Der erste Verweis auf die Filmgeschichte kommt schon vor den ersten Bildern. Einige Texteinblendungen warnen vor epileptischen Anfällen, aber: „Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden.“ Mit dem Satz: „This film should be played loud“ begann auch Abel Ferraras „Driller Killer“ von 1979. Nur auf den ersten Blick scheint es schwer, den amerikanischen Film über einen frustrierten New Yorker Künstler (Abel Ferrara), der zum Bormaschinenmörder wird, und den deutschen über den heftig das Nachtleben der Stadt auskostenden Berliner Teenager Tina (großartig fragil: Carolyn Genzkow), der immer wieder ein sonderbarer Gnom erscheint, zusammenzudenken. Bei beiden Filmen handelt es sich um die Werke relativ unerfahrener Filmemacher – Ferrara hatte vor „Driller Killer“ nur einige Shorts und einen Porno mit dem wundervollen Titel „9 Lives of a wet Pussy“ gedreht, „Nachtmahr“-Regisseur und -Autor Akiz lediglich drei Kurzfilme -, für die das Kino zum Möglichkeitsraum wird, dessen Ausdrucksformen begierig, fieberhaft erprobt werden – und das Genre zu einer Art Repertoire, aus dem man sich nimmt, was man zum Verwirklichen einer jeweils sehr eigenen Vision benötigt. In beiden Filmen ist die Musik (jeweils live eingespielt, hier Techno auf diversen Partys, dort Punk, der beständig von einer in der Nachbarwohnung spielenden Band durch die Wände dröhnt), weit über die Funktion eines herkömmlichen Soundtracks hinaus, Ausdruck des delirierenden Lebensgefühls der Protagonisten und zugleich eng mit der Geschichte der Stadt, in der sie leben, verbunden. Schließlich geht es in beiden Filmen um einen Zustand des Verlorenseins in der großen Stadt, zeigen beide Filme relativ schonungslos, wie ihre Protagonisten immer weiter durch das soziale Raster ihres urbanen Umfelds fallen. Wo aber der Driller Killer nur Tod und Verderben bringen kann, findet Tina letztendlich die zarte und zärtliche Utopie eines Auswegs aus Einsamkeit und Entfremdung.
Doch damit nicht genug: „Der Nachtmahr“ schmeißt zum Ferrara noch den Spielberg, zu der denkbar düsteren Parabel über den Mann, dessen Fixierung auf den Bohrmaschinen-Phallus mit Nabelschnur-Kabel wohl auch bedeutet, dass er nicht erwachsen werden kann, das bittersüße Märchen über das Ende der Kindheit. Der Nachtmahr erinnert von Ferne her an E.T. und wird wie dieser auch in einem Krankenhaus landen. Diesen Bezug festigt der Film noch, indem er in Tinas Teenager-Zimmer eine E.T.-Puppe rumstehen lässt, wie sie auch in meinem Achtziger Jahre-Kinderzimmer stand. „Driller Killer“ meets „E.T.“? Und das in einem unabhängig und unter Guerilla-Bedingungen, mit Mini-Budget gedrehtem deutschen Coming of Age-Horrorfilm? Wenn das kein Grund zum Aufhorchen ist!
Nach den Texteinblendungen also begegnen wir Tina dort, wo sie zunächst gerade im ekstatischen Außersichsein ganz zu sich kommen kann: auf der Tanzfläche. Zuckende junge Körper im Rhythmus wummernder Bässe und blitzender Stroboskop-Gewitter. Ihre Freundin Babs (Sina Tkotsch) liefert zu den wilden Nächten die passenden Drogen. Nur mit ihrem Schwarm Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) will es nicht so richtig vorangehen, weil er sich ihr gegenüber bedeckt hält. Beim Pinkeln auf einer illegalen Poolparty erscheint Tina zum ersten Mal eine eigenartige Kreatur, die sie fortan immer wieder sehen wird, vorwiegend in der Villa, die die Siebzehnjährige zusammen mit ihren Eltern bewohnt. Die Eltern reagieren besorgt, aber durch und durch hilflos auf den sich scheinbar immer weiter verschlimmernden psychischen Gesundheitszustand ihrer Tochter. Sie engagieren einen Psychiater, der tut, was Psychiater eben tun: Er verschreibt Pillen, rät, sollte sich Tinas Zustand nicht bessern, zur Einweisung in eine Fachklinik. (Es ist eine der Ambivalenzen des Films, dass gerade der aalglatte, Tina gegenüber relativ überheblich auftretende Arzt ihr letztendlich den Tipp gibt, das Wesen anzusprechen, durch den der Plot eine entscheidende Wendung nimmt.)
Von den möglichen Entwicklungen, die seine Geschichte nehmen könnte, wählt Akiz zielsicher die interessanteste. Dass es sich bei Tinas Begegnungen mit dem Wesen um Albträume handelt, wie es ja bereits der Titel suggeriert, oder um eine drogeninduzierte Psychose, sind Lesarten, die der Film eine Weile lang zulässt, letztlich aber verwirft. Vielmehr kommt es zu einer zärtlichen Annäherung zwischen dem Mädchen und dem Nachtmahr, der sich, seinem für Tina zunächst bedrohlichen Äußeren zum Trotz, als ziemlich verfressener, aber durch und durch gutmütiger Geselle erweist. Wo Tina nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Feier-Clique zunehmend ratlos stimmt, alle ihre Bindungen zu schwinden scheinen, bildet das Wesen bald ihren letzten Bezugspunkt.
Filmlöwin Sophie Charlotte Rieger schreibt über die zunächst entsetzten Reaktionen des Mädchens auf das Wesen und die folgende Annäherung: „Der Ekel und die Angst vor dem unbekannten Wesen steht für die pubertäre Entfremdung des Mädchens* mit sich selbst. Der Nachtmahr ist all das, was sie nicht sein darf: Gefräßig, hässlich und kindlich… Die Liebe zu dem unansehnlichen Wesen ist die Liebe Tinas zu sich selbst, zu jenen Persönlichkeitsanteilen, die sie ängstigen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Frau entsprechen.“ Daraus folgt, dass Tina, in dem Maße, wie sie sich von ihrem Umfeld entfremdet, immer mehr zu sich selbst findet, dass in ihrer Freundschaft zu dem Wesen zusammenwächst, was zusammen gehört, bewusste und verdrängte Facetten ihrer Persönlichkeit langsam eine Einheit bilden.
Die durchweg starke Inszenierung entwickelt dann auch besondere Intensität, wenn sie die harsche Trennung des mühsam ausgesöhnten, nun einheitlichen Wesens zeigt. Dass die beiden auch ein Nervensystem teilen, sie blutet, wenn das Wesen sich schneidet, wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, um Akiz‘ psychoanalytische Konzeption dieses Doppelwesens, das Tina und der Nachtmahr bilden, zu verstehen.
Das Ende denkt die Abkehr von einer Gesellschaft, die Tina und ihre teenage angst in einem fort pathologisieren, den Weg hin zu sich selbst, dann bis in die letzte Konsequenz fort. Wie Platons Kugelmensch, dem es schlussendlich vergönnt ist, zu seiner Ureinheit zurückzukehren, fahren Tina/Nachtmahr im Auto davon und lassen uns in unseren Kinosesseln zurück – entfremdet von den „dunkleren“, verdrängten Anteilen unserer Selbst und mit dem Eros als einzigem Trost.
Dies ist eine überarbeitete, längere Version eines Textes, der zuerst im Perlentaucher veröffentlicht wurde.
Hier und hier gibt es zwei weitere Kritiken zu ‚Der Nachtmahr‘.