La Rinconada in den Anden Perus ist die höchstgelegene Stadt der Erde und zugleich die absurdeste. Weil in einer nahegelegenen Mine Gold entdeckt wurde, kommen Menschen aus dem ganzen Land in den rasant wachsenden Ort. In 5.100 Metern Höhe, wo kein Grashalm und kein Baum mehr wachsen können, führt die Suche nach Gold die Menschen in einen Abgrund, aus dem es nur für die Wenigsten ein Entkommen gibt. Salomé Lamas beginnt ihren Dokumentarfilm „Eldorado XXI“ deshalb mit einer Einstellung, die einen endlosen Strom von Menschen zeigt, der über Geröll und Schotter zum Eingang der Mine und aus ihr heraus fließt. In der Dämmerung, die in mancher Hinsicht den Seelenzustand der Menschen auf dem unbefestigten Weg ins Erdinnere beschreibt, begeben sich die Hoffnungsvollen nach unten und die Erschöpften nach oben. Währenddessen erzählen einige Bewohner und Bewohnerinnen La Rinconadas aus dem Off von ihren Beweggründen in diese Stadt zu ziehen. Sie berichten von der Arbeit, der Gewalt, den Versuchen eine soziale und rechtliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Durchzogen werden diese Berichte von Ausschnitten aus Radiosendungen, Nachrichten, Wahlkampfwerbung. Aus ihnen spricht eine Normalität, die den Alltag an diesem unwirtlichen Ort nur noch fremder erscheinen lassen.
Sehen wird in dieser ersten Einstellung des Filmes zu Arbeit, denn mit mehr als 50 Minuten Dauer umfasst sie beinahe die Hälfte der gesamten Lauflänge von „Eldorado XXI“. Aber anders ist das, was die Menschen in La Rinconada erleben vielleicht auch gar nicht zu fassen. Dreißig Tage lang schuften die Arbeiter ohne jeden Lohn für den Betreiber der Mine, um am einunddreißigsten Tag ein paar Stunden lang zum eigenen Nutzen Gestein in der Hoffnung auf das kostbare Metall abbauen zu können. Es gibt also einen Grund für die Länge dieser ersten Einstellung, die kaum auszuhalten ist, weil sie einem nicht die Möglichkeit gibt, sich einem sanften Fluss der Zeit hinzugeben. Vielmehr zermürbt einen dieses Bild, dessen Ende man herbeisehnt wie das Ende eines langen Arbeitstages. Dementsprechend befreiend ist der erste Schnitt. Bei der Vorführung während der Berlinale 2016 gab es an dieser Stelle heftigen Applaus. Das mag zum einen Ausdruck einer Erleichterung gewesen sein. Im Beifall spiegeln sich aber auch die Unfähigkeit und der Unwille eines saturierten Festivalpublikums, eine Beziehung zwischen dem Inhalt und den künstlerischen Entscheidungen der Regisseurin herzustellen und letztere auszuhalten.
Wer sich diesem unbequemen ersten Teil von „Eldorado XXI“ jedoch hingibt, wird ein selten gewordenes Kinoerlebnis machen, unter dessen hypnotischer Wirkung sich Fragen nach den Bedingungen des Daseins mit jeder Minute ihren steinigen Weg aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche suchen. Denn so sehr sich die Situationen unterscheiden mögen, so ähnlich sind sich hier wie dort die Mechanismen der Selbstausbeutung in der nicht selten illusorischen Hoffnung auf ein besseres Leben. Plötzlich ist die mit der Chance auf Reichtum begründete Selbstausbeutung der Minenarbeiter von unserer eigenen Art Arbeit zu denken keinen Steinwurf entfernt. Die perfide Logik, mit der viele sich unter der Prämisse vermeintlicher Selbstverwirklichung für zu geringen Lohn exploitieren, hohe Überstundenzahlen und unzureichende Altersvorsorge hinnehmen oder die Arbeit in Form des Homeoffices und ständiger Verfügbarkeit in die Privatsphäre eindringen lassen, liegt ebenfalls am Grund dieser nicht enden wollenden Einstellung. Sie führt im schlimmsten Fall auf dem voller Euphorie angetretenen Weg nach oben in die umgekehrte Richtung.
Einen anderen Kurs schlägt Lamas im zweiten Teil von „Eldorado XXI“ ein. Über Montage liefert sie all das nach, was zuvor nur über die Soundcollage zu erschließen gewesen ist. Hier und da können Verbindungen zwischen zuvor Gehörtem und nun zu Sehendem hergestellt werden, doch Stadt und Film bleiben ein unwirtlicher, rauer Ort ohne Protagonisten und ohne kathartische Erzählung. Schnell erschöpfen sich die Bilder auch ganz bewusst in Wiederholungen kokakauender Frauen und erkenntnislosen Blicken in die vom Regen aufgeweichten Straßen der 80.000 Einwohner zählenden Stadt. Dem Glauben an eine bessere Zukunft setzt die Regisseurin die harsche Tristesse und Monotonie des Alltags La Rinconadas entgegen. Und weil die ersten 50 Minuten dem Publikum noch so präsent sind, kann jeder sorgfältig gesetzte Schnitt, jedes neue eindrucksvolle Bild eine ganz eigene Kraft entwickeln, im Versuch einen ökonomischen und gesellschaftlichen Kollaps abzubilden.
„Eldorado XXI“ hat es nicht ins Kino geschafft. Unter der nur noch als obszön zu bezeichnenden Zahl von mehr als 700 in Deutschland gestarteten Filmen war 2016 kein Platz für diesen außergewöhnlichen Film. Er ist auch nicht auf DVD erschienen und derzeit bei keinem VoD-Anbieter verfügbar. „Eldorado XXI“ widerlegt damit die These, dass gute Filme im 21. Jahrhundert dank Digitalisierung und Internet ihre Zuschauer finden. In einer ausschließlich auf Profit und Wachstum ausgelegten und darum immer schnelllebigeren Zeit finden immer häufiger großartige Filme gar kein Publikum mehr; Werke wie „Eldorado XXI“, die belegen, dass die Grenzen filmischer Erzählmöglichkeiten noch immer radikal erweitert werden können.