Helga Anders liegt im Bett, das Gesicht der Kamera zugewandt. Jürgen Jung öffnet die Tür hinter ihr. Sein Oberkörper ist frei, sein Schatten fällt riesenhaft auf die Wand über ihr, die sich schlafend stellt. Die Musik unterstreicht das Unheimliche der Szenerie und etwas unheimlich ist adoleszentes Begehren, um das es hier geht, ja irgendwie immer. Roger Fritz löst diese Szene in einer einzigen Einstellung auf, deren exakte Komposition wie so oft bei diesem Filmemacher seine Herkunft aus der Photographie verrät. Jung verlässt den Raum, geht die Treppe hinab, holt sich bei der älteren Haushälterin Anna in ihrem Zimmer, was er bei Anders (noch) nicht bekommt. Dem begehrenden Blick des Zuschauers wird die Tür vor der Nase zugeschlagen (und Türen und Blicke spielen eine entscheidende Rolle in diesem Film). Eine andere Szene, vielleicht die schönste in diesem an schönen Szenen gewiss nicht armen Film: die tanzenden Schatten von Anders und Jung an einer Betonwand in dem Zementwerk, in dem der Film fast komplett spielt. Ein vorbeigehender Arbeiter zerstört die musicalhaft anmutende Choreographie, indem er sie sehr buchstäblich überschattet.
Zwei Szenen aus „Mädchen, Mädchen“, Roger Fritz‘ Debütfilm, in denen es um Schatten geht und um Spiele. Bevor Andrea (Anders) und der schon dem Namen nach nie ganz aus dem Schatten seines Vaters heraustretende Junior (Jung) zum ersten Mal Sex haben im Wald, knöpft er ihre Bluse auf von oben nach unten, und sie knöpft sie, bevor er noch unten angelangt ist, in der gleichen Richtung wieder zu und so mehrmals hintereinander. Es folgt eine weitere typische Fritz-Einstellung von den beiden, die nun im Zustand postkoitaler Ermattung auf dem Waldboden liegen, mittig, aber ganz klein im Bild, gerahmt durch die Äste der umstehenden Bäume. Dann spielt Andrea mit einem Käfer, der sich in ihrem BH verlaufen hat. Ein Liebesspiel. Die Liebe als Spiel, dessen Einsatz zunächst nur Juniors Begehren ist, das in der beschriebenen Szene als Schatten auf Andrea fällt. Dann ihr gemeinsames, das nur durch einen Dritten ge- wenn nicht zerstört werden kann.
Dieser Dritte, der im Film die längste Zeit eben nur als Schatten, der über der Beziehung der beiden liegt, auftaucht, als langer Schatten, der zu erahnen ist lange bevor die dazugehörige Figur tatsächlich im Bild und im Film auftaucht, ist Juniors Vater Ernst (Helmut Lange). Dieser sitzt zunächst im Knast, weil er sich mit seiner minderjährigen Bediensteten Andrea auf eine Affäre eingelassen hatte (der entsprechende Paragraph aus dem Strafgesetzbuch erscheint zu Beginn als Texteinblendung), diese wiederum saß derweil in einem Heim für Schwererziehbare, aus dem sie in der ersten Szene des Films entlassen wird. Auf dem Weg zu ihren Eltern bleibt sie in Ernsts Fabrik hängen, wo sie sich auf ein stürmisches Abenteuer mit Junior einlässt, der die Geschäfte in Abwesenheit seines Vaters leitet.
Roger Fritz, der in den Siebzigern vor allem als Schauspieler gearbeitet hat, unter anderem bei verschiedenen Werken von Fassbinder und in Peckinpahs „Cross of Iron“ (1977), aber später in den Achtzigern auch in TV-Serien wie „Ein Fall für zwei“ oder der „Lindenstraße“ sowie in einem „Tatort“ zu sehen war, verfügt auch über ein eher überschaubares und bis vor kurzer Zeit beinahe vollkommen vergessenes Regie-Werk. Den Kern dieses Oeuvres bildet die sogenannte „Helga Anders-Trilogie“, drei Filme mit der Schauspielerin, die mit ihrem Schmollmund und den roten Haaren zum Inbegriff der „Kindfrau“ wurde, von 1967-74 mit Fritz verheiratet war und 1986, viel zu früh, im Alter von gerade einmal 38 Jahren von Alkohol und Drogen dahingerafft wurde, die Fritz in den späten Sechzigern schuf. Den Mittelteil, „Häschen in der Grube“ (1969), kenne ich leider mangels Verfügbarkeit immer noch nicht. Nach „Mädchen mit Gewalt“ (1970) liegt nun aber auch „Mädchen, Mädchen“ auf einer vorzüglichen DVD-BD-Edition von Subkultur-Entertainment vor. Fritz ist über die späte Entdeckung seines Regie-Schaffens durch eine überwiegend junge, nachgewachsene Cinephilie sicherlich erfreut, hilft, wo er kann, spricht Audiokommentare mit ein, gibt Interviews für Featurettes und ist im heimatlichen München als Ehrengast bei den immer noch viel zu seltenen Kinovorstellungen seiner Werke zugegen.
Die Parallelen zwischen „Mädchen, Mädchen“ und „Mädchen mit Gewalt“ liegen auf der Hand. Hier wie dort steht Anders zwischen zwei Männern, ist Objekt von Begehren und Begierde in einem Beziehungsdreieck (und von der Unmöglichkeit einer weiblichen Subjektwerdung in patriarchal geprägten Verhältnissen handeln beide Filme mindestens implizit). Die hermetisch abgeschlossenen Schauplätze der Handlung, ein Zementwerk hier, eine verlassenen Kiesgrube dort, tragen in beiden Filmen entscheidend zur Atmosphäre bei, wobei die Tatsache, dass in der Mondlandschaft hier noch emsig gearbeitet wird, während dort, wenige Jahre später, nur noch gespenstische Anlagen davon zeugen, dass hier einst gearbeitet wurde, in ihrer Kontinuität von einer schleichenden Verfallsgeschichte kündet. Im späteren Film macht Fritz einerseits die Räume enger, indem er sein Figurentrio den Hauptschauplatz bis zum Ende nicht verlassen lässt. Andererseits öffnet er seinen Film mit rape aber ohne revenge dem Genrekino der härteren Gangart, ohne doch in diesem jemals ganz aufzugehen. Schließlich ist es keineswegs Zufall, dass der spätere Film die Gewalt bereits im Titel trägt, tritt in der Figurenkonstellation dort doch eine Brutalität hervor, die sich hier subtiler, eher durch den sonderbar variierten und ziemlich gehemmten ödipalen Subtext in der Geschichte Juniors offenbart. Die Geliebte des Vaters, die „Mutter“, die jünger ist als er selbst, verführt er, zum Vatermörder wird er dann im entscheidenden Moment aber doch nicht – und sei es nur, weil der Papa just in diesem Moment einen Helm trägt.
Die ödipalen Energien Juniors finden schon deshalb keine rechte Angriffsfläche, weil Helmut Lange den Vater mitnichten als bösen Patriarchen gibt. Jovial und freundlich trinkt dieser Ernst mit seinen Arbeitern mal ein Bier und die Anziehungskraft, die er einst auf Andrea ausübte, scheint nur allzu verständlich zu sein. Für die politischen Narrative der späten Sechziger, etwa das Aufbegehren der damals jungen Generation gegen das naziverseuchte Establishment ihrer Väter, interessiert sich Fritz nicht die Bohne. Es nimmt wenig wunder, dass das Schaffen von einem, der sich so offensiv zwischen die Stühle setzt, von den ideologischen Grabenkämpfen zwischen „Papas Kino“ auf der einen, dem „Neuen Deutschen Film“ auf der anderen Seite einfach nichts wissen wollte, mit beidem offensichtlich nichts am Hut hatte, lange Jahre so gründlich vergessen wurde.
„Die Jugend“, das sind in „Mädchen Mädchen“ erst einmal die, die (Liebe) spielen, wo andere arbeiten müssen. Am deutlichsten wohl in der Szene, in der die Liebenden von einem Baggerfahrer bespaßt werden, indem er sie auf der Schippe seines schweren Geräts im Kreis durch die Luft drehen lässt. „Die Jugend“, das sind die, die durch Wald und Wiesen, Seen und Betten tollen. Das ist nicht reaktionär, dagegen ist erst einmal nichts zu sagen. Vielmehr schlägt sich die Inszenierung ganz auf die Seite der beiden, tollt die Kamera einfach mit und das, sorry, Tolle daran ist auch, dass Fritz bei aller Genauigkeit in der Komposition vieler seiner Einstellungen niemals eine dogmatische Strenge der Form walten lässt. Handkameras etwa mag dieser Filmemacher, so sagt er im Audiokommentar, eigentlich nicht und doch benutzt er sie, wenn eine Szene, hier die spielerische Verfolgung des jungen Paares durch bekannte Jugendliche in einem Kornfeld, sie als adäquates Mittel erscheinen lassen. Bei all der Verspieltheit des jungen Paares, die sich direkt auf den Film selbst überträgt, macht der Film einerseits durch das kleine Mädchen, deren Spiele im Film immer wieder leitmotivisch zu sehen sind, deutlich, dass schon Kinderspiele über ein gewisses Maß an Grausamkeit verfügen. Andererseits ist das, was Andrea und Junior hauptsächlich bei ihren (Liebes-)Spielen stört, als Einbruch des Wertekanons einer (patriarchalen) Erwachsenenwelt in ihre Beziehung zu werten. Mehrmals bezeichnet Junior Andrea harsch als „Nutte“, wirft ihr vor, zunächst mit seinem Vater geschlafen und ihn anschließend ins Gefängnis gebracht zu haben.
Schwer greifbar bleibt das Ende, an dem eine Tür geschlossen wird, wo zu Beginn, in der ersten Einstellung, eine geöffnet wurde und das Herrenhaus so in assoziative Beziehung zum Heim für Schwererziehbare gestellt wird. Die Haushälterin Anna, die schon durch den Beginn ihres Namens vielleicht auch als Spiegelung Andreas erscheint, auch wenn letztere von Solidarität zu und Fraternisierung mit der älteren vermeintlichen Leidensgenossin nichts wissen will, spiegelt auch die Heimaufseherin zu Beginn. Sie bleibt als Wächterin über die beiden Männer und ihr Begehren an der Tür stehen, während die Kamera in die Totale entschwebt. Ist die Jugend, sind die Spiele nun für Junior vorbei und beginnt der Ernst des Lebens, den der Vater schon im Namen trägt? Nun, zumindest verabreden sich die beiden erst einmal auf eine Partie Schach. Immerhin.
Mit der Veröffentlichung von „Mädchen Mädchen“ im Rahmen ihrer „Edition Deutsche Vita“ wiederholte Subkultur-Entertainment 2016, was ihnen schon 2015 mit der Scheibe zu „Mädchen mit Gewalt“ gelang: eine der wichtigsten und schönsten Editionen des Jahres vorzulegen. Und das eben nicht nur, weil ein lange Zeit nur in seltenen Kinovorführungen greifbarer Film nun wieder über die gängigen Bezugsquellen als Heimmedium erhältlich ist, sondern auch weil sich die Edition selbst mehr als sehen lassen kann. Mit an Bord sind ein Audiokommentar, den Roger Fritz zusammen mit dem „Eskalierende Träume“-Autor Sano Cestnik sowie dem Filmemacher und wundervollen Filmessayisten Rainer Knepperges eingesprochen hat. In dem Featurette „Zwei Jungs und Mädchen Mädchen“ unterhalten sich Fritz und Hauptdarsteller Jürgen Jung zunächst einzeln, dann gemeinsam mit Sadi Kantürk über ihre Erinnerungen an den Dreh, übers Kiffen, den schwer verständlichen kölschen Dialekt von Udo Kier (der eine Zeitlang für die Rolle von Jung im Gespräch war), die Studentenrevolte der späten Sechziger und „Papas Kino“. Abgerundet werden die inhaltsgleiche DVD und Blu-ray in einem Digipack durch ein weiteres Interview, diesmal mit Monika Zinnenberg, die in einer kleinen Nebenrolle zu sehen ist, und allerlei andere Kleinigkeiten sowie ein Booklet mit einem schön ausführlichen Text des Filmhistorikers Christoph Huber.