Gianfranco Rosis kontroverser Dokumentarfilm „Fuocoammare – Seefeuer“ zeigt das Leben auf Lampedusa, dem Anlaufziel für Flüchtlinge, aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Jungen
Samuele schaut, zielt und drückt ab. Mit seinem Kumpel spielt er Krieg, aber käme es drauf an, hätte er schlechte Karten: Er hat ein träges Auge, er sieht nicht gut, er muss zum Arzt.
Samuele lebt auf Lampedusa, dem Hotspot der Flüchtlingswellen aus Nordafrika in Italien, dort wo die Seelenverkäufer der Schlepper anlanden oder gerettete Menschen hingebracht werden.
Auf einem Auge blind, das ist nicht nur der Zwölfjährige, der hier über die Wiese tobt, so will dies der Regisseur Gianfranco Rosi verstanden wissen, dessen Dokumentarfilm „Fuocoammare“ der Insel Lampedusa ein Denkmal setzt. Die Krankheit des Jungen, der Fischer werden soll und hier ganz normal aufwächst, soll eine Metapher sein für das Agieren in der Flüchtlingsdebatte. Und schon der Titel soll erhellen: Seefeuer, das ist das Licht der Leuchtraketen, die die Rettungskräfte auf der Suche nach Überlebenden untergegangener Schiffe abschießen. Denn Leuchtpunkte will auch Rosi mit seinem Film in der aktuellen Debatte setzen, das Schicksal der Bootsinsassen soll nicht vergessen werden, „Fuocoammare“ soll dazu beitragen.
Ein Film zwischen jugendlicher Lebensfreude und Todeszone – zum Beginn der Arbeiten war diese Entwicklung zunächst aber nicht abzusehen. Als Rosi auf die Insel kam, waren keine Flüchtlinge da, das Zentrum für die Erstaufnahme wurde renoviert und war für einige Zeit geschlossen. Da lag es nahe, das andere, das eigentliche Lampedusa kennenzulernen, abseits des großen politischen Themas. So blieb es bekanntlich nicht, und Rosi bleibt auch nicht bei Samuele stehen. Er filmt beim einzigen Insel-Arzt, Pietro Bartolo, der Rosi mit seinen Schilderungen überhaupt erst dazu gebracht hat, den Film zu drehen. Ja, der Film ist notwendig.
Zu Bartolo gehen Samuele und auch die Menschen, die übers Meer kommen. Er erzählt von den Notrufen, die in der Rettungszentrale einlaufen, von sinkenden Schiffen und Überlebenden, die er aufsucht. Und auch Rosis Kamera ist dabei, wenn die Rettungskräfte die Boote ausräumen. Bei einem der abgeschleppten Schiffe ist der Innenraum voller Leichen. Ein Moment, wo das Medium Kino gleichsam zu einem Ende findet: Da ist auf der einen Seite der Willen des Künstlers, authentische Bilder für sein Anliegen zu finden, und das dürfte in diesem Moment auch gelungen sein. Drastischere Bilder als die von den während der Überfahrt Verstorbenen lassen sich schwerlich filmen; wie die Menschen gestorben sind, mag sich das Publikum dann ausmalen.„Anders als beim Holocaust oder bei Ruanda gibt es simultan Bilder und nicht erst danach“, sagt Rosi. Niemand könne sagen, er habe nichts gewusst. „Das nimmt die Politik in die Verantwortung: So wie die Regierungschefs sich zum Klimagipfel treffen, müssen sie zu Flüchtlingsgipfeln zusammenkommen und gemeinsam die Probleme in den Herkunftsländern angehen. Und sie müssen sich gemeinsam um die Aufnahme der aus Kriegen, Hungersnöten und schrecklichem Elend Geflüchteten kümmern.“
Die Bilder haben aber noch eine andere Seite: Sie befördern auch den Gewöhnungseffekt. Mit der Verarbeitung zum stilisierten Dokumentarfilm ist zudem gerade der Wille, die Ereignisse in ihrer ganzen drastischen Weise aufzuzeigen, ad absurdum geführt – hat man es nicht mit einem Kunstprodukt zu tun, das in diesem Februar einen bedeutenden Filmpreis gewinnt und im nächsten Jahr tut dies ein anderer Film?
Der Kunstbetrieb befördert auch die Beliebigkeit, das Flüchtige und Serielle; morgen sehen wir uns etwas anderes an. Flucht, der Kultur-Event. Und was mag es überhaupt für einen Jungen bedeuten, neben den Toten als Hauptfigur zu agieren, und dann als Premieren-V.I.P. auf dem roten Teppich zu stehen? Diesem Dilemma, die Fragen nach der Reproduzierbarkeit des Schrecklichen, das später dann mal im Nachtprogramm von Arte versendet wird, umschifft Rosi, er debattiert es nicht. Und vielleicht ist es so am elegantesten: Er stellt die beiden Wirklichkeiten nebeneinander: Dort die Welt der Italiener, dort die Geflüchteten und mittendrin der Arzt.
Hätte es anders gehen können? Vielleicht ist für dieser Art Fragen keine Zeit. „Seefeuer“ soll im Kino leuchten, will ein brutaler, ein emotional krasser Film sein, der sein Publikum in die Wechselbadewanne der Gefühle taucht. Ist das Mittelmeer nicht auch so? Szenen wie die beschriebene folgen solche aus dem Alltagserleben Samueles, der reichlich Talent zum Slapstick hat. Sei es beim Spaghetti-Schlürfen oder auch bei der Vorbereitung auf das zukünftige Leben. Talent zum Lügen hat er nicht unbedingt, wenn die Familie sich nach den Hausaufgaben erkundigt. Aber Schule ist auch nicht unbedingt auf der Prioritätenliste ganz oben; Samuele soll schließlich Fischer werden, wie alle auf Lampedusa. Da gibt es ganz andere Probleme: Er ist seekrank, mit der Seefahrt hat er es nicht.
Dann wieder Zahlen. 400.000 Menschen haben in den letzten Jahren die Überfahrt riskiert, man rechnet mit 15.000 Toten. Die Schiffe feuern Leuchtraketen ab, Seefeuer. Wieder und wieder am nächsten Morgen sind die geborgenen Reste der maroden Boote zu besichtigen. Der Arzt Bartolo rückt dabei immer wieder erklärend ins Zentrum. Er untersucht die Flüchtlinge, wenn sie vom Boot kommen, kümmert sich um die Kranken und die Schwangeren, erklärt die Vorgänge, kritisiert die europäische Politik, die von den Einwohnern Lampedusas, einem Eiland von 20 Quadratkilometern, gemanagt wird.
Die Geflüchteten selbst kann Rosi nicht ins Bild setzen oder nur unzureichend, wenn nicht gleich als Verstorbene, dann als Wesen ohne Namen. Er habe zwar ein Jahr auf der Insel zugebracht, aber diese Menschen blieben immer nur ein bis zwei Tage, sagt Rosi. Nur einmal gelingt eine länge Einstellung: Ein Afrikaner rappt seinen Reiseweg durch die Wüste über Libyen bis nach Europa – ein trostloser, harter und trockener Sound, gesungene Klage. Gesprochen wird mit ihm und den Männern um ihn herum nicht. Gleichwohl stecke die Essenz des Dramas, denn diese Szenen brächen mit der Routine, die man vorher im Film erlebe: Ankunft der Boote, Flüchtlinge im Bus, die Stationen der Erstaufnahme – ein geregelter Ablauf, der sich fast täglich wiederhole.
Ein denkwürdiger, Film, einer, der noch nicht zu Ende ist. Mit seiner Mischung aus „skurrilen, traurigen, komischen und bedrückenden Szenen“ vermittle der Film das Ausmaß der ganzen Tragödie von Lampedusa, urteilte die Film-Jury von Amnesty International auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen und vergab den Amnesty-Filmpreis an „Seefeuer“ (und zu gleichen Teilen den iranischen Beitrag „Royahaye Dame Sobh“).
Die Berlinale-Hauptjury um Meryl Streep sah das nicht viel anders und vergab den Goldenen Bären ebenfalls an Rosi – so erhielt seit 60 Jahren das erste Mal ein Dokumentarfilm diese Auszeichnung.
Falsch liegt man damit nicht: Jetzt, im Sommer, ist der Film erschreckend aktuell. Um Lampedusa war es im letzten Jahr ruhiger geworden, jetzt aber, nach Türkei-Deal und Schließung der Balkan-Route, sind die Flüchtlinge einmal weiter ums Mittelmeer herumgewandert. Die Hauptwege laufen nun wieder über Italien; Bilder wie sie „Seefeuer“ zeigt, werden dann wieder die Nachrichten beherrschen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 8/2016