Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Am 20. Mai 2013 checkt Edward Snowden, ein der Öffentlichkeit bis dahin unbekannter Mitarbeiter der Technologieberatungsfirma Booz Allen Hamilton, in das Mira Hongkong ein. Von hier aus verschickt er in den folgenden Tagen mehrere als streng geheim klassifizierte Dokumente des US-Geheimdienstes NSA an Journalisten der Washington Post sowie des Guardian. Am 6. Juni 2013 werden Teile dieser Dokumente veröffentlicht, die ein zuvor ungeahntes Ausmaß an staatlicher Überwachung offenbaren. Den Aussagen Snowdens zufolge, kontrolliert und speichert die NSA in Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten (GCHQ, DSD) die weltweite Internet-Kommunikation.
Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras hat jene Tage im Hotel filmisch begleitet und mehr als ein Jahr nach den Ereignissen zu einem aufregenden Gänsehautkrimi verdichtet. Der Titel „Cititzenfour“ bezieht sich dabei auf das Pseudonym, mit dem der Whistleblower Poitras erstmals im Februar 2013 in verschlüsselten E-Mails kontaktiert hatte.
In ihrem sehr persönlichen Film gibt die Regisseurin einen klaren Einblick in die Spionagestrategien des amerikanischen Geheimdienstes, die benutzten Spähprogramme sowie die Beteiligung großer Provider und sozialer Netzwerke wie Facebook, Google und AOL. Durch die kontrastierende Gliederung der Räume (enges Hotelzimmer, Stadtansichten und Landschaftstotalen, E-Mail-Konversationen in Großaufnahme, dem gezielten Einsatz von On und Off) erzeugt der Film trotz wenigen tatsächlich neuen Informationen eine ungeheure Sogwirkung. Das Schicksal der Regisseurin als unverhofft Involvierte dient dabei als roter Faden auf dem Weg in die langsam einsetzende Paranoia. Vor allem aber der Blick auf Snowden, der in den klaustrophobischen vier Wänden seines Hotelzimmers fast lachhafte Agentenfilmszenen evoziert, wenn er sich unter einem Handtuch versteckt, um ein Passwort einzutippen oder bei Anrufen von der Rezeption plötzlich aufgeregt verstummt und sich bereits in Handschellen sieht, potenziert die unangenehmen Gefühle des Zuschauers. In der Fokussierung auf Snowden wird allerdings ein auf den ersten Blick zentraler Anspruch des Whistleblowers missachtet. Denn es gehe, so betont er selbst, bei all seinen Taten und Äußerungen nicht um ihn, sondern allein um die Informationen. Dem Film hingegen geht es um die Erschaffung eines Mythos‘ und damit einhergehenden klaren Fronten.
Bereits auf dem Plakat zum Film ist Snowden in Großaufnahme und damit als Star des Filmes auszumachen. Entscheidend bei diesem Paratext des Filmes ist, dass Snowden mit einem grün-blauen Farbfilter überzogen und von, über die gesamte Fläche laufendem, Code abgedeckt wird. Das Plakat gibt damit bereits eine eindeutige Rezeption von Film und Person vor. Und die Verweise auf „Matrix“ (R: Andy und Lana Wachowski) sind noch vielfältiger. So inszeniert die Regisseurin die ersten Kontaktaufnahmen mit Snowden ganz im Stile dieses Sciene-Fictions-Streifens von 1999. Dabei begibt sie sich stellvertretend für den Zuschauer in die Position von Neo, der eines Nachts plötzlich eine Nachricht auf seinem Monitor entdeckt. Und wie Morpheus bleibt auch Snowden bis er für Neo „Gestalt“ annimmt, lange Zeit ein Phantom, was ihn umso interessanter macht.
Doch Edward Snowden ist nicht nur das Produkt dieser Inszenierungsstrategien. Er ist selbst ein Regisseur und sich, trotz bubihaften Aussehens, seiner Rolle durchaus bewusst. Wie einst in „Matrix“ lässt er die Auserwählten zu sich in ein Hotel kommen (man erinnere sich an das erste Zusammentreffen von Neo und Morpheus), um ihnen von der „Wüste des Realen“ zu erzählen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Hotel als Ort der Täuschung, als Simulacra eines Zuhauses in „Citizenfour“ auf ähnliche Weise wie in „Matrix“ eingesetzt wird. Bezeichnenderweise hat sich Snowden mit dem Mira-Hotel zudem einen Ort herausgesucht, der die Erkenntnis gewissermaßen im Namen trägt.
Gerade in diesen Hotelszenen versucht der Film, sich als historisches Dokument, als authentischer Beleg, wie alles angefangen hat, zu zeigen. Es ist jedoch nur die Simulation dieses historischen Dokumentes, dem jede Distanz zum Objekt fehlt. Geschichte, das wird in diesen Szenen deutlich, ist nicht nur etwas Gelebtes, sondern etwas Konstruiertes, etwas Dramatisiertes. Es handelt sich eben um eine Story und Snowden weiß sehr genau, wie Geschichten erzählt werden. Im Quasi-Begleitbuch zum Film „Die globale Überwachung – Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“ von Glenn Greenwald ist nachzulesen, dass „Der Heros in tausend Gestalten“ von Joseph Campbell Snowdens Lieblingsbuch ist. Ein Buch also, das sich mit dem Konzept der Reise des Helden befasst. Und damit der Heldenmythos funktionieren und das Gleichgewicht in der Welt wieder hergestellt werden kann, braucht es einen Gegner. An diesem Punkt driftet der Film vollkommen in eine Erzählung über Gut und Böse ab und löst sich zunehmend vom offenen Blick des Dokumentarischen.
Die im Film beschriebene Kontrollgesellschaft des 21. Jahrhunderts kann jedoch nur aus der Entstehung der Disziplinargesellschaft (Foucault) als Teil eines historischen Transformationsprozesses im Angesicht tiefgreifender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen begriffen werden. Genau dieser Multiperspektivität verweigert sich „Citizenfour“ gänzlich und ist damit allem voran Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Diese können sich unter den Klängen der Nine Inch Nails, mit deren Musik (bezeichnenderweise aus dem Album „Ghosts“) der Film düster schattiert wird, tief in die Geheimnisse der Matrix begeben und ein wenig gegen die Agenten aufbegehren.
Nur in einem Nebensatz darf der Internetaktivist Jacob Appelbaum diagnostizieren, dass sich Freiheit heute in Privatheit transformiert habe und wir diesen Raum des Privaten nach und nach verlieren würden. Dass wir uns mit allergrößter Freiwilligkeit digital entblößen, den steten Aufforderungen, immer mehr zu teilen, zu liken und zu posten bereitwillig nachkommen, oder uns permanent einen Vorteil in Form eines Paybacks vorgaukeln lassen, ist nur eine wesentliche Größe in diesem Zusammenhang. Dave Eggers hat in seinem Roman „Der Circle“ dazu eine brillante Analyse abgeliefert. An keiner Stelle kommt es hier zu einer überzeugenden Argumentation, warum der auf absolute Transparenz ausgerichtete Circle aufgehalten werden sollte. Und der Staat als Zentrum der Macht spielt längst keine Rolle mehr.
„Citizenfour“ ist ein cleveres Marketing-Puzzleteil im Kampf gegen Big Brother 2.0. Seinem aufklärerischen Anspruch und dem ungeheuren Mut Edward Snowdens stehen jedoch die Täuschungsmanöver einer hochgradig manipulativen und kurzsichtigen Inszenierung unvereinbar gegenüber.