Dies ist eine Einführung zu „Bullitt“, die ich auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten haben, das vom 8. bis 10. September 2017 im Nürnberger KommKino statt fand.
Wie gestern möchte ich auch heute mit einem Zitat beginnen, das diesmal von einem Kritikerkollegen stammt, der hier im KommKino schon sehr oft ein sehr gerne gesehener Gast war. Oliver Nöding schreibt in seiner Kritik zu „Touch of Evil“ auf seinem Blog Remember it for later: „Orson Welles hat mit „Touch of Evil“ sowohl inhaltlich wie formal das Kunststück vollbracht, im Jahr 1958 nicht nur die Fünfziger-, sondern sogar schon die Sechzigerjahre hinter sich gelassen zu haben. Wir sind hier schon im pessimistischen, ja, zynischen Polizeifilm der Siebzigerjahre angelangt, nur noch Versatzstücke sowie Lokal- und Zeitkolorit erinnern uns daran, wo wir uns wirklich befinden.“
Der von Orson Welles selbst gespielte rassistische Quinlan, laut Oliver „fulminant fett und furchteinflößend“, nimmt also demnach schon die großen und großartigen Erzreaktionäre Dirty Harry Callahan und Jimmy „Popeye“ Doyle vorweg, die uns in den frühen Siebzigern zu atemberaubenden Reisen ins Herz der Finsternis einluden, das zu dieser Zeit nicht im Kongo oder Kambodscha schlug, sondern auf den Straßen von San Francisco und Brooklyn, aber vor allem in den Figuren selbst, die wir durch den concrete jungle begleiten. Es gab denn auch einen linken Gegenentwurf zu den zuvor genanten: Frank Serpico. Egal auf welcher Seite der ideologischen Grabenkämpfe der Zeit sie stehen, sie eint nicht nur ihre tiefe Zerrissenheit, sondern auch, dass sie sich, vielleicht das wichtigste Narrativ im Kino der Zeit überhaupt, aber insbesondere des sogenannten New Hollywood, im Kampf mit einem System befanden. Dieses ist, auch hier ist die politische Ausrichtung egal, der Polizeiapparat. Bei Callahan ist er nach den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Sechziger so „liberal“, dass er ihn hindert, seinen Job zu machen, mit knallharter Hand und .357 Magnum so richtig aufzuräumen, mit den Worten eines anderen großen Faschisten des amerikanischen Kinos der Siebziger, all den Abschaum von den Straßen zu spülen. Bei Serpico hingegen ist er so korrupt, ja, mafiös organisiert, dass die einzigen Verbrecher, die er überhaupt noch bekämpfen kann, Verbrecher with a badge sind.
Warum erzähle ich das alles? Nun, weil wir heute Abend mit „Bullitt“ von Peter Yates einen Polizeifilm sehen werden, der genau aus der Dekade stammt, die Welles überspringt, und ich die Frage interessant finde, wie sich ein berühmter Filmcop aus einem berühmten Copfilm in den Sechzigerjahren zu seinem Vorgänger und seinen Nachfolgern verhält, die sich ja, folgt man Oliver, was ich an dieser Stelle unbedingt tue, recht ähnlich sind.
Doch fangen wir am Anfang an. Rajko Burchardt beklagte einst in einem Artikel, dass die große Kunst des Filmvorspanns leider im Gegenwartskino größtenteils ausgestorben sei. Ein vortreffliches Beispiel dafür, wie Vorspann einst ging, aber eben leider nicht mehr geht, können wir in „Bullitt“ bewundern. Zu dem funky swingenden Score von Lalo Schifrin sehen wir Räume und die Männer in ihnen im Chrom eines Lampenschirms gespiegelt. Da fliegen die Credits auf uns zu und übernehmen die Rolle von Überblenden, lassen ein Bild ins nächste gleiten, wobei die Bilder mal farbig, mal schwarz-weiß sind und Männer zeigen, die ihrem hier absolut undurchsichtig bleibenden Gangsterhandwerk nachgehen. Ein nicht nur in sich abgeschlossenes, sondern auch absolut hermetisches kleines Kunstwerk ist dieser Vorspann.
Steve McQueen gibt die Titelfigur mit extremen Understatement. Schon darin könnte er von der Schmiere von Welles Quinlan, dem Knurrigen von Eastwoods Callahan oder dem Cholerischen von Hackmans Doyle kaum weiter entfernt sein. Mit Pacinos Serpico verbindet ihn immerhin, dass er dem Film seinen Titel gibt und sie den gleichen Vornamen teilen: Frank. Ansonsten allerdings auch rein gar nichts. Bullits stoische Ruhe scheint den ganzen Film anzustecken, der im allgemeinen ziemlich slow paced ist und sein Tempo dann immer nur in seinen Actionszenen abrupt steigert.
Auch Bullitt, der zu Beginn den Auftrag erhält, einen Mann zu beschützen vor einer Organisation, die immer nur „die Organisation“ genannt wird, wird sich mit seinem Auftraggeber anlegen. Jedoch bedeutet das bei ihm so gut wie nichts. Steht das Entstehungsjahr des Films, 1968, oft geradezu synonym zum Menschen in der Revolte, dann liefert Yates uns eine große Gegenerzählung, indem er von einem Mann erzählt, der längst aufgegeben hat. Wenn er denn jemals ein Kämpfer war, des Kämpfens wohl schon vor langer Zeit endgültig müde geworden ist und nur noch wie ein Roboter funktioniert. Er raucht nicht, er säuft nicht, er stopft keine Hot-Dogs in sich hinein, er flucht selten und haut niemandem auf die Fresse, kurz gesagt, er tut nichts von all dem, was so vielen anderen Bullen der Filmgeschichte vielleicht eine kurzfristige Linderung von ihrem sonst ziemlich tristen Dasein verschafft. Käuflich ist er zwar nicht. Was sollte er aber auch mit dem Geld, das er verdienen könnte, wenn er es wäre, machen? Eine Freundin hat er zwar und eine äußerst attraktive noch dazu, weiß mit ihr aber augenscheinlich so gar nichts anzufangen. Mit dieser, gespielt von Jacqueline Bisset, führt er an einer Stelle folgenden Dialog: Sie: „Ist dein Inneres je berührt? Wirklich berührt? Oder kommt nichts mehr an dich heran? Du lebst im Morast. Tag für Tag.“ Er: „Man kann dem nicht entfliehen.“ Sie: „Ich weiß, aber ich will es nicht sehen. All das Hässliche um uns herum. Du lebst mit Gewalt und dem Tod.“ Er schweigt und durch sein Schweigen spricht hier einer, der längst resigniert hat gegenüber dem Grauen, aber vor allem gegenüber der Tatsache, dass er nichts an ihm ändern wird. Wenn es einen Grund dafür gibt, dass Frank Bullitt immer noch jeden Morgen aufsteht und zur Arbeit geht, dann erfahren wir ihn in den 114 Minuten des Films nicht mal im Ansatz.
Über „Bullitt“ kann man sicherlich nicht sprechen, ohne seine große Verfolgungsjagd zu erwähnen, die zehn Minuten und 53 Sekunden dauert und eine der berühmtesten der Filmgeschichte ist – schon gar nicht im Kontext eines Festivals, das sich ganz dem Actionfilm widmet. Sie geht betont langsam los und steigert sich in einem großen Crescendo, wenn der Verkehr immer dichter wird und die Verfolgten aus ihrem Dodge Charger mit einer Schrotflinte das Feuer auf Bullitts Ford Mustang eröffnen. Sie endet mit einem Knall, mit erheblichem pyrotechnischen Aufwand und damit, dass die buchstäblich zur Strecke gebrachten Gangster im Feuer schmoren.
Mit einem Gedanken zu dieser denkwürdigen Szene möchte ich dann auch schließen. Wenn es einen Abschnitt auf der IMDb-Seite eines Films gibt, den ich immer geflissentlich ignoriere, dann sind es die Goofs. Gestern habe ich eine Ausnahme gemacht und mit Grauen, wohlgemerkt: vor der Seite, nicht dem Film, festgestellt, dass an dieser Stelle zu „Bullitt“ insgesamt 53 Filmfehler gelistet werden. Sensationelle 23 davon nur bei der Verfolgungsjagd. Wenn also, um nur den markantesten und bekanntesten der „Fehler“ zu nenne, der Dodge wesentlich mehr als vier Felgen verliert, dann gibt es wohl Leute, die das als reine Schlampigkeit abkanzeln, ich hingegen möchte es lieber als ein starkes Statement für die künstlerische Autonomie des Kinos begreifen, das sich eben, wenn überhaupt, nur an seine eigenen Regeln zu halten hat, sich von dem, was man gemeinhin Realität nennt, immer wieder emanzipieren darf, ja, vielleicht sogar muss. Oder, etwas anders ausgedrückt: man kann diese Szene auch so lesen, dass der Film mit ihr den Erbsen-, Filmfehler- und Felgenzählern des Internetzeitalters über die Jahrzehnte hinweg den Mittelfinger zeigt.