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Gunda

(NO/US 2020, Regie: Victor Kossakovsky)

Aus dem Leben der Tiere
von Wolfgang Nierlin

Die aus einer Bretterwand geschnittene rechteckige Öffnung ist wie ein zweiter Rahmen innerhalb des Bildrahmens. Minutenlang und sehr geduldig verharrt der Kamerablick auf dieser schwarzen Tür, die zum Guckloch und …

Die aus einer Bretterwand geschnittene rechteckige Öffnung ist wie ein zweiter Rahmen innerhalb des Bildrahmens. Minutenlang und sehr geduldig verharrt der Kamerablick auf dieser schwarzen Tür, die zum Guckloch und zur Bühne wird. Hier beginnt und endet Victor Kossakovskys Schwarzweißfilm „Gunda“, der in gleich mehrfacher Hinsicht an die Anfänge des Kinos erinnert. Denn neben seiner Ästhetik aus Licht und Schatten kommt er auch ganz ohne Worte und Kommentare aus. Nur die Tiere und die Geräusche der Natur „sprechen“.

Außerdem etabliert der russische Filmkünstler in seinem außergewöhnlichen Dokumentarfilm über eine Schweinefamilie, ein paar Hühner und etliche Kühe eine Poesie des Zeigens und Beobachtens, die sehr konzentriert und mit reduzierter „Handlung“ dem Zuschauer erlaubt, sich entlang der Bilder eine „eigene“ Geschichte zu erzählen. Insofern ist Kossakovskys Film reines Kino.

Bald zeigt sich die Titelheldin und Hauptdarstellerin Gunda in der Türöffnung zum Stall. Nach und nach wird das grunzende und knurrende Muttertier von zahlreichen quiekenden Schweinchen belagert, die gierig an den Zitzen ihrer Mutter saugen. Das beeindruckende, für Gunda sicherlich strapaziöse Schauspiel wird sich im Lauf der Zeit mehrmals wiederholen, wobei die Kämpfe um die Nahrung immer ruppiger werden.

Manchmal döst die Ferkelschar aber einfach nur in der Sonne, während sich ihre Mutter in einem Schlammloch suhlt. Für einmal sehen wir nämlich eine Schweinefamilie, die unter natürlichen Bedingungen lebt und die sich frei bewegen kann zwischen einem mit Stroh ausgelegten Stall und einem weitläufigen Außengelände, das von Bäumen begrenzt wird und vielfältige Erkundungsmöglichkeiten besitzt.

Victor Kossakovsky geht es allerdings nicht um die Beschreibung einer perfekten Idylle oder gar einer heilen Tierwelt. Das zeigen nicht nur die Bilder versehrter Hühner, alter Kühe oder auch das stetige Gerangel der Tiere bei der Nahrungsaufnahme. Vielmehr vermittelt der Film sehr anschaulich Einblicke in das Leben und die Verhaltensweisen unserer tierischen Mitgeschöpfe. Er portraitiert sie als fühlende Wesen, ausgestattet mit einer eigenen Wahrnehmung zur Erkundung der Welt, mit eigenen Empfindungen und einem kommunikativen Austausch innerhalb der Spezies, der sich auch auf die Umgebung und wechselnde Wetterverhältnisse bezieht.

In einer Zeit, in der durch unwürdige und klimaschädliche Massentierhaltung tierische Lebewesen zu puren Fleischlieferanten degradiert werden, erhebt dieser stille Film ebenso nachdrücklich wie gewichtig Einspruch.