Der diesjährige Amnesty-Filmpreis bei den Berliner Filmfestspielen ging an den mexikanischen Regisseur Everardo González für seinen Dokumentarfilm „La libertad del diablo“.
„Meinen ersten Mord habe ich im Alter von 14 Jahren verübt. Ich hatte meine Schuluniform dabei an.“
Ein junger Mexikaner, Berufsbild Auftragsmörder, aus der Gegend um Ciudad Juárez, erzählt von seinem Alltag. Einem Arbeitsalltag im Drogenkrieg. Er tut dies in Everardo González‘ Berlinale-Film „La libertad del diablo“ (MEX 2017).
Wenn es dieses Jahr einen heftigen Film auf den Berliner Filmfestspielen im Februar zu sehen gab, dann war es dieser. González, mexikanischer Regisseur, Produzent und Kameramann, ist eine der wichtigsten Stimmen unter den lateinamerikanischen Dokumentarfilmern. Bei seinem neuesten Werk hat sich der Teufel in der Tat alle Freiheiten genommen – und der Zuschauer ist gefordert darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, ihm diese wieder zu nehmen.
Der Film handelt vom Krieg mexikanischer Drogenbanden, von bezahlten Mördern, von Geldeintreibern und ihren Opfern. Die Drogenkriminalität und ihre Bekämpfung gleichen einem Bürgerkrieg, der in den vergangenen fünf Jahren um die 100.000 Tote gefordert hat. Da sind die Kollateralschäden noch nicht dabei. Um die aber geht es González: Er lässt die Angehörigen zu Wort kommen – ebenso wie die Täter. Denn Statistiken bleiben abstrakt, über schreckliche Nachrichten regt sich in Mexiko kaum noch jemand auf. González will die Geschichten hinter den Zahlen erlebbar machen. Vor seiner Kamera, so die Idee, können Opfer und Täter ihre Gefühle aussprechen, ohne Wertung, nach dem Prinzip einer Wahrheitskommission.
Damit sie vor Verfolgung und Rache halbwegs geschützt sind, tragen Täter wie Opfer Stoffmasken. Die Erzählungen werden spärlich von Alltagsszenen illustriert: Männer posieren mit Waffen, eine Fahrt durch die Wüste.
Vielen mag dieser Film im allgemeinen Festivalgewusel entgangen sein, er lief in der eher unbedeutenden Festival-Sektion „Berlinale-Spezial“. Dabei hätte er durchaus in den Wettbewerb gehört, zumal er in Berlin Weltpremiere hatte. Denn nicht nur die Interviews mit den Protagonisten sind beeindruckend, sondern auch die Art, wie der Film gemacht ist. Mit der Maskierung wird auch ein komplexes Drama inszeniert. Dass die Täter zu Wort kommen, ist schwer auszuhalten, soll aber den Angehörigen ermöglichen, mit den grässlichen Folgen der Taten abzuschließen, gleichsam Vergebung durch Trauer zu ermöglichen.
Darüber hinaus sorgte der Film schlichtweg für die eindrucksvollste Filmszene der Berlinale: Als eine Mutter erzählt, wie ihre Kinder hingerichtet wurden, beginnt sie zu weinen. Unter den Augen beginnt sich der dünne Stoff durch die Tränen dunkel zu färben. Auch bei anderen passiert das, während sie von den Gräueltaten berichten. Ein Bild, das den Film in aller Schrecklichkeit strukturiert. „La libertad del diablo“ lässt so manchen Zuschauer schockiert im Kinosessel zurück. Ein radikaler Film, der nicht zu Ende ist, wenn das Licht angeht. Und er ist auch nicht mit der üblichen Kinoware vergleichbar.
Dabei ist es nicht das erste Mal, das Regisseure auf solch grausame Weise verknüpfte Schicksale auf die Leinwand bringen. Da gibt es Claude Lanzmanns „Shoah“, in dem Beteiligte die Geschehnisse des Holocausts im Interview schildern. Auch Lanzmann arbeitet ohne Archivbilder. Oder Joshua Oppenheimer, der Opfer und Massenmörder – die der indonesischen Militärjunta – inszenierte.
Nur, dass die Ereignisse in „La libertad del diablo“ in der Gegenwart stattfinden, jetzt, in dieser Minute. Andere sehr starke Beiträge, die nominiert waren, wie „Maman Colonelle“ (COD/FRA 2017) über eine kongolesische Polizistin und „I Am Not Your Negro“ (F/US/BEL/CH 2016) über den US-Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin, wirken dagegen beinahe konventionell.
Was in den Tätern vorgeht, weiß in der Tat wohl der Teufel am besten. Wenn man die Menschen, die es zu töten gilt, nicht persönlich kenne, dann störe einen die Tat selbst nicht sonderlich, sagt ein Mörder lapidar. Wenn Mord eine Alltagsverrichtung ist, lebt man damit. Wobei: „Kinder töten fällt schwer. Das tut schon weh“, sagt ein Bandenmitglied. Aber den Audi A4 vor der Tür zu haben, das wäre schon cool. Und es sei ein gutes Gefühl, wenn die Leute aus Angst vor einem weglaufen, heißt es ein anderes Mal. Demgegenüber stehen die Aussagen der Opfer. Eine Mutter berichtet, wie sie mit den Tätern verhandelt habe, sie mögen ihre Kinder in Frieden lassen. Aber die hatten anderes im Sinn. Sie erzählt, wie sie später die Knochen der Opfer ausgegraben habe und die Turnschuhe ihrer Kinder wiedererkannt habe. Immer wieder kommt es zu Pausen, die Betroffenen müssen sich sammeln.
Und wieder wechselt die Perspektive. Kinder im Micky-Maus-T-Shirt, ebenfalls mit Masken, fordern angemessene Rache, sie wollen, dass die Täter ebenso behandelt werden wie die Opfer. Die Kinder wollen ihren Tod. Und die Polizisten, die sich in González‘ Film äußern, sagen, schon der Selbstschutz gebiete, festgenommene Täter umgehend zu liquidieren, sonst hätte man später selbst das Nachsehen. Hier spricht eine Gesellschaft vor der Gesellschaft; als gebe es außer Mord und Totschlag keine Geschäftsgrundlage für ein Leben, das kein Zusammenleben erlaubt. Killer wie Polizisten haben zuweilen dieselbe Erklärung: Sie würden „Befehle“ befolgen. Hier haben sich alle schon ein bisschen mit den Umständen arrangiert. Wer immer auch zu Wort kommt: Bald fragt sich der Zuschauer, was in diesem Gebiet der Erde bloß passiert sein mag.
Die diesjährige Jury des mit 5.000 Euro dotierten Amnesty International-Filmpreises war von „La libertad del diablo“ überzeugt. „Schonungslos schildert Regisseur Everardo González das unermessliche Grauen, indem er Opfer und Täter gleichermaßen zu Wort kommen lässt‘, sagte der Regisseur Oliver Hirschbiegel bei der Verleihung des Preises im Namen der Jury, der neben ihm Schauspielerin Aylin Tezel und Anne-Catherine Paulisch von Amnesty International angehörten. Mit großem Respekt zeige der Filmemacher ihren Schmerz und ihre Verletzungen, ohne zu werten, zu kommentieren und zu belehren. „In intensiven und streng komponierten Bildern entsteht das zutiefst ehrliche und feinfühlige Portrait einer Gesellschaft, in der Angst und tiefe Verunsicherung dominieren, weil Gewalt von allen Seiten kommen kann“, so die Begründung der Jury.
Und dies führt zu einem weiteren Aspekt des Films. Denn González‘ Absicht ist es, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Dies könne aber nur über die Vergebung der Angehörigen geschehen. „Denn Mord bringt Mord hervor“, sagte Jean-Christophe Simon vom zuständigen Weltvertrieb, der den Amnesty-Preis für González entgegennahm. Die Auszeichnung für diesen Film sei besonders wichtig, sagte Simon, weil er für Aufmerksamkeit sorge und so auch eine Schutzfunktion für die Befragten und das Filmteam habe. Denn das Problem sei ja nicht aus der Welt. Die Auswahl der 17 für den Amnesty-Preis nominierten Filme sei großartig gewesen, sagte Aylin Tezel dem Amnesty Journal. „Aber dieser Film ist so ehrlich, man kann sich nicht distanzieren.“ Täter und Opfer seien dermaßen präsent, als sei man selbst im Gespräch mit ihnen.
„Filme können Geschichten und Ereignisse nahebringen, die außerhalb unseres Alltags passieren. Sie können Menschenrechtsverletzungen bekannt machen oder Menschen in den Vordergrund stellen, die sich unter Einsatz ihres Lebens für eine bessere Welt einsetzen und von denen wir sonst nie erfahren würden“, hatte Anne-Catherine Paulisch zu Beginn der Berlinale gesagt. Man könne die Arbeit von Filmschaffenden, die Menschenrechtsthemen auf besondere Weise abbilden und erlebbar machen, unterstützen, „und die Menschen dazu ermutigen, sich für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen“. Einen besseren Preisträger hätte man so gesehen kaum finden können.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal