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Annette

(FR/BE/DE/US 2021, Regie: Leos Carax)

Nicht von dieser Welt
von Wolfgang Nierlin

Während kurze Stromunterbrechungen für Bild- und Tonstörungen sorgen, formieren sich Schauspieler und Musiker für ihren Auftritt. Derweil taucht Leos Carax, der mit dem Rücken zum Zuschauer an einem Mischpult sitzt, …

Während kurze Stromunterbrechungen für Bild- und Tonstörungen sorgen, formieren sich Schauspieler und Musiker für ihren Auftritt. Derweil taucht Leos Carax, der mit dem Rücken zum Zuschauer an einem Mischpult sitzt, aus der Unschärfe des Bildes auf. Noch tut der Film des französischen Meisterregisseurs so, als würde die Fiktion mit der angekündigten Show erst noch beginnen. Aber die Grenzen zwischen filmischer Realität und phantasievoller Fabel, zwischen Raum und Zeit, zwischen gesprochenem und gesungenem Wort sind in Carax‘ ebenso magischem wie exzessivem Musical „Annette“ aufgehoben.

Orchestriert und strukturiert von der Musik des amerikanischen Avantgarde-Pop-Duos Sparks, entfaltet der Film einen visuellen Rausch aus Farben und Licht. Im artifiziellen, opulent ausgestatteten Setting dieses überbordenden Films wird jeder Raum zur Bühne, die dann von den Helden mit dem ersten rockigen Song in einer langen, soghaften Plansequenz, aufgenommen von der renommierten Bildgestalterin Caroline Champetier, betreten wird: „Es ist Zeit, anzufangen.“

Was dann atemlos beginnt, parallel choreografiert und motivisch gegeneinander gesetzt, ist die Liebesgeschichte zwischen dem Stand-up-Comedian Henry McHenry (Adam Driver), der sich „Der Affe Gottes“ nennt, und der gefeierten Opernsängerin Ann Defrasnoux (Marion Cotillard), die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befindet. Während sie theatralische Tode stirbt, unterhält und „rettet“ der Provokateur im Bademantel seine Zuschauer mit sardonischem Lachen. Mit einem solchen bringt Ann schließlich als Frucht ihrer Liebe zu Henry, dabei medienwirksam begleitet, ein Kind zur Welt, von dem es heißt, es sei nicht von dieser Welt. Die wundersame Titelheldin Annette ähnelt nämlich in ihrem Aussehen und mit ihren mechanischen Bewegungen eher einer Puppe als einem lebendigen Menschen. Trotzdem wird sie irgendwann später, beseelt vom Geist ihrer toten Mutter, zum weltweit abgöttisch verehrten Baby-Star.

Doch bis es zu dieser Geistergeschichte mit messianischen Zügen kommt, erzählt Leos Carax vor allem vom Scheitern eines von der Medien-Öffentlichkeit umlagerten Künstlers an sich und an der Liebe. Von Frauen der Übergriffigkeit bezichtigt, liebeskrank und vom Publikum geschmäht, stürzt Henry ab, wird zum gefallenen Clown und verzweifelten Mörder. Zwischen elaboriertem Kitsch und hoher Kunst, deren spannungsarme Geschichte sich fast vollständig aus der Musik und der starken körperlichen Performance der Figuren im Tanz entwickelt, inszeniert Carax nicht ohne Selbstbezug die Identitätskrise eines Mannes, der dem schönen Schein und den an ihn herangetragenen Erwartungen radikal abschwört. Wo sich Sein und Schein unablässig vermischen, geht nicht nur die Wahrheit (der Kunst), sondern auch die Liebe verloren; wo Kommerz die Kunst dominiert, bleibt dem ungeliebten Künstler, so scheint es, nur noch die unfreiwillige beziehungsweise zwangsläufige Isolation.