Eine Rasierklinge, die im Close-Up die Haut zerteilt, ins Fleisch schneidet, bis das Blut sprudelt. Wenig zuvor der Blick aus dem Fenster auf eine Mauer, die in der Totalen eine Stadt zerteilt, ins urbane Fleisch schneidet, aus dem kein Blut sprudelt (auch wenn an der anderen Mauer, auf die die Gefängnismauer hier keineswegs zufällig verweist, durchaus Blut geflossen ist). Schauplatz von „Kalt wie Eis“, dem Abschlussfilm des Schweizers Carl Schenkel an der Berliner Filmhochschule, soviel steht nach etwa fünf Minuten fest, sind die Mauerstadt West-Berlin und der Körper des Hauptdarstellers Dave Balko. Stadt und Körper spiegeln einander, am deutlichsten wohl in einer Sexszene zwischen Balko und seiner Freundin Corinna (so bezaubernd wie tough: Brigitte Wöllner) gegen Ende. Während es die beiden leidenschaftlich treiben, er mit Gipsbein und Verbänden um den Körper, fährt die Kamera aus dem Fenster hinaus, wandert über Kreuzberger Hinterhöfe und kommt schließlich auf der Mauer zum Stehen, die sich, einer gigantischen Narbe auf der Wunde gleich, die die Teilung ins Fleisch der Stadt gerissen hat, durchs Bild zieht. Und wie auf dem Körper der Figur, der für den Kleinkriminellen, den Lumpenproletarier alles ist, was er hat, unerbittliche Kämpfe ausgetragen werden, er mit Knüppeln und Fäusten geschunden und an einer Stelle sein Bein von einem Auto überfahren wird, war die Stadt Schauplatz der ideologischen Kämpfe zwischen zwei (vermeintlich) verschiedenen, verfeindeten Systemen, Frontstadt des Kalten Kriegs.
Zu Beginn begegnen wir Dave Balko, wie auch die Figur heißt, in seiner Zelle im Jugendknast in Plötzensee. Mit jedem Sekundenton der Uhr, die auf die Tagesschau vorbereitet, gibt es einen Schnitt zu einer näheren Einstellung vom Gesicht des auf dem Bett liegenden, der es bald selbst in die Nachrichten schaffen wird, wohl auf die einzige Art, die einem wie ihm vergönnt sein kann. Unter vollem Körpereinsatz, durch den Schnitt ins eigene Fleisch, das Vortäuschen eines Suizidversuchs, gelingt es ihm zu fliehen, wobei ein Wachmann ums Leben kommt, ohne dass es Balkos Absicht gewesen wäre. Er macht sich auf die Suche nach Corinna, die im Nachtclub New Eden, unter der Fuchtel des dubiosen Geschäftsmanns Hoffmann (Rolf Eden), arbeitet. Bald sieht sich Dave nicht nur von der Polizei gejagt, sondern auch von den brutalen Handlangern Hoffmanns. Mit dem Motorrad zieht er schließlich in seine letzte Schlacht, die keine Sieger kennen wird.
Der schönste Blurb, den ich jemals auf einem Buch oder sonst wo gelesen habe, lautet: „Chandler wrote as if pain hurt and life mattered.“ Genauso haben Schenkel, Balko und die anderen einen Film gemacht, der kein gutes Ende nehmen kann, in dem das charakteristische „Game Over“ der Spielautomaten den düsteren Ausgang markiert, und in dem doch für Momente alles möglich und von größter Bedeutung zu sein scheint: das Leben, die Liebe, der Schmerz, alles. Gleich bei der Wiedersehensszene zwischen Dave und Corinna im New Eden wird klar, dass sie für ihn die Eine ist. Wie sich ihre Gesichtszüge aufhellen, sobald sie den Geliebten erkennt, wie sie sich in die Arme fallen. Doch natürlich macht die große Liebe auch verwundbar. If life matters (and so does love), pain hurts.
„Kalt wie Eis“ ist der seltene Glücksfall von einem Film, dem die Unerfahrenheit seines Regisseurs und sein niedriges Budget nicht zum Nachteil gereichen, sondern die aus der Beschränktheit ihrer Mittel eine ganz eigene Ästhetik der Imperfektion und des Unfertigen entwickeln. Der Film wird von einer rohen Energie durchflutet, die ans US-amerikanische und italienische Genrekino der Siebziger gemahnt (etwa an die Filme Russ Meyers oder Mario Bavas „Rabid Dogs“), die sich vor allem aber in begnadeten Debüts (oder zumindest Frühwerken) ambitionierter Filmemacher findet: in George Millers „Mad Max“, Abel Ferraras „The Driller Killer“ oder Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“.
Mit letzterem verbindet Schenkels Film auch, dass er (nicht nur, aber ganz besonders in seinen Gewaltszenen) ein ganz und gar physisches Kino schaffen will, das sich aller Mittel des Mediums bedient, um die Erfahrung der Gewalt für die Zuschauenden so unmittelbar körperlich spürbar zu machen, wie es die sichere Distanz zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm nur irgend möglich macht. In der Szene, in der Balko den Gangster Kowalski (Otto Sander) ausraubt, hängt er ihn nach erbittertem Kampf mit seinem Anzug an einen Kleiderhaken (in dem sich, zufällig oder auch nicht, der Fleischerhaken aus Hoopers Film spiegeln mag) und malträtiert ihn mit seinen Fäusten. Close-Ups zeigen, schnell hintereinander geschnitten und von dräuenden E-Gitarren-Rückkopplungen untermalt, das verzerrte Gesicht des Zuschlagenden, das bald blutüberströmte des Geschlagenen, die Fäuste, die auf einen Körper eindreschen. Wenn Balko wenig später selbst empfindlich einstecken muss, seinerseits von den beiden Schergen Hoffmanns ohnmächtig geschlagen wird, geht er mit blitzschnellen Jump-Cuts zu Boden, seine Bewusstlosigkeit wird in einem Schnitt-Stakkato aufgelöst, das Störbilder eines (damaligen) Fernsehers, die Kugel eines Flipperautomaten (samt den dazugehörigen Geräuschen) und schließlich ein Bild der blutüberströmten Corinna zeigt.
Dabei ist „Kalt wie Eis“ aber frei von jeder Epigonalität. Seine Energie ist eine West-Berlin-im-Jahr-1981-Energie. So wie die Gewalt auch in den Körper des Films, der Inhalt also in die Form, eingeschrieben wird, so ist und erzählt die enorm wichtige Wave- und Punk-Musik von Tempo, Malaria, den Neon Babies und anderen Stadtgeschichte. Am deutlichsten natürlich in dem von Tempo auf Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch (letztere drei die Sprachen der Besatzer) gesungenen „You are leaving the American sector.“ Dass die Kunstwelt den Punk, gerade in einer seiner schwer zugänglichsten Formen, nämlich in Gestalt von Blixa Bargeld, der, wie Mark Reeder in der schönen Musik-Doku „B Movie – Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989“ erklärt, ziemlich exzentrisch war, selbst für diese Stadt und diese Zeit, und in „Kalt wie Eis“ in einer Galerie als lebendes Exponat auftreten darf, „domestiziert“ hat, wie Marcus Stiglegger im Booklet der DVD schreibt, während „Dave als authentischer Vertreter der Straßen- und Subkultur“ außen vor bleibt, ist sicherlich nur die halbe Wahrheit. Aus den Konzert- und Musikstudio-Szenen des Films spricht eine unbändige Kreativität, die gerade in dieser Stadt, die noch mehr uneins mit sich selbst war als es Städte eh immer schon sind (umso mehr, je größer die sozialen und kulturellen Unterschiede in ihnen sind), die unter zwei Staaten, zwei Systemen aufgeteilt war, einen idealen Nährboden hatte. Um es mit einem der Sprüche an der Wand von Balkos Zelle zu Beginn zu sagen: „Ohne Mauer keine Power.“
Wenn man sich fragt, was von dieser Power, dieser Energie im immer weiter durchgentrifzierten Gesamtberlin des Jahres 2017 bleibt, so kann man antworten, zum Beispiel dieser Film. Immerhin.