Zu den Verheißungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zählte auch die Möglichkeit eines anderen deutschen Genre-Kinos. Fernab von den Wegen des Neuen Deutschen Films auf der einen Seite und dessen, was seine Vertreter abschätzig als „Opas Kino“ bezeichneten auf der anderen Seite, drehten einige junge Regisseure eine Handvoll Filme, die, trotz deutlicher Einflüsse von New Hollywood bis zum Italo-Western, radikal neue und eigene Wege zu beschreiten suchten. Rudolf Thome erzählte in seinem Frühwerk entspannt von Mord und allerlei amourösen Verwicklungen („Detektive“ (1969), „Rote Sonne“ (1970)). Roland Klick schickte seine Figuren im ewigen Kampf miteinander, sich selbst und einer vom Geld regierten Welt zunächst in die Wüste („Deadlock“ (1970)), dann durch schmierige (und in ihrer Schmierigkeit kaum jemals so wunderbar gefilmte) Hamburger Straßen („Supermarkt“ (1974)). Und Rolf Olsen bewies mit seinem Geiselnehmer-Thriller „Blutiger Freitag“ (1972), dass man auch in der alten Bundesrepublik Filme drehen konnte, wie sie sonst vornehmlich aus Italien stammten: knallhart, reißerisch, mit Zuspitzungen ins Psychedelische und ganz dicht am Puls der Zeit ohne einen Hauch von Themenfilm-Allüren.
Mit der ersten Sichtung von „Mädchen mit Gewalt“ muss ich definitiv einen weiteren Namen zu dieser Liste hinzufügen, mit dem doch alles wieder ganz anders wird, die Geschichte des anderen (und in diesem Falle unterschlagenen) bundesrepublikanischen Films von Neuem beginnen muss: Roger Fritz. Während „Rote Sonne“ heute als Kultfilm seiner Zeit gehandelt wird, während Klicks in diversen Editionen zugängliches Werk als ewiger Geheimtipp gilt und von „Blutiger Freitag“ immerhin eine Grabbeltisch-DVD existiert (und eine sorgsame Restauration in Aussicht steht), ist Fritz‘ Schaffen weitgehend vergessen. Nie im Fernsehen gezeigt oder auf Heimmedien erschienen, ist es nur ein paar eingefleischten Cinephilen bekannt, die das Glück hatten, es bei einigen seltenen Gelegenheiten im Kino sehen zu können. Da ist es umso erfreulicher, dass mit „Mädchen mit Gewalt“ nun erstmalig ein Film von Fritz ins digitale Zeitalter gerettet wurde.
Die erste Einstellung des Films zeigt Werner (Klaus Löwitsch) und Mike (Arthur Brauss), die in einem Zimmer einer jungen Frau dabei zusehen, wie sie sich langsam ankleidet. Die beiden Männer, Arbeitskollegen und langjährige Freunde, scheinen ihre Freizeit ausschließlich damit zu zubringen, Frauen hinterherzujagen, immer auf der Suche nach erotischen Abenteuern zu Dritt. Wenig später bei einer anderen Frau merken wir, dass es bei ihrem Treiben bisweilen auch mit recht rohen Zudringlichkeiten zugeht.
Auf der Go-Kart-Bahn lernen sie Alice (Helga Anders) kennen (wunderbar inszeniert ist diese Go-Kart-Szene, die Attraktion in Bewegung, die Blicke: der von Helga Anders unbedarft, fröhlich geradeaus, die von Werner und Mike auf die Frau als potenzielles „Projekt“, potenzielles Opfer gerichtet). So wie der Film als – wenn auch auf sehr spezielle Weise sinistere – erotische Komödie beginnt, um sich im Folgenden immer weiter zu verfinstern, so beginnt auch auf der Go-Kart-Bahn als Spiel, was später immer grausamer wird – aber doch irgendwie immer Spiel bleibt). Alice ist mit einigen Freunden unterwegs (darunter in einer kleinen Rolle: Rolf Zacher), wird aber nach der Kneipe, in der es einige Handgreiflichkeiten gibt, alleine mit den beiden Männern ins Auto steigen. Auf dem Weg in eine Kiesgrube, wo gebadet und auf Alices Freunde gewartet werden soll. Vielleicht schon als Alice das erste Mal mit den beiden Männern im Auto sitzt, spätestens jedoch beim Würstchenbraten am Lagerfeuer kippt die Stimmung. Alice muss bald erkennen, dass ihre Freunde nicht nachkommen werden und sie selbst sich bei Werner und Mike in schlechter Gesellschaft befindet.
So wie sich „Mädchen mit Gewalt“ nur äußerst schwierig auf ein Genre festlegen lässt, so scheinen auch die Machtverhältnisse zwischen den Figuren (vor allem zwischen Werner und Mike, zwischen denen Alice nur als eine Art Puffer zu fungieren scheint) immer wieder neu definiert, neu austariert werden zu müssen. Das gewohnte Spiel der beiden Männer gerät dieses Mal außer Kontrolle, artet aus, eskaliert immer weiter.
Die Logik dieser Eskalation folgt keinem herkömmlichen Spannungsbogen, eher verursacht der Film beim Zuschauenden ein großes Unbehagen, das über mindestens seine letzte Stunde konstant aufrecht erhalten wird, und auch in den Gewaltausbrüchen (Alices Vergewaltigung durch Werner in der Nacht, die Kämpfe der beiden Männer um die Frau am nächsten Tag) kaum ein Ventil findet. Dafür ist es bezeichnend, dass in der fiesesten und vielleicht auch intensivsten Szene des Films eigentlich nichts geschieht, sondern nur gesprochen wird. Am Morgen droht Alice den beiden Männern, zur Polizei zu gehen, um Anzeige wegen Vergewaltigung zu erstatten. Minutiös führt Mike ihr aus, welche Folgen das für sie haben würde. Er schildert ihr die peinlich detaillierte Befragung über den Tathergang durch die Beamten, durch den Richter im Prozess, durch ihren eigenen Vater, wie man sie und ihre Aussagen in Zweifel ziehen wird, weil man meint, sie habe die Beiden provoziert, wie sie immer wieder haarklein wird schildern müssen, was ihr geschah, und wie die Welt voll sein wird von Männern, die ihr größtes Misstrauen entgegenbringen werden. Was er beschreibt – und treffend auf den Begriff einer „gigantischen Vergewaltigung“ bringt – wurde von FeministInnen als „second rape“ bezeichnet, die Frauen in den Institutionen einer patriarchalen Kultur über sich ergehen lassen müssen, nachdem sie Opfer einer Vergewaltigung wurden. Mikes drastische und eindrückliche Schilderungen lassen die beiden Männer nur wie die Spitze des Eisberges erscheinen, wie Agenten einer Phallokratie, in der eine junge Frau keine Chance hat, ihre Sexualität selbstbestimmt und frei auszuleben, ohne sich Anschuldigungen und Abwertungen gefallen lassen zu müssen. „Mädchen mit Gewalt“, von einer zeitgenössischen Kritikerin als „Anleitung zur Vergewaltigung“ verrissen, zeigt anhand der Entwicklung von Helga Anders‘ Figur absolut schonungslos, wie eine solche Gesellschaft eine junge Frau brechen kann.
Sucht man zu „Mädchen mit Gewalt“ mögliche Bezüge in der Filmgeschichte, dann findet man sie wohl vor allem im Schaffen Roland Klicks, den Fritz, so erzählt er im Audiokommentar, in den gemeinsamen Münchner Zeiten gut kannte, mit dem er sich regelmäßig traf, um über Filme zu diskutieren. Die Kiesgrube mit den verstreut herumliegenden LKW-Reifen, der alten Förderanlage, den Autowracks, dem See und den bewaldeten Abhängen rundherum wird zu einer eigenen, in sich abgeschlossenen Welt und zugleich zu einer Seelenlandschaft der Figuren, vielleicht zu dem, was Can in einem der Songs als „Soul Desert“ besingt. In Klicks Debüt „Bübchen“ (1968) ist es ein Schrottplatz, der als äußere Abbildung von Innerem fungiert und für die Kaputtheit eines ganzen Milieus steht, der unteren Mittelschicht in der BRD nach dem Wirtschaftswunder. Auch wirkt „Mädchen mit Gewalt“ streckenweise wie ein Zwillingsfilm zu „Deadlock“ (der wohl ein Jahr später entstand). Die Parallelen ergeben sich auch hier durch die Abgeschiedenheit und Unentrinnbarkeit des Schauplatzes sowie den großartigen Soundtrack von Can. Der Geldschatz, der dort frenetisch und mörderisch umkämpft wird, ist hier Helga Anders, wobei es weniger darum zu gehen scheint, sie sexuell zu „besitzen“ als das die zwei Männer ihren Lustgewinn primär daraus ziehen, die Frau zu brechen, sie zu einem wenn schon nicht willigen so doch willenlosen Opfer zu machen. Wie Marquard Bohm am Ende von „Deadlock“ wird auch Anders nach „Mädchen mit Gewalt“ eine Überlebende sein, für die es doch in der Welt keinen Platz zu geben scheint.
Roger Fritz kommt ursprünglich von der Fotografie, was man seinen sehr genau kadrierten und arrangierten Einstellungen deutlich anmerkt. Genau sind die Figuren im Bild angeordnet, konzentriert sich die Kamera auf ihre Körper und Gesichter und verdichtet das Geschehen zu einem Kammerspiel unter freiem Himmel. Der Einsatz von extremen Close-Ups ist spärlich aber exakt, wohl dosiert. Beim „Versteckspielen“ hilft Werner Alice von einer Leiter herunter. Während er sie im Arm hält zeigen sechs sehr kurze Einstellungen Details von ihren Gesichtern: Augenpartien und Münder in Schuss und Gegenschuss. Diese Szene ist bestimmt durch eine Sinnlichkeit, ein Begehren, das wenig später nur gewaltsam manifestiert werden kann. Bei der Vergewaltigung gibt es wieder Close-Ups, von ihren Brüsten in der aufgerissenen Bluse, von seiner Hand, wie sie seinen Reißverschluss öffnet, ihren Schlüpfer herunterreißt. Parallel montiert wird Mike, der den beiden zusieht, während er mit dem Auto Kreise um sie herumfährt. Die Szene endet mit Großaufnahmen der Autoscheinwerfer, zwei weiß leuchtende Augen in der Nacht, die die Rolle Mikes als Voyeur unterstreichen.
Nach einem Schnitt bricht der Tag an, der Alice ebenso wenig helfen wird wie der Himmel, aus dem am Ende ein Polizeihubschrauber in die Kiesgrube herabschwebt. Die Ordnungsmacht von außen kann das, was hier geschah, nicht nur nicht ungeschehen machen, sie hat auch keine Möglichkeit in die hier entstandene, ganz eigene Dynamik einzugreifen oder auch nur irgendeine Form der Sühne anzubieten. So endet, denkbar pessimistisch, einer der wohl kühnsten und verstörendsten Filme des bundesrepublikanischen Kinos.
Die Blu-ray-/DVD-Kombibox aus dem Hause Subkultur Entertainment, die als vierter Teil ihrer „Edition Deutsche Vita“ erschien, ist ein wahres Prachtstück. Sie präsentiert den Film in einer eigens angefertigten HD-Abtastung, die auch das Originalformat von 1,66:1 beibehält. Für die Edition wurden gleich zwei Audiokommentare eingesprochen. In dem ersten unterhalten sich Christoph Draxtra und Sano Cestnik, Autoren auf dem Blog „Eskalierende Träume“ und Mitveranstalter der Nürnberger Hofbauer-Kongresse, mit Roger Fritz und Arthur Brauss unter anderem über Münchner Filmemacher-Zeiten, das fiese Grinsen von Klaus Löwitsch und die Einordnung des Films in das (mir leider unbekannte) weitere filmische Werk des Regisseurs. Im zweiten bemühen sich Tino Zimmermann von Subkultur Entertainment, Pelle Flesch und wiederum Christoph Draxtra darum, „Mädchen mit Gewalt“ in der deutschen Filmgeschichte zu verorten, gehen auf die (Italo-)Western-Reminiszenzen des Films ein und sprechen außerdem ausführlich über die Schwierigkeit deutsches Filmerbe zu vermarkten oder überhaupt zu erhalten, denn in Deutschland gehen reihenweise Filme verloren, weil an Geldern für die Digitalisierung gespart wird. Abgerundet wird die Edition durch ein Booklet, in dem sich die Grabrede auf Klaus Löwitsch von seinem Freund und Kollegen Dieter Laser befindet. Sowie drei Interviews mit Roger Fritz, Arthur Brauss und Rolf Zacher. Von letzterem musste sich der Interviewer Sadi Kantürk wohl so einiges anhören, so hört man es noch über den Schluss-Credits grummeln: „Ich war schon Amsel, Drossel, Fink und Star, da wart ihr noch im Sack von euerm Alten, ihr kleinen Wichser.“