Zu seinem 70. Jubiläum blickt das traditionsreiche Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg nicht nur zurück auf seine Geschichte, sondern wagt gemäß seinem Anspruch auch einen Blick in die Zukunft des Kinos. Mit bereits etablierten Reihen, einem Sonderprogramm sowie diversen Ehrungen feiern der seit letztem Jahr amtierende Festivalleiter Sascha Keilholz und sein kreatives Team zugleich die Rückkehr in die Lichtspielhäuser der beiden Städte.
* * *
Wolfgang Nierlin: In diesem Jahr feiert das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass widmet sich die Retrospektive unter dem Titel „Umbrüche und Wendepunkte“ der Geschichte des Festivals. Wie kam die Filmauswahl zustande und worauf liegt ihr Schwerpunkt?
Sascha Keilholz: Die Retrospektive ist das Herzstück des Jubiläums. Wenn man sich damit beschäftigt, was im Verlauf von 70 Jahren gezeigt wurde, bekommt man eine Dimension von dieser Tradition. An diese Geschichte sind wir mit der größtmöglichen Offenheit herangegangen. Auf der einen Seite haben wir eine Liste gemacht mit Filmen, die wir kannten und die uns relevant erschienen; andererseits sind wir völlig blind abgestiegen in die Tiefen der Datenbanken. Außerdem haben wir mit Leuten gesprochen, die das Festival gut kennen. Wir haben also aus ganz unterschiedlichen Quellen eine Vorauswahl generiert. Es gab aber auch Zufälle. Ein solcher hat uns beispielsweise zu dem portugiesischen Film „The Movement of Things“ geführt, der gerade restauriert wurde. In dieser Vorauswahl haben wir dann nach Strukturen gesucht. Dabei haben wir bemerkt, dass die Festivalfilme immer sehr nah an der politischen Gegenwart der Zeit und der jeweiligen Länder waren. Die Filme funktionieren deshalb als Seismografen, sie zeigen Sollbruchstellen. So kam schließlich die Retrospektive mit dem Titel „Umbrüche und Wendepunkte“ zustande. Daraus folgte aber auch eine zeitliche Beschränkung. Denn natürlich konnten wir über diesen langen Zeitraum keinen repräsentativen Querschnitt programmieren. Die Auswahl endet deshalb mit Volker Koepps kurz vor der Wende entstandenem Film „Märkische Ziegel“ und damit kurz vor dem Beginn des postmodernen Kinos der 1990er Jahre.
Neben der Retrospektive wartet das Festival außerdem mit einem speziellen Jubiläumsprogramm auf. In diesem sind beispielsweise Filme aus anderen Festivalstädten zu sehen. Was macht diese besonders?
Die Idee dazu ist im vergangenen Jahr während der Pandemie gewachsen, als sich sehr viele internationale Netzwerke gebildet haben und Festivals zwangsläufig online stattfinden mussten. Dabei wurde auch der Austausch intensiviert. Als Teil der Kinokultur kooperieren wir sowohl mit Kinos als auch mit andern Festivals. Und diese Zusammenarbeit sollte besonders bei einem Jubiläum sichtbar werden. Bei der Auswahl der Festivals spielten persönliche Vorlieben eine Rolle. Wir wollten aber auch solche präsentieren, die nicht so bekannt sind, die sich von anderen unterscheiden oder aber aufgrund ihrer Spezialisierung ein internationales Renommee besitzen, wie etwa das weltweit bedeutendste Festival des fantastischen Films in Sitges.
Anlässlich des Jubiläums werden mit dem neu eingerichteten Preis „Grand IFFMH Award“ außerdem Andrea Arnold und Guillaume Nicloux gewürdigt. Was macht diese zu „zwei der eindrücklichsten Filmemacher/innen der Gegenwart“?
Oscargewinnerin Andrea Arnold ist ein Name in der Branche. Sie hat in Hollywood mit „Big Little Lies“ eine sehr populäre Serie gemacht und dabei mit Stars wie Nicole Kidman gearbeitet. Bislang umfasst ihr eher schmales Œuvre vier unglaublich beeindruckende Spielfilme und den nicht minder beeindruckenden Dokumentarfilm „Cow“. Als wir diesen in Cannes gesehen haben, wussten wir, dass wir die britische Regisseurin einladen wollten. Guillaume Nicloux wiederum ist ein Filmemacher, mit dem ich mich schon sehr lange beschäftige und dessen Filme zwar auf den großen Festivals laufen, hierzulande aber eher selten ins Kino kommen. Wir dachten deshalb, dass es höchste Zeit ist für ein deutsches Festival, ihn auf ein Podest zu heben. Nicloux macht nicht nur klassisches Arthouse-Kino, sondern ist sehr vielfältig, spielt mit Genre-Elementen und hat eine große Kraft und Intensität, die es zu entdecken lohnt. Arnold und Nicloux sind beide sehr unkonventionell und vielfältig und das passt zu uns.
Mit Hommagen an den französischen Altmeister Claude Lelouch sowie an die Kölner Produzentin Bettina Brokemper ehren Sie verdiente Persönlichkeiten des Films. Knüpfen Sie damit auch an den früheren „Master of Cinema“ an?
In der Postmoderne erfindet man ja nicht alles neu. Gerade das Jubiläum hat uns nicht nur veranlasst, in das virtuelle Filmarchiv zu schauen, sondern uns auch zu fragen, was das Festival in der Vergangenheit stark gemacht hat. Und insofern wollen wir sowohl mit der Retrospektive als auch mit den Hommagen die Tradition wieder aufleben lassen, Filmschaffende zu ehren, die auf eine lange, erfolgreiche Karriere zurückblicken können. Das entspricht im Grunde einem Life Achievement Award für das Lebenswerk. Dabei war es uns auch wichtig, nicht nur Männer, sondern auch das Filmschaffen von Frauen zu würdigen, und zwar nicht nur im Bereich der Regie, sondern auch in demjenigen der Produktion.
Was erwartet das Publikum in diesem Jahr in den beiden Hauptsektionen „On the Rise“ und „Pushing the Boundaries“?
Ich glaube, dass der Wettbewerb „On the Rise“ ganz großartige Talente zutage fördert. Darunter befinden sich viele Debütfilme von Regisseurinnen und Regisseuren aus der ganzen Welt, von denen wir in Zukunft noch sehr viel hören werden. Ihre Werke zeigen eine große Formenvielfalt und visuelle Originalität. Sie decken damit auch die ganze Bandbreite des Kinos ab und blicken zugleich in seine Zukunft. Die Sektion „Pushing the Boundaries“ wiederum zeigt, was formal-ästhetisch im Moment alles möglich ist. Die Spannbreite reicht hier vom politischen und selbstreflexiven Kino bis zur Dokufiktion und dem Actionfilm. Hier kann man auch verfolgen, wie sich Filmemacher, die man vielleicht schon kennt, weiterentwickelt haben.
Nachdem im vergangenen Jahr aufgrund der Corona-Pandemie leider nur ein Online-Festival möglich war, werden die Filme in diesem Jahr unter den gültigen Hygieneregeln in angestammten Heidelberger und Mannheimer Kinos gezeigt. Wie groß ist die Vorfreude?
Natürlich ist das jetzt aufregend für unser Team, das zweieinhalb Jahre die Rückkehr in die Kinos vorbereitet hat; aber auch für die Kinos, hinter denen eine ganz schwere Zeit liegt und für die das jetzt ebenso neu ist. Ganz viel Neues ist natürlich auch fehleranfällig. Aber man kann nur progressiv sein, wenn man Sachen ausprobiert und mit Mut macht. Und wir haben jetzt den Mut gefasst, in all diese Kinos beider Städte zu gehen. Wir verstehen das als sehr breites Angebot an die Stadtgesellschaften und hoffen, dass sie das wahrnehmen. Wir und die Kinos freuen uns wahnsinnig, diese Filme auf großen Leinwänden in professionellen Kinos zeigen zu können und damit zu sagen: Kino ist ganz wichtig.