Am Anfang ist er nur ein Poltern. Auf der anderen Seite der Wand. Dann wird er zu einer Stimme, die der Nachbarin das Fleisch verwehrt, für das sie gerne über den nächtlichen Lärm hinwegsieht. Dann, im Vorspann, ist er nur ein Schatten. Der Schatten eines Mannes mit Hut auf einer roten Backsteinwand der bestimmten, ja, getriebenen Schrittes eine Straßen entlang schreitet, während die Credits zu sehen sind, die deutlich verraten, dass dieser Film ein Projekt von Rainer Werner Fassbinder ist, der nicht nur für die Produktion zuständig war, sondern auch in einer kleinen Rolle als Schwarzmarkthändler zu sehen ist, in der er mit einmal gleich drei Uhren am Handgelenk, einer Kippe im Maul unter dem markigen Schnauzer und einem zu gleichen Teilen protzigen und potthässlichen Anzug beweisen darf, dass er als Darsteller der größte Schmierlappen of them all war.
Fassbinder trat an Ulli Lommel heran, so berichtet letzterer, und sagte ihm, dass er noch einige Hunderttausend Mark an Fördergeldern habe, die er bis Ende des Jahres aufbrauchen müsse und mit denen er die Realisierung eines Drehbuchs von Kurt Raab finanzieren wollte. Lommel erzählt weiter, dass Fassbinder erleichtert war sich nicht um die Regie des Films kümmern zu müssen, und außer an seinen zwei Drehtagen als Schauspieler nicht mehr am Set auftauchte. Gedreht wurde mit der Fassbinder-Entourage, die zu dieser Zeit am Schauspielhaus von Bochum, dem hauptsächlichen Drehort, mit Fassbinder arbeitete. Das gab dem Film die Möglichkeit, quasi für Lau eine Menge zu dieser Zeit bekannte Gesichter zu präsentieren. Es soll, so berichtet Kameramann Jürgen Jürges im Interview, an den ewigen Machtspielchen zwischen Fassbinder und Raab gelegen haben, die eine regelrechte Hassliebe verband, dass die Regie an Lommel übergeben wurde, der hier seinen dritten Film als Regisseur vorlegte, vorher als Schauspieler unter anderem bei Fassbinder und in Thomes „Detektive“ in Erscheinung getreten war und später in die USA ging, um billige Horrorfilme von der Stange zu drehen. Bei der Aufführung als Eröffnungsfilm der Berlinale im Zoopalast vor etwa tausend Zuschauern soll ein damaliger Starkritiker (ja, so etwas gab es 1973 noch), dem etwa die Hälfte des dort versammelten Publikums folgte, bei der ersten Gewaltszene des Films einen Skandal herbeigeschrien haben.
Kurt Raab also, der auch die Hauptrolle übernahm, der homosexuelle Katholik (oder doch: katholische Homosexuelle), hatte sich die Rolle eines Mannes auf den Leib geschrieben, der dazu verdammt ist, immer eine Rolle zu spielen, schon wegen seiner sexuellen Orientierung, von der die Nachbarn alle wissen, über die sie alle sich in eindeutigen Andeutungen ergehen („Fritzchen ist die ideale Hausfrau.“ „Er küsst ja doch nur seine Knaben.“). Die auch, da stellt sich der Film quer zum Stereotyp des gezeigten kleinbürgerlichen Milieus, niemanden stört, solange er nur nicht mit dem Fleisch geizt. Also ist Haarmann, wie die Raab-Figur in Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ nach einer historischen Persönlichkeit heißt, was den Film aber nicht daran hindert, seine Geschichte von den Zwanzigern ins Nachkriegsdeutschland zu verlegen, (Hilfs-)Polizist und (falscher) Priester, der an der Tür im Namen der Caritas um Almosen bittet, um diese dann bei einem algerischen Soldaten (El Hedi Ben Salem) gegen Konserven einzutauschen, Serienkiller, Vampir und nicht zuletzt Fleischer (und zwar einer, der das blutige Treiben der Schlachthoffamilie in Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“ um genau ein Jahr vorweg genommen hat).
Die Rollen, in die dieser Haarmann schlüpft, sind bezeichnend. Er repräsentiert die staatliche Gewalt und die christliche Fürsorge ebenso wie die Versprechungen des Wirtschaftswunders (Fleisch für alle!). Der gesellschaftliche Außenseiter, der schwule Jungenmörder, ist in der kleinbürgerlichen BRD der Fünfziger Jahre, wie sie der Film porträtiert, eine Figur, die direkt dem kollektiven Unbewussten dieser Gesellschaft zu entspringen scheint, in der ihre geheimsten Wünsche und Bedürfnisse (nach Fleisch!) verkörpert werden und in deren Schuld sich die eigene aufzulösen scheint, deren dunkle Geheimnisse die eigenen Leichen im Keller spiegeln. Auch deshalb kann er wohl hier so lange ungestört morden. Wäre da nicht die eine Nachbarin (Margit Carstensen), die ihm (und den vielen jungen Männern, mit denen er sich ständig umgibt, die in einem Fort bei ihm ein-, aber eben oft nicht wieder ausgehen) spinnefeind ist, die der Polizei von dem Krach in der Wohnung berichtet, davon, wie er ständig mit riesigen Paketen die Wohnung verlässt, aber sie nie mit ebensolchen betritt.
In der letzten Einstellung bleiben nur noch Schatten, die eine Straße hinab gehen. Haarmann und die anderen werden eins im Zwielicht. Der historische Serienkiller Haarmann, so erfahren wir von einer Texttafel am Ende, wurde 1925 hingerichtet. Der filmische hingegen wird als Schatten endgültig einer von uns.
Den Film, der trotz seines großen Erfolges an der Kinokasse, wo er 1973 am drittbesten abschnitt, lange Zeit quasi nicht verfügbar war, gibt es bereits seit 2015 von CMV auf DVD und Blu-ray sowie in einem auf tausend Stück limitierten Mediabook mit beiden Formaten. Die Freude an dieser Veröffentlichung, die mit einem dekorativen Booklet und umfangreichen Extras daherkommt und eine regelrechte „Studienausgabe“ bietet, wie sie dieser Film auch verdient hat, wird empfindlich geschmälert durch die Tatsache, dass sie nicht über das richtige Bildformat verfügt, den Film statt in 1,66:1 in 1,78:1 präsentiert, um die Nutzer heute gängiger 16:9-Fernseher nicht mit schwarzen Balken an den Bildrändern zu behelligen. Das mag weniger schlimm sein als das Zurechtschnippeln von Cinemascope-Filmen auf 4:3 zu VHS-Zeiten, wird aber den Möglichkeiten einer Blu-ray absolut nicht gerecht.