Aron ist knapp 30, hat aber noch immer keinen Plan. So etwas ist heutzutage eigentlich nichts Ungewöhnliches mehr. Doch Aron ist in dieser Hinsicht noch etwas seltsamer als gewöhnlich. Er zelebriert seine Orientierungslosigkeit mit einer unglaublichen Akribie. Es scheint, als würde er die Welt von einem jenseitigen Standpunkt aus betrachten. Dafür findet der Film gleich zu Anfang wunderbar schräge Bilder. Aron fällt um und ist tot. Aber nicht nur einmal, sondern permanent. Beim Spazierengehen am Fluss, in der U-Bahn und sogar mitten auf einer befahrenen Straße. Dummerweise niemand nimmt Notiz von seinen gefühlten tausend Toden, und genau das entspricht seinem Lebensgefühl. Also, wer ist dieser Aron?
Der 29-Jährige hat Filmgeschichte studiert. Er hat noch nie gearbeitet. Die Vorschläge, die der Berater vom Jobcenter ihm unterbreitet, werden in seinen Ohren zu einem monotonen Wortbrei. Für Aron macht das alles keinen Sinn. Zum Glück wird er von seinen Eltern finanziert. Die Freundin, mit der er einige Jahre zusammen wohnte, hat ihn verlassen. Dabei hat sie, was Aron am meisten wurmt, nicht einmal ihre Schamhaare im Abfluss zurückgelassen. Kein Zweifel: Dieses Muttersöhnchen ist ein ziemlich schrulliger Typ. Ein Loser, wie er im Buche steht. Aber einer, den man so noch nicht gesehen hat. Wenn er auf der Straße spazieren geht, dann folgt ihm in seiner Phantasie die Ex-Freundin. Allerdings nicht nur in einer Gestalt, sondern in einer ganzen Serie imaginärer Reproduktionen. Diese seltsame Prozession schüttelt der Film mit einer Art Gebrauchs-Surrealismus aus dem Ärmel.
Der ungarische Filmemacher Gábor Reisz taucht in die Gefühls- und Gedankenwelt dieses jungen Mannes überaus phantasievoll ein. Über weite Strecken ist seine melancholische Komödie im Cinema Verité Stil gedreht. Die bewegliche Handkamera erzeugt eine intime, dokumentarische Nähe zu seinem Protagonisten, die jedoch immer wieder aufgebrochen wird durch hinreißend komische traumartige Sequenzen. Zu Beginn etwa liegt Aron unter der Schaukel auf einem Kinderspielplatz, denn in der Erwachsenenwelt ist er noch nicht wirklich angekommen. Ein Handyanruf von seiner dominanten Mutter, zu der er eine enge Bindung hat, reißt ihn aus seiner tagträumerischen Lethargie. Sie trägt ihm auf, er möge sich doch bitte beeilen. Doch das ist nicht seine Sache. Als Reaktion auf diese Anforderung sieht er Passanten auf der Straße, die sprinten, um den Bus noch zu erreichen. Aus Arons Sicht rennen sie jedoch in Zeitlupe – und pfeifen dabei auch noch die fröhliche Titelmusik des Films mit.
Solche szenischen Erfindungen sind keine manieristische Stilübung. Gábor Reisz verbildlicht die Sichtweise eines Menschen auf eine Welt, die sich ohne ihn dreht. Von den „unerfindlichen Gründen“ für diese lähmende Agonie erzählt das Sittenbild über das moderne Ungarn mit selten gesehener Verve.
So soll Aron beispielsweise Blumen zum Namenstag seiner Schwägerin in spe mitbringen, kauft aber nur einen Minikaktus. Als sein Vater nebenbei fragt, ob er sich an diesem „Geschenk“ beteiligen könne, erschließt sich ganz nebenbei ein ganzes psychologisches Koordinatensystem. Mit wenigen Strichen zeichnet Reisz eine bürgerliche Mittelstandsfamilie. Der leise tretende Vater hat nichts zu melden. Die Mutter, die in diesem Haushalt die Hosen anhat, sitzt in leitender Stellung in irgendeiner Behörde, in dem sie ihren Sohn auch gerne unterbringen möchte. Wogegen Aron passiven Widerstand leistet. Sein erfolgsorientierter Bruder führt ein Restaurant. Und wenn seine schwangere zukünftige Schwägerin sich am Esstisch übergibt, dann darf Aron auf dem Boden die Kotze aufsammeln: Alles ist an seinem Platz.
Entsprechend vergnügt folgt man der mäandernden Geschichte. Aron wird beim Schwarzfahren erwischt, was für ihn eher ein Grund zur Freude ist: Er hat sich in die Kontrolleurin verliebt. Der Beamte auf der Bußgeldstelle teilt ihm auf eine zweideutige Weise mit, die Kontrolleurin würde auf den eigentümlichen Namen Eva Tinte hören. Allein schon bei der Suche nach dieser Frau gelingen dem Film herrlich absurde Szenen. Dass Aron im Suff versehentlich ein Flugticket nach Lissabon bucht, macht seine Situation nicht einfacher. Doch diese unfreiwillige Reise wird eine zu sich selbst.
Áron Ferenencik, Freund, Studienkollege und Hauptinspirationsquelle des Regisseurs, verkörpert diesen postsozialistischen Nerd mit schlafwandlerischer Souveränität. Der Film lebt von der Figur dieses skurrilen Eigenbrödlers und verkannten Künstlers. Aron kann nicht arbeiten, weil er sogar beim Spüljob in der Restaurantküche immer wieder innehält, um die schönen Muster auf den schmutzigen Tellern anzustarren. Die einzige „Produktivität“ dieses träumenden Totalverweigerers: Sprechen. Er redet viel, schnell – und vor allem dann, wenn es unangebracht ist. Eine überbordende Fülle solcher schrägen Beobachtungen und Stilbrüche fügt Gábor Reisz in seinem kurzweiligen Debüt und zu einem harmonischen Ganzen: Sein Stilmix ist aus einem Guss: Mit seinem leisen Film über einen verträumten Loser im modernen Budapest gelingt ein großer Wurf. Ein genialer Budapest-Blues, der Szene für Szene verblüfft, und das nicht aus unerfindlichen Gründen.