteten Thron erklimmt, nur um einen einzigen Satz zu wiederholen („Früher habe ich daran geglaubt, dass Gott die Wahrheit ist, heute glaube ich, dass die Wahrheit Gott ist“), den das komplette Hinterhof-Indien sowieso schon von ihm kennt und jede Menge (feminines) Ganges-Wasser und Wassermetaphorik, alles dies Überzeugungsmittel, mit denen Mehta offenbar den steinernen Patriarchen des neuzeitlichen Indiens erweichen will, aber jeden veritablen Menschenrechtler beschämen muss, da die blanken Fakten ja wirklich schon genug aussagen.

„Water“ ist, nicht nur, weil er einen aktuellen Missstand ins Jahr 1938 verlegt, auch, weil er meint, zu Herze gehen zu müssen, indem er eine Soße aus Musik und pittoresker Nostalgie-Folklore mit reizenden unglücklichen Kindern und hübschen unglücklichen Frauen vermengt (und implizit das Schicksal langweiliger unglücklicher Kinder und hässlicher unglücklicher Frauen hintanstellt), ein eher schwacher, zu wenig aggressiver Film geworden, der mit abgemildert bollywoodesken Methoden Aufklärungsarbeit leisten will. In Indien konnte er so tatsächlich ein großes Geschrei auslösen, aber in Deutschland wird er vorwiegend international interessierten Beamten ergreifende und bestürzende Schicksale aus einem geheimnisvollen Land bieten – also ihnen ihre gepflegte, kulturell wertvolle Abendunterhaltung sichern, nicht wahr?

Die März Akte

(D 1985, Regie: Peter Gehrig)

Nachrichten aus dem Kulturbetrieb
von Sven Jachmann

Wo er recht hat, hat er recht. Verlagsarbeit ist langweilig, folglich kann ein Verlagsporträt nur so spannend wie sein Verleger ausfallen, dachte sich März-Inhaber Jörg Schröder und also weiter: Was …

Wo er recht hat, hat er recht. Verlagsarbeit ist langweilig, folglich kann ein Verlagsporträt nur so spannend wie sein Verleger ausfallen, dachte sich März-Inhaber Jörg Schröder und also weiter: Was tun? Eine Rahmenhandlung schaffen, die dem chronischen Skandalon, das dem Post 68er-Familienbetrieb anhaftet, den gebührenden Platz verschafft. Drum spielt Horst Tomayer, darstellend bekannt aus dem ersten Otto-Film und Tagebücher verbreitend aus Konkret, den Betriebsprüfer, der, unwissend und unbedarft wie wohl die meisten Zuschauer dieser aus öffentlichen Geldern finanzierten Produktion des Bayerischen Rundfunks, in der hessischen Provinz über Rechnungsbeträge und Steuererklärungen in die Parallelwelt des und eines linken Kulturbetriebs eintauchen muss und davon auch nicht völlig unbeeindruckt bleibt.

Jörg Schröder spielt Jörg Schröder und darf spontan auf den komplett improvisierenden Tomayer und das vorgeführte Interviewmaterial einstiger Wegbegleiter reagieren. Und das sind derer nicht wenig: Henryk M. Broder, Karl Dietrich Wolff, Klaus G. Saur, Mathias Bröckers, Uve Schmidt und einige mehr prüfen ihren Erinnerungshaushalt. Zwischendurch ist auch mal ein Daniel Cohn-Bendit zu sehen, der als Interviewpartner zwar nicht vorgesehen, durch penetrantes Wortabschneiden dann aber doch noch einer geworden war. Die Montage zeigt, wie gegensätzlich diese Erinnerungen beschaffen sein können. Den Rest erledigt redselig, aufbrausend, sarkastisch, aber durchaus nicht unhöflich Schröder in Eigenregie, und auch hier sorgt die Montage dafür, dass er das letzte Wort behalten soll.

März, das ist wohl der symptomatischste Versuch, die Uneinheitlichkeit als Mehrebenen-Analyse, als Einheitlichkeit widerständischer Kultur zu propagieren. Da war eben nichts ohne das andere zu denken. Brinkmanns »Acid Anthologie«, Robert Crumbs »Headcomix«, Gunter Schmidts »Das große DerDieDas« bis hin zum obskuren Astrologieführer oder, noch weiter weg, aber ziemlich nah dran, der Zweitverlag Olympia Press, dessen pornographischen Lizenztitel wiederum dem Überleben des März-Verlags zugute kamen. Die Corporate Identity bot dann eben das stets gelb-schwarze oder gelb-rote Titelbild oder eben das Ziel, jedes Milieu innerhalb des Milieus im Verlagsprogramm berücksichtigt zu wissen, gegen jedes Dogma, oftmals auch gegen jede verlegerische Vernunft, zumindest aber mit Esprit.

Die März Akte, das ist dann weniger die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs eines einstmals unumgänglichen linken Kleinverlags, es ist vielmehr die Fortsetzung des von Schröder so beständig initiierten Mythos Schröder: idealistisch gegen Feuilletonmuff verlegend, fast immer an der Schwelle zur Selbstausbeutung, dabei aber immer lauter schreiend und schreibend als die anderen, nachträglich dann doch vorausreitend, auch wenn sich dabei die Parameter des Kulturbetriebs verschoben haben mögen. Wer heute Popliteratur denkt, denkt Adoleszenz-Hochnäsigkeit im (meist nicht mal) Secondhand-Nadelstreifen, aber ganz sicher nicht Rolf Dieter Brinkmann und Bernhard Vesper.

Der Film indes stellt sich gern in die Dienste seiner Figur und macht aus seinem Duktus keinen Hehl. Lektorengespräche mit aufstrebenden Jungautoren sind offensichtlich gefaket, kurz vor Schluss liegt Schröder, ganz armer Poet, mit echten 39,5 Grad Fieber im Bett, gezwungen, der Rezitation eines Betriebsprüfergedichts vom sanft geläuterten Horst Tomayer zu lauschen, beide können sich das Lachen nicht verkneifen. Das mag auf der einen Seite unverhohlene Kolportage sein, es ist aber auch ein herrlich klatschdurchtränkter Einblick in die Mechanismen und Strukturen bundesrepublikanischer Kulturschickeria, dessen Essenz ist – im Zeitalter der digitalen Bohème mehr denn je -, dass Idealismus kaum ohne Selbstausbeutung, Selbstausbeutung sehr wohl aber ohne Glamour, wunderbar und immer noch gültig für heutige Verhältnisse anwendbar ist.

Zur DVD von absolut Medien:

Eine Fernsehproduktion aus dem Jahre 1985 wird selbstredend nicht dafür genutzt werden, das digitale Medium neu zu erfinden, zumal diese Edition leider ohnehin bloß eine kleine Käuferschar finden wird. Wirkt das Bild an manchen Stellen schon recht abgenutzt und poltert der Ton überaus blechern daher, so reicht doch allein die Freude am Wissen daran, daß auch dieses Kleinod das analoge Zeitalter hinter sich gelassen hat. Zumal die Extras den Film hervorragend ergänzen: Im Gespräch mit Mathias Bröcker läßt das Verlegerpaar die Zeit nach dem Film Revue passieren, und im 20seitigen Booklet, ein langer Auszug aus der 38. Ausgabe von »Schröder erzählt«, blickt selbiger nochmals ausführlich und originär auf die Produktionsgeschichte zurück.