Ein junges Paar im Krankenhaus, das Neugeborene ist wohlauf, aber der Vater muss das korrekte Handling noch lernen. Die Mutter ist erschöpft, aber hungrig. Der Vater, Jonah, ein sehr junger Soziologie-Professor, hat vergessen, das versprochene Essen mitzubringen. Das Essen im Krankenhaus sei fucking terrible, sagt sie. Jonah macht sich auf den Weg zur Kantine, anders als glücklich, überfordert. Die Kantine hat geschlossen. Als er so durch die Krankenhausgänge strollt, begegnet er plötzlich seiner Ex-Freundin, die gerade ihre todkranke Mutter pflegt. Jonah, so die Ex, habe es den Freunden, die auf ihn folgten, nicht leicht gemacht. Die Mutter habe stets große Stücke auf ihn gehalten. Warum er denn im Krankenhaus sei? Jonah ahnt, dass die Nachricht, dass er gerade Vater geworden ist, jetzt vielleicht unpassend ist. Er stockt: „Meine Frau. Amy. Sie …“. Die Freundin fällt ihm ins Wort, umarmt ihn: „Mein Gott, das tut mir so leid.“
Keine fünf Minuten haben der Filmemacher Joachim Trier und sein ständiger Drehbuchautor Eskil Vogt gebraucht, um das Thema ihres neuen Films „Louder Than Bombs“ zu etablieren. Es gibt eine konkrete Situation, in der Figuren mit einer Geschichte aufeinander treffen und jetzt versuchen wollen, möglichst so zu kommunizieren, dass das Gegenüber nicht unnötig verletzt oder auch nur tangiert wird. Falsch verstandene Rücksichtnahme führt dann schnell zu Missverständnissen, die manchmal allerdings auch gerne in Kauf genommen werden, weil sie bestimme virulente Konflikte kaschieren helfen. Dabei ist der Beginn des Films nur scheinbar randständig angelegt, denn Ehefrau und Baby tauchen zwar präsent im Film nicht mehr auf, bleiben Fluchtpunkt einer Entwicklung, an deren Ende eine nun gemeinsame Fahrt zurück zur Kleinfamilie stehen wird, aber das Grundmotiv der „Erwartenserwartung“ (Luhmann) wird im Folgenden auf vielen Ebenen durchgespielt.
Jonah ist nämlich nicht nur Ehemann und frischgebackener Vater, sondern auch Sohn und älterer Bruder. Gerade die Intimität der Kleinfamilie baut darauf, die Übernahme fremder Perspektiven als alternativ mögliche zur Grundlage der binnenfamilialen Kommunikation gemacht zu haben. In diesem konkreten Fall funktioniert das nicht oder nur sehr bedingt, denn die Familie, um die es hier geht, laboriert an dem Trauma, dass die Ehefrau und Mutter Isabelle Reed vor drei Jahren bei einem Unfall ums Leben kam. Isabelle war eine bekannte Kriegsfotografin, aber der Unfall, der sie das Leben kostete, fand gewissermaßen vor der eigenen Haustür statt – und wurde von den betroffenen Familienmitgliedern offenbar erfolgreich kommunikativ »beschwiegen«. Jetzt steht eine große Ausstellung ihrer Fotos ins Haus, ein ehemaliger Kollege (und part time lover) wird einen einführenden Artikel für die New York Times schreiben und ein Skandalon ist angezeigt: Selbstmord (oder nicht?).
„Louder Than Bombs“ – der Smiths-Titel ist in mehrfacher Hinsicht bewusst gewählt – ist des Norwegers Joachim Triers erster Produktionsausflug in die USA. Nach dem internationalen Festivalerfolg seines Spielfilmdebüts „Auf Anfang (:Reprise)“ erhielt Trier allerlei Angebote, eine größere Produktion zu wagen, aber die Drehbücher und Projekte, die an ihn herangetragen wurden, überzeugten ihn nicht. Stattdessen drehte der Nouvelle Vague-Fan den gleichfalls sehr erfolgreichen „Oslo, 31. August“ – ein lockeres, geupdatetes Remake von Malles Klassiker „Das Irrlicht“. Man kann auch sagen: Nachdem er sich zwei Filme lang mit „Male Bonding“ beschäftigt hatte, widmet sich Trier nun binnenfamilialer Kommunikation unter traumatisierten Männern unterschiedlichen Alters, die lernen müssen, ihre „Erwartenserwartungen“ zu profilieren und zu synchronisieren. Der Vater Gene ist dabei ein »moderner Vater«, ein Mann, der Emotionen zulassen kann und über Intelligenz und Gefühlswärme verfügt. Er hat seine Karriere als Schauspieler zugunsten von Isabelles Ambitionen als Kriegsfotografin hinten angestellt und reagiert sehr enttäuscht, als er bemerken muss, dass ihre Profession ihr lebenswichtiger als die Familie wurde. Ihre Affäre mit Richard indiziert die Trennung zwischen Privatheit und Beruf aufs Schärfste. Die emotionale Befasstheit seiner beiden Söhne Jonah und Conrad mit dem Tod der Mutter indes schätzt er falsch ein, weshalb sein „Du warst dabei“ gegenüber Jonah später in ein „Ich war dabei“ von Conrad umgemünzt wird.
Von seiner Mutter hatte Conrad gelernt, dass der gewählte Bildausschnitt einer Fotografie dessen Bedeutung komplett verändern kann. Wie Antonionis „Blow up“ spielt „Louder than Bombs“ genau mit diesem semantischen Potenzial unterschiedlicher und widersprüchlicher Bildausschnitte und Perspektiven, um die Resonanzen des frühen Todes der Mutter einzufangen. War es Müdigkeit? Erschöpfung? War da ein Reh auf der Straße? War es Selbstmord? Hilft es, die Wahrheit zu kennen? Wie bekommt man die widersprüchlichen Impressionen und Erinnerungen so geordnet, dass daraus eine befriedigende Erzählung wird? Hilft es, bestimmte Widersprüche in den Papierkorb des PCs zu entsorgen?
Wie Christian Petzold oder Christoph Hochhäusler besitzt Joachim Trier, der sich als Außenseiter der norwegischen Filmszene begreift und gerne darauf hinweist, dass er neben seiner Spielfilmen auch noch viele Werbefilme („I´ve shot a lot of commercials and stuff and people who don´t know my work I might sound like I´m this European Dardenne purist who only makes social dramas.“) gedreht hat, die Intelligenz und Fähigkeit, die abstrakten Konzepte seiner Filmprojekte mittels Referenzen in die Film-, Literatur- und Popgeschichte präzise zu fassen. Bezogen sich die ersten beiden Spielfilme auf die Nouvelle Vague, so sollte „Louder Than Bombs“ ein etwas altmodischer Familienfilm in der Tradition von Woody Allen, John Hughes oder auch Paul Mazursky werden.
Anregungen in bezug auf narrative Experimente holen sich Trier und Vogt gerne aus der Literatur und den Mut zur Regelverletzung aus ihrer Leidenschaft für Punk und HipHop. Der Rest ist Intuition und ein Gespür für den richtigen Ton. Bestimmte Referenzen an die Film- und/oder Popgeschichte fungieren dabei sicherlich als Mehrwert-Dreingabe für die happy few, die sich an bestimmte Soundtracks der frühen 1980er Jahre erinnern. Aber es geht Trier nicht (nur) darum, dem Film eine persönliche Fan-Signatur in Form einer Hommage einzuschreiben, sondern manche Referenz erhält eine dramaturgische Funktion, indem sie beispielsweise der bis dahin auf unangenehme Art verschlossenen Figur des jüngsten Sohnes Conrad eine gewisse Öffnung zum Zuschauer hin als Coming-of-Age-Geschichte ermöglicht.
Damit ist zugleich eine zentrale Qualität von „Louder Than Bombs“ bezeichnet, denn der Film versucht, sich einer traumatisierten, dysfunktionalen Familie auf eine Art und Weise zu nähern, dass durch verschiedene formale Strategien zur Konstitution einer Vielstimmigkeit (buchstäblich durch eine Vervielfältigung und Aufsplitterung der Voiceover-Stimmen) der Erzählung jede Figur hinreichend Raum bekommt, sich progressiv zu entwerfen. Schicht um Schicht, aus permanent sich verändernden Perspektiven wird allmählich das (widersprüchliche) Innere der Figuren und der konfliktreiche Binnenraum der Kleinfamilie sichtbar – nicht wie üblich, durch wortreiche Erklärungen, sondern durch einen einfallsreichen wie wohl kalkulierten Einsatz filmischer Mittel.
In der Manier klassischer Filmkunst erzählen Trier und Vogt so subtil, dass auch aufmerksamen Zuschauern ein wiederholtes Sehen des Films angeraten sei. Dieses transatlantische Tausch-Verhältnis produziert eine Win-Win-Situation: Trier & Co. dürfen sich über größere Budgets und Öffentlichkeiten verfügend ausprobieren und liefern im Gegenzug einen Film, dessen Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit sich Hollywood nicht mehr traut.