Zack Adesina hat mit „Brexit Hate“ eine Kurzdokumentation über die Auswirkungen des britischen Referendums für einen EU-Austritt auf die Migranten in Großbritannien gedreht.
Jürgen Kiontke: Sie haben einen Dokumentarfilm über die Folgen des Brexit-Votums in Großbritannien gedreht, insbesondere über die Auswirkungen auf Arbeitsmigranten aus Osteuropa. Wie ist es dieser Gruppe seit dem EU-Referendum ergangen?
Der kurze Dokumentarfilm, den ich für die BBC gedreht habe, heißt „Brexit Hate“. Darin geht es vor allem um die zahlreichen Osteuropäer, die seit dem Brexit-Votum aus London weggezogen sind oder nun planen, London zu verlassen. Eine der eindrucksvollsten Charaktere ist eine Frau, die seit vielen Jahren in Großbritannien lebt, arbeitet und Steuern zahlt. Sie sagt, dass sie sich seit dem Volksentscheid für den Austritt aus der Europäischen Union von dem Land, in dem sie lebt, zurückgewiesen fühlt. „Es ist so, als würde man eines Morgens aufwachen und feststellen, dass die beste Freundin einem plötzlich und ohne Erklärung dem Rücken gekehrt hat. Ich kann nicht aufhören zu weinen.“
Diese Aussage zeigt deutlich, dass viele Osteuropäer, in den vergangenen 20 Jahren nicht nur wegen der Arbeit gekommen sind. Sie haben hier tiefe Wurzeln geschlagen, sind eng mit Briten befreundet, haben hier Familien gegründet. Und plötzlich fühlen sie sich in nicht mehr sicher, ihr Status ist ungewiss. Die Folge sind Furcht, Misstrauen und Wut. Ich versuche in dem Film, diese emotionale Zerrissenheit aufzuzeigen.
Was war für Sie der konkrete Auslöser für diesen Film?
Das Filmkonzept entstand eigentlich schon lange vor dem EU-Referendum. Bereits seit einigen Jahren konnte ich beobachten, dass mein Land sich unter der polierten und stillen Oberfläche langsam veränderte. Eine seltsame Art von Nationalismus hat sich in Großbritannien breitgemacht, teils aufgrund sozialer Ungleichheiten und stark befeuert durch das rechte wie auch das linke politische Spektrum: ein Nationalismus, der auf Separatismus statt Einheit setzt. Das ist der Grund, weshalb wir nun an dem Punkt sind, dass manche Leute stolz auf ihren offenen Rassismus gegenüber Osteuropäern sind. Und es ist auch der Grund, warum einige nationale Zeitungen Anti-EU-Schlagzeilen drucken, die selten auf Fakten basieren. All dies kam in Verbindung mit dem Brexit-Votum ans Licht, und da dachte ich mir, jetzt ist die richtige Zeit für den Film, jetzt muss gezeigt werden, wie sich all dies auf Migranten auswirkt und weshalb sie dem Vereinigten Königreich den Rücken kehren und in andere Länder gehen, in denen sie sich gewürdigt und sicherer fühlen.
Sind denn seit Juni 2016 mehr rassistische Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten verübt worden? Können Sie dazu etwas sagen?
Mit dem EU-Referendum hat die Zahl der von der englischen und walisischen Polizei aufgenommenen Haßverbechen stark: zugenommen: Insgesamt wurden in den beiden Wochen vor der Volksabstimmung und am Tag des Referendums, dem 23. Juni, gut 1.500 rassistisch oder religiös motivierte Straftaten begangen – ein Anstieg zum Vorjahreszeitraum um ca. 41 Prozent. In unserem Land gibt es Menschen, die täglich beleidigt, eingeschüchtert und manchmal sogar tätlich angegriffen werden.
Gibt es bestimmte Gruppen, die besonders ins Visier genommen werden?
Jede Person, die erkennbar anders und möglicherweise wie ein Migrant aussieht, könnte derzeit das Ziel solcher Attacken werden. Im Juni letzte Jahres wurde in den britischen Medien über eine ältere deutsche Frau berichtet, die seit 43 Jahren in Großbritannien lebt und nun traumatisiert ist, nachdem sie Opfer eines fremdenfeindlichen Übergriffs wurde – ihre Haustür wurde mit Hundekot beworfen und ihr wurde gesagt, sie solle nach Deutschland zurückgehen. Im Oktober war ein muslimisches Mädchen in einem Londoner Bus von einem Mann angegriffen worden, der „Brexit“ gerufen haben soll.
Eine Umfrage hat ergeben, dass zwölf Prozent der im Vereinigten Königreich lebenden polnischen Staatsangehörigen nach dem Brexit-Votum mit feindseligen Haltungen konfrontiert wurden. Der Hass scheint sich gegen alle möglichen Migrantengruppen zu richten.
Wen treffen die Aggressionen noch?
Es gibt keine offiziellen Berichte über Vorfälle von Hasskriminalität in Verbindung mit Brexit gegen Personen, die nicht Migranten sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es in dieser Hinsicht kein Problem gibt. Beispielsweise berichten LGBTI-Gruppen über mehr Angstgefühle und Angriffe seit dem Brexit-Votum, und die Geschichte hat uns gelehrt, dass Fremdenfeindlichkeit leicht außer Kontrolle gerät. Heute werden Migranten verfolgt, morgen wendet man sich gegen eine andere Gruppe – und was kommt dann?
Wer sind die Verantwortlichen, und wie reagieren Polizei, Justiz und Medien auf solche Taten?
In den Zeitungen geht es hauptsächlich um Rowdys, die Migranten auf der Straße angreifen; um Jugendliche, die Personen mit ausländischem Akzent oder ausländischer Erscheinung anpöbeln. Fremdenfeindlichkeit beschränkt sich jedoch nicht nur auf öffentliche Plätze und sichtbare Vorfälle. So gibt es kaum Statistiken zu dem gutbürgerlichen Geschäftsinhaber, der keine polnischen Arbeiterinnen oder Arbeiter anstellen möchte, oder zu der Cafébesitzerin, die sich weigert, einen indischen Kunden zu bedienen. Und doch gibt es viele Einzelbeispiele, die darauf hindeuten, dass sich solche Vorfälle täglich ereignen.
Gab es auch britische Staatsangehörige mit Migrationshintergrund, die für den Brexit gestimmt haben? Und wenn ja, warum?
Eine der Eigentümlichkeiten des EU-Referendums war die hohe Zahl an schwarzen und asiatischen Briten, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Manche befürchten, von den osteuropäischen Migranten verdrängt zu werden, die sich in jüngster Zeit niedergelassen haben. Vor dem Referendum wurden an die Besucher der East-London-Moschee in Whitechapel Flyer verteilt und E-Mails verschickt, in denen Muslime aufgefordert wurden, für den Austritt aus der EU zu stimmen, um „sicherzustellen, dass die örtlichen osteuropäischen Gemeinschaften von Christen und Katholiken nicht noch stärker werden“. Viele haben eingeräumt, dieser entzweienden Rhetorik nachgegeben zu haben und es nun zu bereuen.
Wie steht die Regierung zu den Menschenrechten?
Den Behörden scheint die Zunahme von Rassismus ernsthaft Kopfzerbrechen zu bereiten. Der neue muslimische Bürgermeister von London hat eine Nulltoleranzpolitik gegen jeden Versuch der gesellschaftlichen Spaltung verkündet, und laut Polizeibehörde von Greater London hat sich die Anzahl der Festnahmen für hate crimes – Verbrechen aus rassistischen Motiven – seit dem Referendum um 75 Prozent erhöht.
Doch schlussendlich basiert der Schutz vor Hassverbrechen im heutigen Großbritannien auf dem existierenden Menschenrechtsrahmen: dem Schutz der Menschenwürde und der Gleichbehandlung aller. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist der Schutz dieser Rechte jedoch möglicherweise gefährdet.
Was mir Sorgen bereitet, ist dass einige Brexit-Befürworter in der Politik sogar die Idee vorgebracht haben, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den Rücken zu kehren. Allerdings wären solche Schritte mit sehr komplexen Prozessen verbunden und würden bei dem Teil der Bevölkerung, der diese Schutzgarantien für nicht verhandelbar hält, auf heftigen Widerstand treffen.
Gibt es soziale Kräfte oder Bewegungen zum Schutz der Migranten?
In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Demonstrationen gegen den Brexit und die damit einhergehende fremdenfeindliche Rhetorik. Dieser Widerstand wird hauptsächlich von den „Millennials“ angeführt, der jungen Generation. Junge Leute engagieren sich jetzt stärker politisch.
Wie haben Sie abgestimmt: für oder gegen den Brexit?
Ich habe für den Verbleib in der EU gestimmt, weil mein geliebtes Großbritannien ein weltoffenes Land ist. Ich bin in Großbritannien geboren und afrikanischer Abstammung. Meine Adoptiveltern sind weiß und britisch. Ich war mit Kindern aus Frankreich, Schweden, Deutschland und Indien in der Schule. Jetzt, als Erwachsener, habe ich Freunde in London, die aus aller Welt kommen. Das ist das Großbritannien, mit dem ich mich identifiziere, denn ich bin der Überzeugung, dass Diversität unser Land besser, stärker, sicherer und reicher macht. Und unsere Mitgliedschaft in der EU ist dafür unerlässlich.
Wirkt sich der Brexit-Prozess auch auf Ihr Leben und Ihre Arbeit als Journalist aus?
Die Brexit-Entscheidung hat mich dazu angespornt, noch mehr als vorher mit der Kamera aufzuzeigen, wie stark das persönliche Leben der Menschen von der Politik bestimmt wird. Und zu unterstreichen, wie sehr die politischen Entscheidungen, die uns oft so fern erscheinen, im ganz alltäglichen Leben große Furcht oder bestimmte Machtstrukturen hervorbringen können.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal