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90%

(DE 2020, Regie: Jerry Hoffmann)

Sexy Anorexia
von Ricardo Brunn

Jean (Simon Frühwirth) denkt permanent ans Essen – etwa 90% der Zeit. Nur geht es ihm nicht darum möglichst viele leckere Speisen zu verdrücken, sondern genau darum dies zu vermeiden. …

Jean (Simon Frühwirth) denkt permanent ans Essen – etwa 90% der Zeit. Nur geht es ihm nicht darum möglichst viele leckere Speisen zu verdrücken, sondern genau darum dies zu vermeiden. Jean möchte dünn sein. Vor dem Abendessen trainiert er deshalb wie besessen in seinem Zimmer. Anschließend formt er am Esstisch mit der Gabel lustlos ein Gesicht aus Möhren, Erbsen und Kartoffelbrei. Und während Mutter voller Kummer auf ihren Sohn blickt, platzt dem Vater aus Ratlosigkeit der Kragen. Auch die Ärztin in der Klinik macht sich große Sorgen: Jean solle umkehren solange es noch ginge, denn sein Body Mass Index läge mittlerweile bei 17. Für den Jungen klingt das allerdings eher wie eine Ermunterung, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Da tritt die selbstbewusste Lili (Lili Epply) auf dem Krankenhausflur in Jeans Leben und fragt frei heraus, ob Jean mit ihr abhängen wolle. Der willigt ein und wenige Minuten später sitzt das Pärchen mit Susi-und-Strolch-Spaghetti am Essenstisch in Lilys Haus. Jean sträubt sich, bis Lili ihm ein Angebot macht: Wenn er aufisst, gibt‘s Sex. Und siehe da, der Junge kann reinhauen wie Terrence Hill in seinen besten Filmen.

Jerry Hoffmann unternimmt in „90%“ den Versuch eine Geschichte zu erzählen, die in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorkommt: Weil sie als „typische Frauenkrankheit“ gilt, wird Anorexie bei Männern und Jungen oft zu spät oder gar nicht als solche entdeckt. Marginalisierung oder Bagatellisierung sind auch in Ratgebern zum Thema Gang und Gäbe, wenn zum Beispiel das Bildmaterial nur Frauen oder Mädchen zeigt. Doch etwa jeder zehnte Betroffene von Magersucht ist deutschlandweit ein Mann. Die Gründe für die Krankheit sind vielfältig und können mit dem Stellenwert des Körpers in der Gesellschaft, Geschlechtererwartungen und gängigen Schönheitsidealen zusammenhängen, die jeweils für sich oder in Verbindung Druck auf junge Erwachsene ausüben. Der Weg aus einer Essstörung ist folglich oft alles andere als einfach. Hier setzt Hoffmann mit seinem Film an: Er möchte zeigen, wie wichtig es ist, geliebt und als das angenommen zu werden, was man ist. Nur entgleitet ihm sein Film mit jeder Minute und die schöne Absicht gebiert ihre ganz eigenen Monster.

Bereits auf der Ebene der Erzählung drängt sich nämlich eine sehr unangenehme Lesart des Filmes auf, die in der hanebüchenen Verkürzung der Behandlung einer Krankheit liegt. Nicht nur, dass zu keinem Zeitpunkt das Gefühl aufkommt, dass Jean überhaupt ein ernstzunehmendes Problem hat, weil außer ein paar Sit-Ups, bedrückt ins Leere starren und Mit-der-Gabel-im-Essen-Herumstochern abgegriffene Bilder zur Illustration eines Zustands verwendet werden, die eine dreidimensionalen Vorstellung der Figur, ihrer Lebensumstände und damit Glaubwürdigkeit sowie Ernsthaftigkeit kaum zulassen. Es stellt sich darüber hinaus sehr schnell die Frage, warum der Filmemacher seinen Figuren keine andere Möglichkeit gibt zueinander zu finden und die Einstellung Jeans zu seinem Körper zu verändern, als mit der Aussicht auf den Geschlechtsakt. „90%“ versäumt es nahezu gänzlich sich des Erforschens des Gegenübers mit Berührungen, der Angst vor dem Sich-Zeigen und in all seiner Verletzlichkeit Offenbarens oder des Stellenwerts der Sexualität, die gern verweigert wird oder aufgrund veränderter Hormonhaushalte bei anorektischen Menschen eine untergeordnete Rolle spielt, anzunehmen. Lieber reduziert der Film Jean auf ein billiges Reiz-Reaktions-Schema, weshalb es schwer fällt, die vom Regisseur in Interviews proklamierte Interpretation, dass es in „90%“ um den Wunsch ginge der Scham zu begegnen und von einem Gegenüber angenommen zu werden, im Film zu finden.

Ganz im Gegenteil fußt die Prämisse dieses Filmes auf einem hoffnungslos überholten Verständnis der Genderrollen: Der Mann ist in „90%“ schüchtern und hat ein Problem, die Frau löst es und zwar mit ihrem Körper. Es ist ein altbekanntes Muster, in dem männliche, heterosexuelle Teenager von Frauen träumen, die es faustdick hinter den Ohren haben und freimütig, ohne weiteres Kennenlernen, ihren Körper zum Sex anbieten. Und wie viele Filme, in denen selbstbewusste Frauen schüchterne oder jugendlich übermütige Helden mit ihren Körpern zähmen, gibt es in der Filmgeschichte? Nach wie vor eindeutig zu viele. Als Gegenthese ließe sich in den Raum stellen, dass es in „90%“ nicht um eine Essstörung, sondern um die Angst des Mannes vor der (weiblichen) Sexualität geht. Er will sich dieser nicht stellen, er will sie bekommen; gratis und ohne fragen zu müssen. Willkommen im Gestern.

Flankiert wird diese Lesart durch die Inszenierung Lilis. Sie ist nichts weiter als die abgedroschene Schablone einer kurvigen, vitalen und selbstbewussten „Powerfrau“ mit vollen Lippen und laszivem Blick, die sich Jean geradezu aufdrängt. Dass Lili selbst ein Problem zu haben scheint – wie es an einer Stelle mit Verweis auf eine Psychotherapie angedeutet und nicht weiterverfolgt wird – ist irgendwie egal, denn es geht in „90%“ eben nicht um eine Krankheit oder den Aufbau einer liebevollen Beziehung zwischen Menschen. Noch ein wenig unangenehmer wird es, wenn man in Betracht zieht, dass in schöner Regelmäßigkeit Studien für Schlagzeilen herhalten müssen, nach denen kräftige Frauen für hungrige oder gestresste Männer besonders interessant seien, und dieses Klischee in „90%“ einhundertprozentig breitgetreten wird.

Zur Reduktion der Figuren auf ihre (Körper)Funktionen passt, dass sich „90%“ in ästhetischer Hinsicht den oberflächlichen Eindeutigkeiten aussagekräftiger Werbebilder verschreibt: visuelle Effekte im Stile der 90er Jahre, knallige Beleuchtung, weil Neon gerade wieder in ist, erwartbare Zeitlupe beim Tanzen und Herumtollen, eine Betonung des Schnitts und Stangenelektropop, den die Chefetage einer Versicherung oder einer Brauerei sicherlich mit dem Attribut fresh beschreiben würde. Subtil ist da kaum etwas. Auch Platz für Widersprüche, Ängste und Unsicherheiten, die Essstörungen begleiten können, gibt es kaum. An einer Stelle redet Jean von Selbstbeherrschung, aber Bilder findet der Film dafür keine. Einzig Jeans Tanz in Frauenkleidern, der die Abgrenzungstendenzen von allem Weiblichen auf der Suche nach männlicher Identität als Element anorektischen Verhaltens aufgreift, bezeugt Auseinandersetzung mit dem gewählten Thema.

Der Film ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut gemeint und gut gemacht auseinanderdriften und wie schnell notwendige Reduktion in Reduktionismus umschlagen können. Leider ist er auch ein Beispiel dafür, das Filmfestivals gern einmal auf das Gutgemeinte hereinfallen und solche Filme in ihren Wettbewerben platzieren. „90%“ ist an der Hamburg Media School (HMS) entstanden und es ist auffällig, wie viele Filme dort thematisch wie künstlerisch in dieselbe Kerbe schlagen. Mit „Stand Up“ (R: Shahab Habibi), „Herbst“ (R: Greta C. Benkelmann), „Aus den Fugen“ (R: Wiebke Becker), „Unter Menschen“ (R: Caren Wuhrer) und auch Jerry Hoffmanns zweitem Kurzfilm „Mall“ widmen sich mehrere Werke aus den letzten etwa eineinhalb Jahren gesellschaftlich relevanten Themen wie Demenz, Anorexie, Rassismus und Pädophilie auf die gleiche Art und Weise: Die Filme zeichnet ein reduktionistischer Hang zur Eindeutigkeit in den Dialogen und der Bildsprache aus, was wiederum die auf kurzfristige Wirksamkeit hin angelegten Absichten offenbart. Einer ernsthaften Auseinandersetzung in der verdichteten Form des Kurzfilmes verweigern sich diese Filme gänzlich. Hier werden Schlagworte checklistenartig bearbeitet wie für die, noch schnell am Vorabend zusammengeschusterte, Ethik-Powerpoint-Präsentation einer 8. Klasse. Das passt zu einer Filmhochschule, deren Geschäftsführerin Katharina Schäfer bei der Verleihung des Deutschen Kurzfilmpreises 2019 selbstbewusst verkündete: „Die Generation Z guckt fast 60 Videos am Tag, da ist der Kurzfilm genau das richtige Medium“ und mit solch einer Aussage verkennt, dass Kurzfilme Geschichten eben anders erzählen als die Formate der Sozialen Medien. In Kurzfilmkreisen hat sich die HMS deshalb schon einen gewissen Ruf erarbeitet. Will man diesen auch in Zukunft erhalten, lohnt es sich in jedem Fall, weiterhin übermotiviert ehrgeizige Relevanzfilme voller 08/15-Weisheiten unter dem Oberbegriff Diversität auf den Filmfestivalmarkt zu werfen.